Monopolarismus, Multipolarismus oder Völkerrecht?

Mehr europäische Unabhängigkeit?

Im Zuge seiner Chinareise im April 2013 erhob der französische Präsident Macron die Forderung nach einer stärkeren Unabhängigkeit Europas von den USA. Mitten im Ukraine-Krieg kam das gewiss zur Unzeit. Zwar steht uns heute klarer als selten zuvor vor Augen, wie sehr unsere Freiheit in Europa nach wie vor von den USA abhängt. Dies lässt sich aber feststellen, ohne dabei antiamerikanische Ressentiments zu bedienen. Schließlich fordern amerikanische Politiker seit Jahr und Tag einen größeren Beitrag von uns Europäern zu unserer äußeren Sicherheit, und diese Forderung wurde vor dem Februar 2022 – vor allem in Deutschland – nicht selten mit einem vergleichbaren antiamerikanischen Zungenschlag zurückgewiesen.

Im Gegensatz dazu, sind wir in Europa gut beraten, verstärktes sicherheitspolitisches Engagement nicht in Konkurrenz, sondern komplementär zu den USA zu entwickeln. Denn Russland und China zielen unter Androhung und Anwendung massiver Gewalt darauf, eine archaische Lösung dessen durchzusetzen, was man als das weltweite Anarchieproblem bezeichnen kann. Für die Ebene einzelner Gesellschaften wurde das Anarchieproblem im Jahre 1651 von dem politischen Philosophen Thomas Hobbes beschrieben. In der Anarchie sind die Mitglieder einer Gesellschaft keinerlei Regeln und keinerlei Grenzen ihrer Freiheit unterworfen, und das umfasst auch deren Freiheit, Diebstahl, Raub und Mord zu begehen. Das führt dazu, dass sich diese Aktivitäten zur Durchsetzung individueller Interessen und sogar zum Lebensunterhalt auf breiter Ebene durchsetzen. Denn jedes Individuum, das auf diese Aktivitäten verzichtet, wird einerseits fortwährend beraubt und bestohlen, gleicht die damit verbundenen Verluste aber andererseits nicht durch eigene Raub- und Diebesaktivitäten wieder aus und verarmt daher. So werden am Ende alle Menschen in Verhaltensstrukturen gezwungen, in denen sie ihre Zeit und Kraft auf Raub und Diebstahl sowie auf den Schutz vor Raub und Diebstahl durch andere lenken. Für produktive Tätigkeiten bleibt keine Zeit und keine Energie mehr, so dass die Gesellschaft in eine Spirale von Gewalt und Armut gerät.

Das Gleichgewicht zwischen Anarchie und Leviathan

Das Anarchieproblem von Hobbes ist nicht weniger als der Ausgangspunkt aller neuzeitlichen politischen Theorie und Philosophie. Hobbes löste das Problem gedanklich durch eine Art Abrüstungsvertrag, in dessen Rahmen sich alle Einwohner auf den Verzicht auf Aktivitäten wie Diebstahl, Raub und Mord verpflichten. Wird dieser Vertrag eingehalten, so beendet dies die gegenseitige Gewalt. Dies eröffnet den Einwohnern zeitliche Spielräume für produktive Tätigkeiten, die sie vorher für Raub und Diebstahl sowie für den Schutz davor verwenden mussten. Erst dadurch entsteht der Anreiz zu produktiver Arbeit, weil die Einwohner sich erstmalig der Früchte ihrer Arbeit sicher sein können.

Das Anarchieproblem ist innerhalb der rund 200 Staaten der Welt in unterschiedlicher Weise mal mehr, mal weniger und manchmal überhaupt nicht gelöst. In jedem Falle taucht es auf weltweiter Ebene gleich wieder auf, hier aber nicht zwischen individuellen Einwohnern, sondern zwischen den Staaten der Welt. Mit dem weitgehend auf vertraglicher Basis entstandenen Völkerrecht haben wir zwar einen Bestand an Regeln, der im Prinzip ausreichen dürfte, um das globale Anarchieproblem zu lösen. Aber: Während funktionierende Staaten über Polizeikräfte verfügen, die die Einhaltung der innerstaatlichen Regeln notfalls mit Gewalt erzwingen, haben wir solche Polizeikräfte auf globaler Ebene nicht.

