Putins Propaganda und ihr kollektivistisches Echo im Westen

Am späten Abend des 23. Februar 2022 führte der Journalist und Putin-Kenner Hubert Seipel in der Sendung „Maischberger. Die Woche“ die eskalierende Situation an der Grenze zu den abtrünnigen Gebieten im Osten der Ukraine auf einen von der NATO ermutigten Bruch der Minsker Abkommen durch ukrainische Truppen zurück. Stunden vor dem Überfall wischte er den Hinweis auf den massiven Truppenaufmarsch Russlands an der ukrainischen Grenze mit der Bemerkung zur Seite, es handele sich dabei lediglich um harmlose Muskelspiele. Einen Tag vorher sah die langjährige Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz bei Markus Lanz keinerlei Anzeichen einer russischen Invasion und beklagte umgekehrt, die NATO bedrohe Russland in seinen legitimen Sicherheitsinteressen. Zwei Tage davor argumentierte Sarah Wagenknecht bei Anne Will, das Bild von Putin als „durchgeknallter Nationalist, der sich daran berauscht, Grenzen zu verschieben“, sei „herbeiphantasiert“. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

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Putin der Spieler

Putin ist ein Autokrat, also ein Alleinherrscher. Wirklich allein hat allerdings noch niemand geherrscht – nicht Hitler, nicht Stalin, nicht Mao, nicht einmal Idi Amin und auch nicht Putin. Denn Putin sitzt nur in einem seiner Büros und erteilt Befehle. Selbst ausführen kann er sie ebenso wenig wie irgendein anderer Autokrat. Also ist er darauf angewiesen, dass seine Befehle von oben nach unten weitergeleitet und schließlich ausführt werden. Von ganz oben bis nach ganz unten sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie einmal nicht ausgeführt oder gar bewusst in ihr Gegenteil verkehrt werden. Warum? Ganz unten müssten zu viele ihre Befehlsverweigerung miteinander koordinieren, damit sie den Durchgriff des Diktators unterbinden können. Wer dennoch im Alleingang den Befehl verweigert, ist in der Regel verloren, sofern er sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringt. Daher werden Befehle auf der untersten Ebene fast immer ausgeführt. Einige spektakuläre Massen-Befehlsverweigerungen – zum Beispiel der deutsche Matrosenaufstand am Ende des Ersten Weltkriegs oder die russischen Massendesertionen ein Jahr zuvor – sind dennoch geschehen. Aber es ist bezeichnend, dass sie regelmäßig historisch geworden sind. Denn ihr Erfolg war nur ein Zeichen dafür, dass das gesamte Machtsystem bereits marode war.

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Anleitung zur Zerstörung einer Demokratie in zehn Schritten

Eine moderne Anleitung zur Zerstörung einer Demokratie muss zwei empirische Beobachtungen des 20. Jahrhunderts beherzigen.

Erstens: Bis zum Ersten Weltkrieg und teilweise auch noch in der Zwischenkriegszeit waren Autokratien elitär. Für die meisten Vertreter der Eliten war die Herrschaft des Volkes eine lächerliche Vorstellung, denn das gemeine Volk war bei weitem zu einfältig, um vernünftigerweise in staatspolitische Entscheidungen eingebunden werden zu können. Daher sahen sich politische Eliten auch nicht als Vertreter des Volkes, sondern als Repräsentanten von Kopfgeburten wie der Nation oder gar gleich des Allmächtigen. Das Volk dagegen war Material, das man für Kriege und andere Dinge von nationaler oder göttlicher Bedeutung nach Belieben einsetzte wie einen Produktionsfaktor. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich das. Seither verstehen sich praktisch alle Regierungen als Repräsentanten des Volkes, jedenfalls in ihrer Kommunikation. Deshalb spielen auch Autokratien formal das demokratische Spiel, obwohl das inhaltlich natürlich keine Bedeutung hat: Sie halten Wahlen ab, sie behaupten, die einzig wahren Vertreter der Interessen des Volkes zu sein, und sie verweisen gern und überall auf die Unabhängigkeit ihrer Parlamente und Gerichte, weshalb ihnen in vielerlei Hinsicht – etwa bei der Verurteilung von Dissidenten – die Hände gebunden seien. Schließlich achten sie sehr auf ihre Popularität.

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Die Individualmoralisierung des Klimaproblems

Sind Sie heute mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren? Ist Ihre Heizung nicht zu warm eingestellt? Essen Sie noch Fleisch? Ob Fleisch oder nicht, sind ihre Nahrungsmittel nachhaltig? Achten Sie darauf, dass sie aus Ihrer Region sind? Aus welchem Holz aus welchem Teil der Erde sind Ihre Möbel? Muss es im kommenden Sommer wirklich eine Flugreise sein? Oder sind sie kürzlich gar innerdeutsch geflogen? Ist ihre Kleidung um die ganze Welt gereist, bevor sie in Ihrem Schrank landete? Überhaupt: Denken Sie in Ihrer Lebensplanung stets die Nachhaltigkeit mit? Haben Sie je Ihren persönlichen CO2-Abdruck ermittelt?

