Martin Schulz, der Kanzlerkandidat der SPD, will Teile der Agenda 2010 korrigieren. So plädiert er dafür, älteren Arbeitslosen Arbeitslosengeld für einen längeren Zeitraum als gegenwärtig zu gewähren (FAZ 2017a und 2017b). Er sagt: „Jeder muss die Möglichkeit haben, den Gang zum Jobcenter aus eigener Kraft zu verhindern“ (FAZ 2017a). Was ist davon zu halten?
Zunächst eine Anmerkung zu den Fakten: Bezieht ein Arbeitsloser/eine Arbeitslose ein niedriges Arbeitslosengeld, weil der Nettolohn zur Zeit der Erwerbstätigkeit niedrig war, dann hat er/sie bei Bedürftigkeit (bei fehlenden sonstigen eigenen Einkünften oder bei fehlenden Einkünften der Ehefrau/des Ehemanns) Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II (Grundsicherung für Arbeitsuchende). Wird Arbeitslosengeld für einen längeren Zeitraum als gegenwärtig gezahlt, so ändert sich nichts daran, dass der Gang zum Jobcenter nötig ist. Hat ein Arbeitsloser/eine Arbeitslose ausreichend sonstige eigene Einkünfte oder hat dessen Ehefrau/deren Ehemann ausreichend hohe Einkünfte, so ist auch bei einem verlängerten Bezug des Arbeitslosengeldes ein Gang zum Jobcenter überflüssig, weil ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II wegen fehlender Hilfebedürftigkeit nicht besteht. Nur in anderen Fällen hat eine verlängerte Bezugsdauer zur Folge, dass der Gang zum Jobcenter für ein paar zusätzliche Monate verhindert wird. Martin Schulz kennt die Regelungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende offenbar nur unzureichend.
Wichtiger ist etwas Anderes: Wenn ältere Arbeitslose für einen verlängerten Zeitraum Arbeitslosengeld beziehen können, dann sinkt deren Anreiz, einen Arbeitsplatz zu suchen. Auch wird es bei einem verlängerten Bezug von Arbeitslosengeld schwieriger, einen Job zu finden; das dürfte insbesondere für ältere Menschen gelten. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, scheint diese Einschätzung zu teilen. „Mehr Verteilung schafft Leistungsempfänger statt Leistungserbringer“ (FAZ 2017c).
Die finanziellen Kosten einer Verlängerung der Bezugsdauer sind deshalb höher, als die üblichen Berechnungen, die diese Effekte nicht berücksichtigen, suggerieren. Richtig ist freilich, dass die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II bei einer verlängerten Bezugsdauer abnähmen. Die Ausgaben der Bundesagentur nähmen zu, die Ausgaben des Bundes, der die Aufwendungen für das Arbeitslosengeld II finanziert, nähmen ab. Der Saldo der gemeinsamen Aufwendungen wäre aber deutlich positiv.
Zu bedenken sind auch folgende Effekte: Eine Verlängerung der Bezugsdauer „würde den vorzeitigen Übergang in die Frührente beflügeln“ (Clement 2017). Und: Das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit würde nicht angegangen. „Wer diesem mit einer Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs für Ältere begegnen will, der hat diese Menschen in Wahrheit abgeschrieben“ (Rürup 2017).
Am bedeutsamsten ist aber Folgendes. Eine Verlängerung der Bezugsdauer für ältere Leistungsbezieher bedeutet eine höhere Lohnersatzleistung für die Leistungsempfänger im Durchschnitt. Je höher die Lohnersatzleistungen, umso höher ist aber der von den Arbeitnehmern angestrebte Lohnsatz (Boss et al. 2007:15). Es ist dann, wenn Arbeitslosengeld für einen längeren Zeitraum, sei es auch nur für ältere Arbeitslose, gewährt wird, mit einem Tariflohnanstieg zu rechnen, der größer als sonst ist. Der Schaden, den Gewerkschaften durch höhere Tariflohnsteigerungen in Form von mehr Arbeitslosigkeit anrichten, wird nämlich aus ihrer Sicht leichter erträglich, weil in mehr Fällen als sonst das Arbeitslosengeld an die Stelle des Nettolohns tritt. Die Arbeitskosten steigen rascher als sonst. Die Beschäftigung fällt kleiner als sonst aus, während die Arbeitslosenzahl größer als sonst sein wird.
Mit der von Martin Schulz vorgeschlagenen Änderung der Bezugsdauer würde sich die Finanzlage des Staates auf mittlere Frist deutlich verschlechtern. Die Beitragseinnahmen fast aller Zweige der Sozialversicherung und die Einkommensteuereinnahmen fielen geringer als sonst aus, und die Ausgaben für das Arbeitslosengeld und das Arbeitslosengeld II insgesamt nähmen zu.
Der gegenteilige Effekt träte mittelfristig ein, wenn der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung gesenkt würde (Boss 2017). Die Zunahme der Arbeitskosten würde gedämpft, die Ausweitung der Beschäftigung würde begünstigt, und die Arbeitslosigkeit nähme ab. Das Produktionspotential wäre höher als sonst. Die Finanzlage des Staates verbesserte sich.
Literatur
Boss, A., Bundesagentur für Arbeit – Beitragssatz senken! Kiel Policy Brief Nr. 104. Institut für Weltwirtschaft, Kiel.
Boss, A., et al., Verbessertes Arbeitsmarktumfeld stärkt Wachstum des ProduktionsÂpotentials in Deutschland. Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 441/442, April 2007. Institut für Weltwirtschaft, Kiel.
FAZ (2017a), Schulz kritisiert Schröders Reformen, 2017, Nr. 44, S. 15.
FAZ (2017b), Sven Astheimer: Abschied von Schröders Erbe, Nr. 48, S. 21.
FAZ (2017c),Frank-Jürgen Weise: „Das süße Gift der Subventionen“, Nr. 51, S. 17.
Clement, Wolfgang, (2017), Der große Fehler des Kandidaten, Gastkommentar im Handelsblatt, Nr. 41,S. 48.
Rürup, Bert (2017), Weiterentwickeln, nicht zurückdrehen!, Kommentar im Handelsblatt, Nr. 41, S. 14.
- Die Bundesagentur für Arbeit „schwimmt im Geld“: Was tun? - 5. August 2017
- Arbeitslosengeld für einen verlängerten Zeitraum? - 2. März 2017
- Mehr Steuerwettbewerb nach dem Brexit? - 21. Dezember 2016
2 Antworten auf „Arbeitslosengeld für einen verlängerten Zeitraum?“