Reziproke Zölle: zwischen Intuition und Formel
Trumps Irrlichtern zwischen Behauptungen und Fakten

Laien staunen und Fachleute wundern sich: Donald Trump behauptet am „Liberation Day“ Zollbelastungen durch andere Länder, die niemand nachvollziehen kann, und verkündet daran anknüpfende „reziproke“ Zölle. Erst eine Veröffentlichung des Handelsbeauftragten im „Executive Office of the President“ bringt eine halbwegs plausible Erklärung, wie all das wohl entgegen jeder Intuition zu verstehen ist.

  1. Eine bemerkenswerte Rede

Die Rede von Donald Trump am von ihm selbst ausgerufenen Liberation Day (2. April 2025) war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es hat jenseits von Kriegserklärungen sicher selten Reden gegeben, die derart weitreichende Konsequenzen hatten, wobei man andererseits indessen sagen kann, dass Trump mit ihr dem Welthandel den Krieg erklärt hat. Jedenfalls hat er die USA damit nach dem ebenfalls bemerkenswerten Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten in eine weitere Zeitenwende geführt – Ausgang ungewiss.

Versuchte man Trumps Vortrag bei der Liveübertragung zu folgen, ergaben sich gleich mehrere Probleme. Die übliche Mischung aus fehlendem Konzept, frei erfundenen Fakten und ebenso frei behaupteten Konsequenzen, die aus ihnen folgen sollen, wurde diesmal durch den Umstand ergänzt, dass diese Fakten und Konzepte durch eine Begrifflichkeit ergänzt wurden, die weder der Intuition entspricht noch von Trump selbst auch nur näherungsweise geeignet erklärt wurde: reziproke Zölle. Soweit man sich als unbedarfter Zeitgenosse hier überhaupt etwas vorstellen konnte, dann sicher die Auge-um-Auge-Interpretation im Sinne von „Was ihr auf unsere Güter als Zollsatz schlagt, schlagen wir in Zukunft auf eure!“ Tatsächlich sah die Tabelle, die Trump dann in die Luft hielt, völlig anders aus. Ihre drei Spalten betrafen Folgendes:

Spalte 1 zeigte die Namen der jeweiligen Länder, Spalte 2 „Tariffs Charged for the U.S.A. Including Currency Manipulation and Trade Barriers (die nicht fett gedruckten Worte im Original auch kleiner als die fett gedruckten) und Spalte 3 „U.S.A. Discounted Reciprocal Tariffs“. Während die fremden Zölle samt behaupteter weiterer Eingriffe auf US-Waren bereits nicht nachvollziehbar waren, lagen die „discounted“ reziproken Zölle bei (gerundet auf volle Prozent) genau oder näherungsweise der Hälfte jener Werte. Amerika sei eben nett/großzügig/wohlwollend (es ist egal, wie man das verwendete Wort genau übersetzt) und gleiche den Betrug, den man ihm antut, nicht einmal zur Gänze aus. Schöne Worte, aber war es das denn schon?

Neben der fehlenden Nachvollziehbarkeit des ausländischen Belastungskonglomerats (vgl. bspw. https://www.msn.com/de-de/politik/beh%C3%B6rde/das-ist-v%C3%B6llig-verr%C3%BCckt-us-nobelpreistr%C3%A4ger-zerlegt-trumps-zoll-tabelle/ar-AA1CfE7O?ocid=BingNewsSerp), das neben der wie auch immer erfolgten Berücksichtigung behaupteter Größen wie Währungsmanipulationen und Handelsbarrieren mehr als nur Zölle umfassen soll, macht unter Fairnessaspekten die Ausklammerung von Dienstleistungen stutzig. Dass ein Land, dessen größte Konzerne zum Teil aberwitzige Umsätze in fremden Ländern über internetbasierte Dienste generieren, nur die Handels-, nicht aber die Dienstleitungsbilanz in einem derartigen Kalkül betrachtet, ist eine sachlich unbegründete Verzerrung von großem Gewicht. Bereits angesichts dessen drängt sich die Frage auf, was von der großzügigen Halbierung der tarifären Retourkutsche übrigbleibt, wenn man genauer hinschaut. Damit hat es indessen noch nicht sein Bewenden.

  1. Der zweite Kanal der Tarifdefinition

Auf der Webseite des für den Handel zuständigen Teils des „Executive Office of the President“ wurde indessen kurz darauf eine ganz andere Ermittlung der Zollanpassung beschrieben – in einer umfassend beschriebenen Formel mit akademischen Literaturverweisen und -quellen (https://ustr.gov/issue-areas/reciprocal-tariff-calculations, Bezugnahmen und Zitate ohne weitere Angaben von dort). Die Formel lautet

Zudem gilt: „The reciprocal tariffs were left-censored at zero“. Dies bedeutet, dass allgemein eine Anpassung nur für Länder vorgenommen wird, denen gegenüber die USA ein Handelsbilanzdefizit aufweisen, also xi – mi < 0, denn unter diesen Vorgaben und einer als negativ zu unterstellenden Importelastizität ist laut der Webseite die Wirkung einer Tarifänderung

Wenn angenommen wird, dass gegenläufige Effekte aus Wechselkurs- und allgemeinen Gleichgewichtsüberlegungen vernachlässigbar gering sind, würde (*) mit einer ausgeglichenen Handelsbilanz korrespondieren, also dem angestrebten Ziel. Schließlich werden die beiden Parameter noch mit Epsilon = 4 und Phi = 0,25 evaluiert bzw. diese Werte gesetzt, so dass das Produkt der beiden Größen verschwindet und (*) zu Delta Taui = (xi – mi)/mi  wird, also zum Handelsbilanzdefizit relativ zu den Gesamteinfuhren aus dem betreffenden Ausland. Dann beträgt der ungewichtete Durchschnitt der Erhöhung des Zollsatzes für die relevanten Länder (xi – mi < 0) gemäß der Webseite 50% und der importgewichtete 45%, wobei entgegen der oben beschriebenen Kappung zusätzlich auch Durchschnitte aus allen Ländern („entire globe“) genannt werden.

