200 Jahre Karl Marx (3)
Manchesterkapitalismus

1. Der historische Kern des Kommunismus (à  la Marx)

Thomas Apolte hat jüngst in diesem Blog einen brillanten Kommentar zu den Huldigungswellen geschrieben, die sich anlässlich des 200. Geburtstag von Karl Marx posthum über den deutschen Stammvater des Kommunismus ergießen (vgl. hier). Selbst er hat aber die Motive für sozialistische/kommunistische Weltanschauungen (jenseits von Marx, aber das spielt für das hier Folgende keine Rolle) im 19. Jahrhundert offensichtlich zustimmend so beschrieben:

„Sie alle einte die Abscheu gegenüber dem Elend der Arbeiter, deren Lebens- und Arbeitsverhältnissen, gegenüber deren Gesundheitszustand und deren Lebenserwartung, und gegenüber der rücksichtslosen Ausbeutung von Kinderarbeit.“

Diese Sicht wird seit langem zumeist für kapitalismuskritische Thesen unter der Überschrift „Manchesterkapitalismus“ in Diskussionen eingebracht und so wenig in Frage gestellt, dass man ihre Richtigkeit schon beinahe als Allgemeingut ansehen muss. Nun waren unbeschadet der folgenden Zeilen die Verhältnisse vieler Menschen zur Zeit der ersten industriellen Revolution in England in England geradezu unbeschreiblich schlecht – wenn man die heutigen Verhältnisse in den Industrienationen als Vergleichsmaßstab heranzieht. Für eine nüchterne Analyse, sofern eine solche bei diesem Thema in der Öffentlichkeit derzeit überhaupt möglich ist, erscheint indessen der Blick auf die damaligen Verhältnisse geboten bzw. die Frage, ob der Industriekapitalismus in England tatsächlich zu einer Verelendung der arbeitenden Bevölkerung führte und damit der Abscheu so mancher Zeitgenossen nicht nur aus heutiger Sicht überaus nachvollziehbar, sondern auch grundsätzlich wohlbegründet war.

Dass die Datenlage bei auch nur etwas genauerem Hinsehen nicht so eindeutig ist, zeigen mitunter selbst ansonsten dem Mainstream verhaftete zeitgenössische Kurzüberblicke wie etwa bei Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Manchesterkapitalismus):

Die Lebensverhältnisse der Arbeiter waren nicht konstant schlecht. Im Durchschnitt stieg der Wohlstand zwischen 1750 und 1914 an, beispielsweise hatte die Sterblichkeit in England 1740 einen Wert von 38,4 pro Tausend, bis zum Jahr 1800 sank sie auf 27,1 pro Tausend, während das Durchschnittseinkommen wuchs.“

Ok, geht da gegebenenfalls noch mehr?

2. Friedrich Engels versus Bruno Hildebrand

Thomas Apoltes beschriebene (Nicht)Würdigung des Manchesterkapitalismus, mag auch damit zusammenhängen, dass der entscheidende literarische Niederschlag in diesem Bereich nicht von Karl Marx selbst, sondern von dessen Freund, Förderer, Koautor etc. Friedrich Engels stammt. Der hatte – wiederum unbeschadet von Vor-, Gleich- oder/und Nachläufern – mit seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ 1845 den Klassiker auf diesem Gebiet schlechthin geschrieben.[1] Diese Schrift ist bis heute im Umlauf und erfreut sich einer persistenten und mit dem Marx-Jubiläum nochmals steigenden Nachfrage.

Weniger bekannt ist dagegen eine Fundamentalopposition von Bruno Hildebrand, einem der Gründer der historischen Schule der Volkswirtschaftslehre. Dieser hatte bereits 1848 seine Sicht der Dinge im Rahmen seines Werks „Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“ dargelegt und dabei die damaligen Möglichkeiten öffentlicher Statistik in bemerkenswerter Weise verwendet.[2] Hildebrand sah die „durchgreifenden Mängel“ von Engels Buch bzw. von dessen Vorgehen

„1. In den falschen allgemeinen historischen und statistischen Voraussetzungen, von denen er bei Beurteilung der Zustände der Gegenwart ausgeht,

2. in den vielen Auslassungen wesentlicher faktischer Verhältnisse und der damit verbundenen Generalisierung einzelner Tatsachen, endlich

3. in den Trugschlüssen, welche er aus den Faktis gezogen hat.“ (S. 171 f.)

und begann seine Auseinandersetzung mit einem aus Sicht des von Engels adressierten Landes überaus naheliegendem Vergleich:

