Scheitert Schengen, dann scheitert die EU!?

Die EU ist ein föderatives Gebilde eigener Art – ein Gebilde sui generis, wie das Verfassungsrechtler gern formulieren. Sie ist keine internationale Institution wie die Vereinten Nationen oder die NATO, sie ist aber auch kein Föderalstaat wie die USA oder die Bundesrepublik Deutschland. Darin liegt das Geheimnis ihres Erfolges, aber es könnte auch ein Nagel zu ihrem Sarg sein, und das sollten wir verhindern.

Eine internationale Organisation beruht auf dem völkerrechtlichen Prinzip der Souveränität. Im Prinzip gilt hier, dass nichts gegen den ausdrücklichen Willen der Vertreter eines jeden Landes geschehen darf, weil dies die Souveränität des Landes einschränken würde. Daher hat jedes Land ein Veto-Recht, und dieses Recht wird von der Exekutive, also der Regierung eines Landes ausgeübt. Bindende Vereinbarungen werden in die Form internationaler Verträge gegossen, und diese werden von den Regierungschefs unterschrieben und – sofern vorhanden – von den Parlamenten ratifiziert und erst damit endgültig besiegelt.

Ein föderaler Staat gliedert sich in zwei oder mehrere vertikale Ebenen, beispielsweise Bund und Länder. Jede Ebene hat ihre eigene Exekutive und ihre eigene Legislative. Und jede Ebene, die zentrale wie die dezentrale, hat ihre eigenen Kompetenzen. Für die ganze Föderation und alle ihre Gliederungen bindende Regeln werden auf der zentralen Ebene verabschiedet, und zwar nicht in Vertrags-, sondern in Gesetzesform. Allerdings darf die zentrale Ebene nicht beliebig solche Regeln setzen, sondern muss sich an den Kompetenzrahmen halten, den ihr die föderale Verfassung zubilligt. Das schützt die Rechte der dezentralen Ebene, und meist hat diese darüber hinaus auch ein Mitspracherecht in der Gesetzgebung der zentralen Ebene. In Deutschland wird dies durch den Bundesrat und damit merkwürdigerweise von den Exekutivorganen der Länder statt von deren Legislative ausgeübt. Gleichwohl kann jedes Bundesland überstimmt werden, und doch ist ein Gesetz auch für dieses Land bindend. Ein Veto-Recht gibt es also nicht, und daher ist die Souveränität dezentraler Einheiten in einem Föderalstaat im Vergleich zu den Mitgliedern einer internationalen Organisation eingeschränkt.

Ganz anders sieht die Sache in der EU aus. Denn deren Gebilde sui generis verbindet die Prinzipien von internationalen Organisationen und Föderation in der Hoffnung auf das Gelingen der Quadratur des Kreises miteinander, und das in zweifacher Hinsicht: erstens in der Herstellung staatlicher Handlungsfähigkeit auf EU-Ebene nach dem Muster eines Föderalstaats bei allerdings möglichst vollständigem Erhalt der Souveränität jedes Mitgliedstaates nach dem Muster einer internationalen Organisation; und zweitens in der Verbindung des Parlamentsvorbehalts der Rechtssetzung mit dem Erhalt der vollständigen Gestaltungsmacht der Regierungen, also der Exekutive. Weil diese beiden Paare sich jeweils grundlegend widersprechender Prinzipien auf dem Boden der Tatsachen nicht gemeinsam zu verankern sind, hält man sie seit nunmehr Jahrzehnten in der Schwebe – und nennt das schwebende Etwas ein Gebilde sui generis.

Deshalb wissen nur noch wenige Eingeweihte, wie und nach welchen Verfahren eine Gesetzesinitiative zwischen Kommission, Ministerrat, EU-Parlament und verschiedenen Ausschüssen hin- und hergeschoben, wieder aufgegriffen und zurückgereicht werden muss, wer wann und wo welchen Stimmanteil hat und ob das Ganze – frei nach Peter Panters Abriss der Nationalökonomie – bei Regenwetter nicht sowieso anders herum ist. Klar ist immer nur eines: Gegen den Willen der mitgliedstaatlichen Regierungen geht grundsätzlich gar nichts. Wenn es hart auf hart kommt, dann wollen sie das letzte Wort haben. Dennoch hat das Prinzip der schwebenden Institutionen durchaus seine Erfolge gezeitigt, aber mit dem Erfolg wuchs die Zahl der Mitglieder, und es wuchsen die Komplexität und das Konfliktpotenzial der gemeinsamen Aufgaben, die man sich gestellt hat. Irgendwann muss dann offenbar werden, dass auch in der EU die Quadratur des Kreises nicht möglich ist. Und nichts hat uns je so nahe an diese Erkenntnis geführt wie die aktuelle Schengen-Krise.