Hierzu gibt es Einiges zu sagen:

  1. Zunächst kann man natürlich Zweifel an der Angemessenheit der Parameterevaluierungen bzw. -setzungen hegen. Nicht zuletzt die unterstellte Konstanz kann mit Blick auf analytische Eigenschaften von Funktionen (die müssten hier isoelastisch sein) fragwürdig erscheinen. Immerhin wird mit Verweis auf namhafte Literaturquellen eine konservative Setzung betont, so dass man es einstweilen dabei belassen kann, obwohl die gegenseitige Neutralisierung von Epsilon und Phi natürlich misstrauisch macht.
  2. Diese Setzung führt dazu, dass die gemäß (*) geforderte Erhöhung des Tarifsatzes wie oben beschrieben gleich dem relativen Handelsbilanzdefizit ist. Dies scheint tendenziell der in Abschnitt 1 beschriebenen Gesamtbelastungsquote zu entsprechen, die damit aber völlig anders ermittelt würde, als man es erwarten durfte (vgl. erneut https://www.msn.com/de-de/politik/beh%C3%B6rde/das-ist-v%C3%B6llig-verr%C3%BCckt-us-nobelpreistr%C3%A4ger-zerlegt-trumps-zoll-tabelle/ar-AA1CfE7O?ocid=BingNewsSerp sowie für die Schweiz https://www.msn.com/de-ch/nachrichten/other/wie-kommt-der-31-prozent-zoll-f%C3%BCr-die-schweiz-zustande-trumps-abenteuerliche-berechnungen/ar-AA1CeJmM?ocid=BingNewsSerp). Inhaltlich bedeutet es nichts anderes, als dass Ungleichgewichte in bilateralen Handelsbilanzen allein auf unfairen Belastungen beruhen sollen, die einfach durch gegenläufige Zollreaktionen zu beheben sind.

Wenn dem so ist und die Gesamtbelastungsquote durch das Ausland tatsächlich so berechnet wurde (ich habe das natürlich nicht für alle Tabellenwerte geprüft), passt auch die Halbierung als nette/großzügige/wohlwollenden Korrektur, die indessen nur die Hälfte des relativen Handelsbilanzdefizit ausgleichen würde.

  • Diese Rechnung funktioniert allerdings nur, wenn bislang keine US-Zölle erhoben wurden, denn Delt Taui ist die Veränderung des Tarifsatzes und damit ausschließlich dann auch gleichzeitig der neue Satz. Vielleicht erklärt dies ja die teilweisen Abweichungen von einer genauen Halbierung, denn die bisherigen Tarifsätze der USA waren tendenziell gering. Andererseits war das ungefähre Halbieren aber so gut, dass nur in wenigen Fällen noch „Alttarife“ nennenswerten Ausmaßes bestehen dürften, so dass ein endgültiges Urteil an dieser Stelle ausbleiben muss.

Wie auch immer: Wenn das Heranziehen des relativen Handelsbilanzdefizits mit oder ohne Berücksichtigung der Alttarife besser als Erklärung der Belastungsfaktoren in Trumps Tabelle funktioniert, wird man sie auch eher als noch so gut überlegte Spekulationen (wie z.B. die ungerechtfertigte Einbeziehung der Umsatzsteuer in den Belastungsfaktor) akzeptieren können.

3. Fazit

Weltweit haben Ökonomen auf Trumps Liberation Day-Rede mit Ratlosigkeit, Kopfschütteln oder harscher Kritik reagiert (vgl. neben den bisherigen Quellen auch https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/trumponomix-wie-der-us-pr%C3%A4sident-seine-zolls%C3%A4tze-ausrechnet/ar-AA1Cj53Q?ocid=BingNewsSerp). Die am ehesten stimmige Erklärung für die Sätze, die auf der von ihm verwendeten Tabelle angeführt sind, dürfte in der vom Handelsbeauftragten seines Executive Office veröffentlichten Formel liegen. Trump ging auf diese Formel weder exakt noch inhaltlich nachvollziehbar ein. Vielmehr irrlichterte er – vermutlich ohne Verständnis der rechnerischen Grundlage seines öffentlich unterzeichneten Dekrets – nicht zum ersten Mal zwischen Beschimpfungen, Suggestionen und fehlenden Erklärungen hin und her. Wer dabei an „Verschwörungstheorien“ denkt, muss schon einer sehr eigentümlichen Semantik von „Theorie“ folgen.

Betrachtet man die in den Tagen nach der Rede einsetzende Wirkung, hat das von ihm verkörperte Chaos, nicht zuletzt an den Kapitalmärkten, jedenfalls eine neue Wirkungsdimension erreicht. Es bleibt zu hoffen, dass Trump wieder durch symbolisches oder/und inhaltliches Entgegenkommen der von ihm Drangsalierten oder zum ersten Mal durch eine konzertierte Aktion der Stärke „eingefangen“ werden kann. Selbst dann wäre die westliche Welt aber noch lange nicht zurück in einer halbwegs stabilen Ordnung, denn der nächste Ausbruch dieses Vulkans namens Trump ist nur eine Frage der Zeit.

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