„Schon das einfache Faktum, daß das Ackerbauproletariat in Irland, wo eine große Fabrikindustrie nicht existiert, notorisch ungleich größerem Elend preisgegeben ist als jede Gattung von Proletariern in England, und daß die Auswanderung aus Irland notorisch bei weitem stärker ist als aus irgendeinem anderen Teile Großbritanniens, hätte Bedenken erregen müssen, das englische Proletariat lediglich der technischen Industrie zuzuschreiben und die bloß ackerbauende und handwerktreibende Bevölkerung früherer Jahrhunderte glücklicher zu preisen.“ (S. 172 f., m.w.N.)[3]

Nun war diese Argumentation für ein auf Deutsch von einem Deutschen und tendenziell für Deutsche geschriebenes Buch damals noch kein besonders leserattrahierendes Phänomen. Deshalb fuhr er einige Seiten darauf in einem Vergleich mit der kurhessischen Provinz Oberhessen fort

„… in teuren Zeiten, wie im Winter 1846 bis 1847, erreichte die Not eine Höhe, die in den Schilderungen der irischen Armut Epoche machen würde. … In anderen kurhessischen Gegenden, welche keine Fabriken besitzen, war die Not nicht geringer. In Schmalkalden, Schlüchtern, Fulda und Hünfeld schlug man die Zahl der völlig Verarmten auf ein Drittel der Bevölkerung an …“ (S. 183 f., m.w.N.)

und kam später zu den bereits oben angesprochenen Möglichkeiten der damaligen Statistik:

„Mit dem Beginn des Friedens im Jahre 1815 stand der Tagelohn in England auf 2 Schill., und seither ist er, wenn man von den einzelnen Handelskrisen absieht, durchschnittlich auf 3 Schill. gestiegen, während umgekehrt der Fruchtpreis ist fast stetiger Progression gefallen ist und im letzten Dezennium von 1835 bis 1845 durchschnittlich 57 Schill. 6 P. pro Quarter Weizen betrug. Hiernach verdient gegenwärtig der englische Arbeiter bei dem niedrigsten Lohnsatz von 2 Schill. In 28¾ Tagen und bei einem gewöhnlichen Lohnsatz von 3 Schill. Pro Tag in 19 Tagen, also durchschnittlich wenigstens in 24 Tagen einen Quarter Weizen und man kann mit Bestimmtheit annehmen, daß der Arbeitslohn in England seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts im Durchschnitt auf das Doppelte gestiegen ist.“ (S. 189, m.w.N.)

Von alledem hört man heute so gut wie nichts mehr, wenn in der Öffentlichkeit von „Manchesterkapitalismus“ die Rede ist – halten diese Befunde neueren Erkenntnissen etwa nicht mehr stand?

3. Das „veränderte Schlachtfeld“ in der Wissenschaft

Natürlich wurde ein so publizitätsträchtiges Feld wie der Manchesterkapitalismus in der Folge immer wieder erforscht. Bedauerlicherweise überschritten dabei weniger zeitgeistkonforme Befunde kaum die eher engen Grenzen des Fachpublikums und blieben entsprechend ohne nennenswerten Einfluss in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion, obwohl das erste historische Bild eines Raubtierkapitalismus bei Würdigung dieser Befunde viele neue Pinselstriche braucht.

Wie dieses Bild nach einer perfekten Überarbeitung aussieht, ist schon von daher unklar, als bereits die Abgrenzung des Manchesterkapitalismus umstritten ist. Liegt sein Beginn laut dem eingangs zitierten Wikipedia-Beitrag bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts, so findet man als Alternativen bspw. auch das Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs und der napoleonischen Kriege, jeweils plus/minus ein paar Jahre. Ein relativ stabiler Einstieg dürfte der Wechsel vom 18. auf das 19. Jahrhundert darstellen, auch weil das Ende längerer Kriegshandlungen natürlich eine statistisch günstige Basis für nachfolgende Verbesserungen bietet. Das Ende dieser Epoche wird regelmäßig um die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert.