Viele Ökonomen, Politikwissenschaftler und Juristen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Gedanken zu der Frage gemacht, was in einem föderalen Staat auf welche Ebene gehört. Und wenn es über einen Bereich Einigkeit gab, dann darüber, dass die Außenpolitik ebenso wie die Außenhandelspolitik auf die zentrale Ebene gehören. Das ist deshalb so, weil solcherlei Politik in ihrer Wirkung stets auf die gesamte Föderation ausstrahlt und nicht nach Regionen differenziert werden kann. Natürlich könnte man beispielsweise in jedem deutschen Bundesland einen anderen Zoll gegenüber amerikanischen oder japanischen Produzenten anwenden. Da die Marktakteure aber die Unterschiede in den Zöllen unterlaufen würden, indem sie alle Waren über das Bundesland mit dem kleinsten Zollsatz eingeführten und dann zollfrei weiterverkauften, müsste man auch innerhalb der Bundesländer Zollschranken einführen, wenn man das verhindern wollte. Schon wäre es vorbei mit der Föderation und wir wären zur Vielstaaterei zurückgekehrt.

In der Außen- und Innenpolitik gibt es ganz ähnliche Effekte, vor allem, wenn man dazu auch die Sicherung der Außengrenzen rechnet. Wenn wir beispielsweise neben den Zollschranken auch keine sonstigen Schranken innerhalb eines föderalen Staates wollen, dann müssen wir die Schranken rund um den föderalen Staat zentralstaatlich sichern. Wollen wir weiterhin in einem wie immer gesteckten Rahmen Zuwanderung zulassen, dann brauchen wir außerdem gemeinsam verbindliche Regeln darüber, wo die Migranten hin sollen und welche sozialen Unterstützungen sie erhalten. Denn sonst geschieht im Prinzip dasselbe wie beim Außenhandel. Wenn die einzelnen Mitgliedstaaten dann auch noch das Recht haben, sich vor unerwünschter Zuwanderung zu schützen, ist es wiederum vorbei mit den offenen Grenzen.

Soweit die Theorie über die Verteilung der Aufgaben in einem Föderalstaat. Freilich setzt diese Theorie die Existenz eines Föderalstaates voraus. Indes: Den gibt es in Europa nicht. Es gibt keine in irgendeiner Weise mit dem Bund vergleichbare zentrale Ebene in der EU, die rund um den Schengen-Raum die Grenzen nach überall einheitlichen Kriterien und Verfahren sicherte. Es gibt keine verbindlichen und vor allem auch unter den Bedingungen hoher Belastung konsensfähigen Regeln, welche den Verbleib der Zuwandernden bestimmen, es gibt kaum Regeln darüber, unter welchen Bedingungen die Zuwandernden hier oder dort leben müssen oder dürfen, und es gibt erst Recht keine exekutive Gewalt, die das alles über alle mitgliedstaatlichen Grenzen hinweg durchsetzt – und zwar im Zweifel gegen den Willen der dortigen Regierung, dafür aber legitimiert durch eine Zentralregierung, die in freien und gleichen Wahlen vom gesamten Volk der Föderation ins Amt gesetzt wurde.

So etwas kann es der Natur der Sache nach auch nur im Rahmen eines Föderalstaates geben. Wenn ein solcher aber nicht existiert, und wenn man dessen zentrale Regierungsgewalt offenbar auf absehbare Zeit auch gar nicht will, dann kann eine zentrale Regierung solche Aufgaben auch nicht übernehmen. Dann aber geschehen zwei Dinge: Erstens werden sich Zuwanderer stets den für sie günstigsten Weg in die EU suchen und sich sodann das für sie günstigste Land aussuchen. Zweitens werden die Politiker der Mitgliedstaaten alles daran setzen, die Zuwanderung in ihr jeweiliges Land zu begrenzen. Früher oder später werden sie das alle tun, wenngleich die Verhältnisse und damit auch die Toleranzschwellen in jedem Land jeweils andere sind. Auf letzteres mag man sich einiges zugutehalten, aber grundsätzlich kann man es keinem Politiker verwehren, die Interessen der Bewohner ihres Landes zu wahren.