Hierzu schrieb Thomas Hobbes: „Und Verträge ohne Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.“ (Hobbes 1651, S. 114). Hobbes schloss daraus, dass sich alle Individuen aus eigenem Interesse mit Haut und Haar einem Staat (dem „Leviathan“) unterwerfen würden, der mächtiger ist als sie alle. So kann die Einhaltung der Regeln durch alle erzwungen und die Menschen aus der Falle der Anarchie befreit werden.

Aber damit bot Hobbes eine Lösung, die zumindest für moderne Staaten nicht überzeugt, denn eine freie und demokratische Gesellschaft ist damit kaum vereinbar. Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Barry Weingast brachte das auf den Punkt, als er schrieb: „Ein Staat, der die Macht hat, Eigentumsrechte zu schützen, hat auch die Macht, das Eigentum seiner Bürger zu konfiszieren“ (Weingast 1993, S. 287). Statt sich also gegenseitig auszurauben, werden die Bürger nunmehr von einem übermächtigen Leviathan ausgeraubt. In der Konsequenz haben sie wiederum kaum einen Anreiz, in irgendeiner Form produktiv tätig zu werden. Dies nennt man das Leviathan-Problem, und dieses Problem löste Hobbes nicht. Glücklicherweise verfügen wir heute in den Demokratien alles in allem über effektive Wege, um ein Gleichgewicht zwischen dem Anarchieproblem und dem Leviathan-Problem zu finden.

Es ist aber nicht ganz leicht, zu erklären, warum das so ist. Mancur Olson, ein weiterer origineller Kopf, argumentierte, dass Regierungen aus Eigeninteresse ein Gleichgewicht zwischen dem Anarchieproblem und dem Leviathan-Problem herstellen würden, und das gilt selbst für Diktatoren (Olson 1993). In gewisser Weise ist gerade ein Diktator nämlich der Eigentümer eines Staates, mitsamt seinen Einwohnern; und Eigentümer gehen mit ihrem Eigentum in der Regel sorgsam um. In diesem Sinne kann ein Diktator einerseits kein Interesse daran haben, dass „seine“ Einwohner Zeit und Energie darauf verschwenden, sich gegenseitig zu berauben und sich vor dem Raub der jeweils anderen zu schützen. Denn unter solchen Bedingungen bleibt ihnen keine Zeit mehr für produktive Arbeit, von deren Früchten der Diktator schließlich einen Anteil einfordern möchte. Andererseits wird er diesen Anteil nicht allzu groß werden lassen. Denn das würde „seinen“ Einwohnern den Anreiz oder überhaupt erst die Fähigkeit rauben, zu arbeiten, und dann entstünde wieder nichts, wovon er einen Anteil einbehalten könnte. Also wird der Diktator aus eigenem Interesse ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem Anarchieproblem und dem Leviathan-Problem anstreben. Allerdings zeigte Olson auch, dass Demokratie ein für die Bevölkerung wesentlich besseres Gleichgewicht herstellen wird als jenes der Alleinherrscher (McGuire/Olson 1996).

Das globale Anarchieproblem

Auf globaler Ebene haben wir dagegen überhaupt kein solches Gleichgewicht, denn es fehlt dort am Hobbes’schen Schwert oder, genauer, an einer globalen, mit einem Gewaltmonopol ausgestatteten Exekutive. Würde Olson noch leben, so gefiele es ihm vermutlich nicht, dass ausgerechnet Diktatoren wie Wladimir Putin und Xi Jingping zur Lösung des globalen Anarchieproblems – höchstwahrscheinlich unbewusst – auf sein Konzept zurückgreifen. Aber so ist es. Zwar favorisieren sie keinen Weltdiktator, dem alle Staaten der Welt nach Art eines Alleinherrschers gehörten. Aber ihre Idee läuft auf etwas Ähnliches hinaus. Denn sie stellen sich die Welt wie einen Kuchen vor. Weiterhin stellen sie sich eine Reihe von Großmächten vor, welche jeweils über das exklusive Eigentumsrecht an einem Teil des Kuchens verfügen.