All dies eröffnet Spielräume in Deskription und Kommentierung, doch bleiben für Gegner der Verelendungsthese viele belastbare Befunde, von denen nunmehr einige angeführt werden sollen. So haben nicht zuletzt die Wirtschaftshistoriker Peter H. Lindert und Jeffrey G. Williamson auf diesem Gebiet eine Reihe von wichtigen Forschungen veröffentlicht, wobei nachfolgend eine Konzentration auf ihren Beitrag „English Workers´ Living Standards During the Industrial Revolution: A New Look“[4] Bezug genommen wird. Beispielsweise findet man dort eine langfristige Reallohnentwicklung auf S. 14 tabellarisch entwickelt:

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So ganz Unrecht hatte Bruno Hildebrand mit seiner zitierten Berechnung also nicht, oder? „Mag schon sein“, wird da mancher Verelendungsfanatiker sagen, „aber Geld ist nicht alles und die Lebensumstände an sich waren damals einfach menschenunwürdig!“ Unverändert klingt das aus unserer Perspektive sympathisch, aber ebenso unverändert ist das tertium comparationis nicht die sozio-ökonomische Realität des Jahres 2018.

Lindert/Williamson haben sich daher um Relativierung ihrer Befunde bemüht – sowohl, was die Gründe für die Reallohnentwicklung angeht, als auch hinsichtlich nicht (primär) pekuniärer Aspekte. Die Ergebnisse findet man in ihrer Tabelle 7 auf S. 24.

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Nun, da gibt es Einiges, aber es bleibt eine stabile Verbesserung des Lebensstandards während der Kapitalismus in Manchester und Umgebung seine viel geschmähte „hässliche Fratze“ zeigte:

„Yet the results presented here suggest that nineteenth-century environmental influences on health – such as crowding, infection, and pollution – could hardly have lowered average quality of life over time.“ (ebd.)

Generell gilt als Befund der absoluten Größen:

„The hardship faced by workers at the end of the Industrial Revolution cannot have been nearly as great as those of their grandparents.“ (ebd.)

Spielraum für Diskussionen bleibt dann an einer hinsichtlich des Manchesterkapitalismus eher nachrangig diskutierten Stelle: Die Einkommensverteilung, die sich in dieser Zeit bei gleichzeitiger allgemeiner Verbesserung des absoluten Lebensstandards auch für die arbeitende Bevölkerung deutlich gespreizt hat:

„These issues (Verteilungsaspekte, LK), not trends in absolute living standards, are likely to mark the future battleground between optimists and pessimists about how workers fared under nineteenth-century British capitalism.“ (S. 25)

Wie gesagt: Irgendwie sind diese Befunde nicht so richtig in der öffentlichen Diskussion jenseits der wirtschaftshistorischen Fachkreise angekommen.

4. Zwei deutsche Nachspiele

War Manchester mit diesen Befunden ein historisches Unikat oder eher eine Blaupause für die in anderen Nationen mit mehr oder weniger großer Verspätung einsetzende Industrialisierung?

Schaut man auf Deutschland, so ergeben sich ungefähr ein halbes Jahrhundert später ähnliche Befunde. Erschwerend für die Datenlage ist dabei die staatliche Zersplitterung bis zur Gründung des deutschen Reichs 1871, die allenfalls für Reallöhne Rückrechnungen nahelegt. Danach einsetzende Zahlenreihen zeigen ein Muster, das mit den Befunden aus der Hochzeit der industriellen Revolution in England vergleichbar ist:[5]

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Soweit zum ersten deutschen Nachspiel. Was ist das zweite? Nun, wenn man das Fazit des letzten Abschnitts betrachtet, wird man unversehens an die aktuelle Verteilungsdiskussion erinnert. Niemand, der die Zeit seit den sechziger Jahren durchlebt hat, wird ernsthaft daran zweifeln, dass hierzulande ein breiter wirtschaftlicher Aufschwung mit einer ebenso breiten Verbesserung der absoluten Zahlen für den Lebensstandard stattgefunden hat. In Analogie an das vorletzte Lindert/Williamson-Zitat könnte man formulieren, dass die heutigen Geringverdiener wirtschaftlich wesentlich besser dastehen als der normale deutsche Arbeitnehmer nach dem weltbekannten Wirtschaftswunder, das die Phase des Wiederaufbaus nach Weltkrieg und Währungsreform bis zum Ende der fünfziger Jahre beschreibt.

Das alles hat diverse und in den letzten Jahren immer stärker werdende Verteilungsdiskussionen nicht verhindert. Das kann man mögen, muss es aber nicht, worin mir Thomas Apolte sicher zustimmen wird. Immerhin ist eine solche Diskussion nicht so kontrafaktisch wie die auch in diesen Tagen immer wieder bemühte Verelendungsthese zum Manchesterkapitalismus, die nicht zuletzt Anhänger von Karl Marx kritikimmunisierend als kommunistischen Heiligenschein der eigenen Wurzeln missbrauchen. Mag man dafür noch menschliches Verständnis aufbringen, hört dies endgültig auf, wenn angeblich neutrale Berichterstatter/Moderatoren diese Thesen in medienwirksamen Interviews oder Diskussionen unwidersprochen zur Verunglimpfung marktwirtschaftlicher Ordnungsprinzipien durchdeklinieren lassen. Das hat mit „mögen müssen“ rein gar nichts mehr zu tun und hinterlässt nur die traurige Frage: Ist das eher intellektuell armselig oder gesellschaftlich schädlich?