Man kann das alles moralisch verurteilen. Manche verurteilen ja bereits die Zuwanderer, als ob es irgendetwas dagegen einzuwenden gäbe, wenn jemand vor Verfolgung, Krieg, Armut oder einfach nur einer für ihn unbefriedigenden Situation flieht, um irgendwo anders besser leben zu können. Andere sind sich sicher, zum besseren Teil der Menschheit zu gehören, weil sie jeden verurteilen, der in Zweifel zieht, dass es irgendwo Grenzen der Belastbarkeit überhaupt nur geben könne – egal wo diese liegen. Aber natürlich wissen wir alle, dass es solche Grenzen gibt, auch wenn niemand genau weiß, wo diese Grenzen jeweils liegen und welche Belastungen unter welchen Bedingungen in welchem Land politisch tragbar sind. Unter diesen unsicheren Bedingungen versucht nun jede Regierung jedes Landes, ihren Weg zu finden – aber alle tun sie das unter den Bedingungen eines Gebildes, das sich EU nennt und das zwar mehr ist als eine internationale Organisation à la Vereinte Nationen, aber beileibe auch kein Föderalstaat wie die Bundesrepublik Deutschland.

Was dann wie ein Ausbruch nationaler Egoismen daherkommt, ist in Wahrheit die Unfähigkeit der sich widersprechenden Entscheidungsprinzipien der EU, im Rahmen des anspruchsvollen Schengen-Systems einen effektiven Interessenausgleich herzustellen. Solange der Migrationsdruck überschaubar war, stellte das alles kein Problem dar. Nun aber geht es ans Eingemachte. Gewiss: Es ist ein humanitäres Gebot, Menschen im Rahmen seiner Möglichkeiten Schutz zu gewähren, die vor Verfolgung und Krieg auf der Flucht sind. Aber die EU ist kein föderaler Staat und wird es auf absehbare Zeit auch nicht sein. Solange das aber so ist, gibt es auch keine zentrale Ebene, auf der sich ein verbindlicher Konsens darüber herstellen und durchsetzen ließe, wie weit der Rahmen dieser Möglichkeiten in welchem Land ist und wie weit dieser Schutz daher gehen kann.

Wenn man unter diesen Bedingungen aber so tut, als ob ein solcher Konsens doch möglich wäre, und wenn man so tut, als ob die Regierungen der Mitgliedstaaten nicht unter großem Druck stünden, die Grenzen ihres jeweiligen Staates zu sichern, solange der Schengen-Raum noch über keine effektive Sicherung verfügt, und solange es noch keinen Modus über die interne Verteilung gibt, solange wird man das fragile Gebilde sui generis, das die EU nach wie vor ist, schlicht überfordern. Mit dem Verteufeln nationaler Egoismus und den Appellen an den Gemeinschaftsgeist lässt sich daran wenig ändern.

Am wenigsten hilfreich ist es, sich durch apokalyptische Verknüpfungen mit aller vermeintlichen Macht an etwas binden zu wollen, von dem man doch sehen kann, dass es dem Druck der Probleme nicht standhält. Scheitert der Euro, dann scheitert Europa, hieß es noch vor kurzer Zeit. Und nun heißt es: Scheitert Schengen, dann scheitert Europa. Kann so etwas sinnvoll sein? Gewiss: Kein gutwilliger Mensch kann ernsthaft bestreiten, dass es keine Freude macht, ein System auszusetzen, an dessen Annehmlichkeiten wir uns alle gewöhnt haben und das uns in vielerlei Hinsicht näher zusammengeführt hat. Aber das heißt ja nicht, dass gleich die Welt untergehen würde, wenn man es unter dem Druck der Probleme für eine Weile aussetzte. Was ein Föderalstaat an internen Interessengegensätzen aushalten kann, ist eben mehr als das, was ein Staatenverbund in dieser Hinsicht schafft. Und dass ein Föderalstaat mehr aushält als ein Staatenverbund, liegt nicht an der Mentalität oder einer weniger egoistischen Haltung seiner Politiker, sondern es liegt schlicht an den Regeln, die hier andere sind als dort. Hören wir also auf, das (vorläufige) Scheitern dieser oder jener Form der Zusammenarbeit als Ende Europas an die Wand zu malen – erst Recht damit, dieses Ende bis in die Zeiten der beiden Weltkriege zurück zu führen. Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Plädoyer für eine Abschaffung von Schengen. Es ist aber ein Plädoyer dafür, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn es doch geschehen sollte und soweit es schon geschieht; und dagegen, mit jedem denkbaren Rückschritt eines Integrationselements immer gleich den großen Kollaps der EU zu verbinden. Denn es könnte gerade andersherum ein Schuh daraus werden.

 

Thomas Apolte

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