So entsteht ihre Vision einer multipolaren Weltordnung, zu deren Durchsetzung Putin derzeit nicht weniger als einen grausamen Unterwerfungskrieg in der Ukraine führt. In Putins und Xis multipolarer Weltordnung hätte einerseits jede Großmacht einen Anreiz dazu, die Staaten ihres jeweiligen Anteils am Gesamtkuchen mit dem Schwert der Großmacht zu gegenseitig friedvollem Verhalten zu zwingen. Damit wäre das Anarchieproblem innerhalb dieses Teils des Kuchens gelöst. Andererseits hätte jede Großmacht einen Anreiz dazu, die wirtschaftliche Aktivität ihrer Staaten nicht durch allzu harte Ausbeutung abzuwürgen. Damit wäre das Leviathan-Problem gelöst. Wohlstand käme in diesem Gleichgewicht zwar nur bedingt auf, weil das Leviathan-Problem wie in allen Diktaturen auch hier allenfalls unzureichend gelöst ist. Aber für ein auskömmliches Leben der Großmachtführer reichte es allemal.

Genau genommen können sich Diktatoren wie Putin oder Xi einen anderen Weg zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen dem Anarchieproblem und dem Leviathan-Problem ohnehin nicht vorstellen – weder auf globaler, noch auf innerstaatlicher Ebene. Denn die subtilen Mechanismen moderner Demokratien, in denen sich verschiedene staatliche Gewalten gegenseitig zum Wohle der Bürger unter Kontrolle halten und so die Regelbefolgung der jeweils anderen Gewalt auch ohne die Knute eines ausbeuterischen Leviathans sichern, sind ihnen fremd.

Daraus ziehen sie einen scheinbar plausiblen Schluss. Wenn nämlich die Zahl der Großmächte, welche sich den Weltkuchen teilen, zusammenschrumpft, dann droht am Ende nur noch eine davon übrig zu bleiben; und wenn China und Russland dagegen nichts unternehmen, dann werden das die USA sein, mit der Konsequenz einer monopolaren Welt. Hinter dieser Logik versammeln sich auch bei uns in bemerkenswerter Einigkeit fast alle, die entweder rechts-außen oder links-außen stehen, und neben ihnen noch viele andere.

Es klingt auch plausibel, ist es aber nicht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens: Es gibt in der multipolaren Welt zwar kein Anarchieproblem mehr zwischen den Staaten innerhalb des Einflussbereichs jeder Großmacht. Aber zwischen den Großmächten besteht es unvermindert fort. Und zweitens: Genau wie in Olsons Diktatur-Theorie ist die multipolare Welt als Lösung des Anarchieproblems nur überzeugend, solange man ihre Alternative unberücksichtigt lässt – was Olson freilich nicht tat. Diese Alternative liegt auf globaler wie auf innerstaatlicher Ebene in der uneingeschränkten Herrschaft des Rechts, über dem dann auch kein Leviathan mehr stehen darf. Die Herrschaft des Rechts funktioniert auf globaler Ebene aus den genannten Gründen bisher aber nur sehr bedingt. Denn wegen des fehlenden globalen Gewaltmonopols wird es fast nach Belieben verletzt, sobald sich dies als opportun erweist – gerade so, wie es Hobbes vorhergesagt hatte.

Der europäische Beitrag zu einer globalen Sicherheitsordnung

Hierfür Lösungen zu finden, sollte die prominenteste Aufgabe von uns Europäern sein. Leider kommen wir dieser Aufgabe nicht nach, und deshalb hatte Macron durchaus einen wunden Punkt angesprochen. So haben wir Europäer uns in der moralischen Überhöhung unserer eigenen Völkerrechtstreue bequem eingerichtet. Aber die konnten wir uns vor allem deshalb leisten, weil wir als bekennende sicherheitspolitische Zwerge das Hobbes’sche Schwert jederzeit gern den Amerikanern überließen. Auf dieses Schwert bauten wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer dann, wenn (drohendes) völkerrechtswidriges Verhalten anderer unsere Sicherheit bedrohte. Das hatte für uns den Vorteil, dass wir damit fast nie in Situationen gerieten, in denen es für uns selbst hätte opportun oder gar von vitalem Interesse werden können, die Regeln des Völkerrechts zu dehnen oder gar zu brechen; und das war eine Voraussetzung dafür, dass niemand die Herrschaft des internationalen Rechts so überzeugend ins Schaufenster stellen konnte wie wir Europäer. Mehr noch: Unsere europäische Position erlaubte es uns auch, gern hier und da auf jene Verfehlungen und Völkerrechtsverletzungen hinzuweisen, die den USA immer wieder unterlaufen sind, wenn sie im Namen des Westens das globale Schwert schwangen.