— — —

[1] Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Erstausgabe Leipzig 1845.

[2] Bruno Hildebrand (1848): Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft; wiederabgedruckt in: Waentig, H. (Hrsg.): Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister, Band 22, Jena 1922 (die Seitenangaben erfolgen gemäß Originalverweisen).

[3] Nur als anekdotischer Beleg für die Oberflächlichkeit, mit der populärwissenschaftliche Quellen heute mit diesem Phänomen umgehen, sei an dieser Stelle der folgende Satz wiedergegeben, der an den bereits zitierten Satz aus dem Wikipedia-Beitrag anschließt: „Armut unter den Arbeitern war dennoch sehr verbreitet, besonders bei den Fabrikarbeitern, sodass es in Großbritannien (inkl. Irland) von 1815 bis 1914 zu 17 Millionen Auswanderern, also einer Massenauswanderung kam.“

[4] The Economic History Review, Vol. 36 (1983), S. 1-25.

[5] Quelle: Kolb, C., Der deutsche Industriearbeiter im 19. Jahrhundert, unveröff. Diplomarbeit Würzburg 1990, S. 109. Die der Abbildung zugrundeliegenden Werte wurden unter Verwendung von Angaben in Desai, A.V., Real Wages in Germany, Oxford 1968; Hoffmann, W., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin-Heidelberg 1965; Kuczynski, j., Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1789 bis zur Gegenwart, Berlin 1961 (Bd. 1), 1962 (Bd. 2), 1967 (Bd. 3); Meinert, R., Die Entwicklung der Arbeitszeit in der deutschen Industrie, Münster 1958; sowie Schröder, W.H., Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegung. Industriearbeit und Organisationsverhalten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1978, berechnet.

Blog-Beiträge zum Thema:

Thomas Apolte: Karl Marx

Andreas Freytag: Müssen wir Marx heute wirklich noch feiern?

3 Antworten auf „200 Jahre Karl Marx (3)
Manchesterkapitalismus“

  1. Ich ahnte schon beim Verfasssen des Satzes über die Abscheu gegenüber den Verhältnissen in den Industriezentren des 19. Jahrhunderts, dass das nicht unwidersprochen bleiben würde. Zu meiner Entlastung möchte ich nur anführen, dass ich nur beschrieben haben wollte, was Menschen empfanden, als sie die damalige Lage der Arbeiter beobachteten – und auch, dass ich die darunter liegende moralische Haltung durchaus honorig finde. Unabhängig davon bestreite ich aber nicht, dass man schon damals – und erst Recht heute – den Vergleich über die Zeit und mit den Verhältnissen zum Beispiel im ländlichen Raum mitunter übersehen hat. Meine Vermutung ist, dass die Lebensverhälnisse im dichten urbanen Raum eindringlicher beobachtbar waren als das, was sich verstreut auf dem Land zur gleichen Zeit abspielte. Immerhin hat mein zugegeben arg schnoddriger Satz einen sehr differenzierten und informativen Beitrag in diesem Blog provoziert, und das war es dann bestimmt wert. Unabhängig davon gebe alles zu und möchte nur darauf hinweisen, das Wort „Manchester-Kapitalismus“ in Anführungszeichen geschrieben zu haben.

  2. Alles kein Problem! Wir schreiben hier ja in einem freiheitlich orientierten Medium und ich habe es genossen, meine Argumente unbeschwert von pseudomoralischen Vorgaben entwickeln zu können, während man sich andernorts schon fast entschuldigen muss, einem kontrafaktischen Zeitgeist zu widersprechen.

  3. …das ist genau so wie mit den Billiglohnarbeitern der Textilindustrie Bangladeshs: Wenn Aldi & KIK endlich mal aufhören würden, Billigtextilien zu verkaufen, würde diese Arbeiter arbeitslos und wären gezwungen wieder in der Landwirtschaft zu arbeiten, wo ja bekanntlich Löhne und Arbeitsbedingungen viel besser sind als in der Textilindustrie…

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