Eine solch bequeme Position können die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit nicht einnehmen, und deshalb changieren sie seit Jahrzehnten immer wieder zwischen den außenpolitischen Polen des Isolationismus einerseits und des Engagements als Weltpolizei andererseits. Im ersten Falle ziehen sie sich den Vorwurf zu, die freie Welt im Stich zu lassen; und im zweiten Falle ziehen sie sich den Vorwurf zu, imperialistisch zu sein. Daher gibt es bis heute in den USA eine Grundhaltung, die über das gesamte politische Spektrum hinweg stets wenig umstritten geblieben ist: dass man sich nämlich niemandem unterzuordnen bereit ist – keinem Staat, keiner internationalen Institution und damit in letzter Konsequenz auch nicht vorbehaltlos dem Völkerrecht. So sehr man sich auch freiwillig an die meisten internationalen Absprachen hielt, so sehr behielt man sich umgekehrt jede außen- und sicherheitspolitische Option vor – und das gilt bis heute. Das erklärt, warum man sich beispielsweise auch nicht dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag unterordnet.

Wir Europäer haben solange wenig Grund, uns über diese Haltung zu erheben, wie wir das Hobbes’sche Schwert so bereitwillig wie bequem den Amerikanern überlassen. Denn unsere moralisch so überlegen erscheinende Unterordnung unter das internationale Recht hat seit jeher nur in Kombination mit dem Schutzschild der USA funktioniert; und der hat vermutlich gerade davon gelebt, dass sich die USA letztendlich jede sicherheitspolitische Konsequenz vorbehalten haben – was mitunter auch Völkerrechtsverletzungen zur Folge hatte.

Daraus folgen für uns Europäer wichtige Einsichten. Wir werden erstens nicht darum herumkommen, in sehr viel stärkerem Maße selbst sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Ohne einen großen Schritt in Richtung auf eine wirklich gemeinsame Sicherheitspolitik inklusive europäischer Streitkräfte wird das aber nicht gehen. Zweitens werden wir ausloten müssen, wie eine glaubwürdige Verpflichtung zur Unterordnung unter das Völkerrecht mit einem wirksamen Hobbes’schen Schwert auf der internationalen Ebene vereinbar ist.

Alles das wird aber keineswegs gegen die Vereinigten Staaten gehen dürfen, denn es kann nur mit ihnen gemeinsam gelingen. Ansonsten würden wir der multipolaren Welt à la Putin und Xi nur noch einen weiteren Pol hinzufügen. Wenn wir uns umgekehrt aber weiterhin darauf beschränken, den Vereinigten Staaten das Hobbes’sche Schwert auf globaler Ebene zu überlassen, dann zwingen wir sie in die immer wieder aktuelle Entscheidung zwischen Isolationismus und Weltpolizei. Erst wenn es gelingt, sie aus diesem Zwiespalt zu befreien, entstehen die Voraussetzungen, die sie brauchen, um eines Tages mit uns Europäern den Schritt in die vorbehaltlose Anerkennung des internationalen Rechts zu gehen. Bis es soweit ist, dürfen wir aber eines nicht vergessen. Die USA haben zu verschiedenen Zeiten das Völkerrecht gebrochen und dabei oft schlimme Dinge getan. Die Irak-Invasion kann beispielsweise niemand von Verstand und gutem Willen nachvollziehen – und die vielen Verbrechen im Vietnamkrieg auch nicht. Aber alle diese Verfehlungen sind Ausnahmen gewesen, während sie in Xis und Putins Vorstellung von einer multipolaren Welt mehr denn je zu einer global akzeptierten Regel würden.

Literatur

Hobbes, Thomas (1651/1991), Leviathan, Cambridge: Cambridge University Press, S. 114.

McGuire, Martin C.; Mancur Olson Jr. (1996), The Economics of Autocracy and Majority Rule: The Invisible Hand and the Use of Force, Journal of Economic Literature 34, S. 72 – 96. ,

Olson, Mancur (1993), Dictatorship, Democracy, and Development, American Political Science Review 87, S. 567- 576.

Weingast, Barry (1993), Constitutions and Government Structures: The Political Foundations of Secure Markets, Journal of Institutional and Theoretical Economics 149, S. 286-311.

Thomas Apolte
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