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Linke und rechte Identitätspolitik

Das Wort Identitätspolitik erinnert an den rechten Rand des politischen Spektrums, und nicht ohne Grund. Man denke nur an die ursprünglich in Frankreich gegründete Identitäre Bewegung, die seit knapp zehn Jahren auch in Deutschland aktiv ist. Sie weist jeder ethnischen Gruppe ihren angeblich angestammten Lebensraum zu und setzt sich für eine Art Re-Segregation der aus ihrer Sicht ethnisch zu plural gewordenen westlichen Gesellschaften ein. In Deutschland wird die Identitäre Bewegung als rechtextreme Gruppierung eingestuft und vom Verfassungsschutz beobachtet.

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Öffnungspopulismus

In ihrem Aufsatz „The Macroeconomics of Populism” haben die beiden Starökonomen Rüdiger Dornbusch und Sebastian Edwards Anfang der 1990er Jahre beschrieben, wie man in Lateinamerika mit Hilfe unseriöser Geld- und Fiskalpolitik wieder und wieder kurzfristige konjunkturelle Strohfeuer mit langfristig üblen Folgen entfachte. Mit übermäßiger Verschuldung heizte man die gesamtwirtschaftliche Nachfrage jenseits jeder makroökonomischen Vernunft an, was funktionierte, solange sich die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer noch nicht auf die langfristig schädlichen Folgen solcher Politik eingestellt hatten. In der Zwischenzeit konnte man über seine Verhältnisse leben und kräftig Einkommen verteilen, die vermeintlich wie Manna vom Himmel fielen und für die auch langfristig scheinbar niemand bezahlen musste. Das war natürlich falsch, und am Ende kam die Rechnung immer. So taumelten diese Länder von einer Schuldenkrise in die nächste. Der tiefere Grund war stets der einfache Umstand, dass wir nicht im Schlaraffenland leben. Anders ausgedrückt: Wir Menschen können unseren Wohlstand immer nur unter der Beachtung einer Ressourcenbeschränkung mehren. Wir können nur konsumieren, was wir zuvor produziert hatten. Dass es heute makroökonomisch erneut so aussieht, als gäbe es keine Ressourcenrestriktion, ist eine andere und ziemlich komplexe Geschichte, die uns hier aber nicht weiter interessieren muss.

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Pandemie-Bekämpfung im Westen
Viel Potenzial nach oben

In der ersten Corona-Welle haben die Menschen unter dem Schock der Ereignisse und dem allgemeinen Unwissen über Infektionskanäle, Infektionswahrscheinlichkeit und Letalität von sich aus ihre Kontakte drastisch reduziert – ganz offensichtlich aus purem Selbstschutz. Vermutlich ist das der Grund dafür, dass schon vor dem Inkrafttreten des März-Lockdowns der alles entscheidende R-Faktor[1] unter eins gefallen war, was die Voraussetzung dafür ist, dass die Zahl der Infizierten im Zeitablauf sinkt. Merkwürdigerweise beruhte diese anfängliche Absenkung des R-Faktors auf einer Überschätzung der individuellen Gefährdung seitens der Bürger. Dass es einer solchen Überschätzung bedarf, damit das Virus sich nicht exponentiell verbreitet, klingt vielleicht merkwürdig. Wir werden aber noch sehen, warum das so ist.

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Die Tragödie von Belarus

Seit inzwischen fast zwei Monaten halten die Proteste im Anschluss an die offensichtlich gefälschte Präsidentenwahl in Belarus an. Die Sicherheitskräfte gehen mit brutaler Gewalt gegen die demonstrierenden Bürger vor und drängen Oppositionelle ins Exil, soweit sie diese nicht bereits verhaftet hatten. Aber die protestierende Opposition formiert sich immer wieder aufs Neue. Die EU reagiert zurückhaltend und zeigt sich offenbar von den jüngeren Entwicklungen in der Ukraine beeindruckt, innerhalb derer Russland der EU nach altbewährtem Muster westlichen Imperialismus vorgeworfen hatte. Unter dem Applaus von Politikern der Linken und der AFD pocht Putin stets auf seinen „Sicherheitsgürtel“ an der westlichen Grenze von Russland, den man ihm durch die Aufnahme der baltischen Staaten sowie Polens in die EU und die NATO entgegen angeblich bindender Versprechungen vorenthalten habe.

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Alexander Hamilton und der EU-Gipfel

Nachdem Emmanuel Macron und Angela Merkel im Mai den Wiederaufbaufonds der EU aus der Taufe gehoben hatten, verglich Olaf Scholz den Beschluss in einem ZEIT-Interview vom 20. Mai 2020 mit der Neuordnung der Staatsfinanzen durch den ersten Finanzminister der seinerzeit gerade gegründeten Vereinigten Staaten, Alexander Hamilton. Verbunden mit einer weitreichenden finanzpolitischen Kompetenzzuweisung zur US-amerikanischen Bundesregierung bestand Hamiltons Finanzreform vor allem auch aus einer Übernahme von Schulden der damaligen Mitgliedstaaten. Erstmalig in der Geschichte der jungen USA nahm der Bund selbst Schulden auf. Den einen gilt dies bis heute als Befreiungsschlag, den anderen als Sündenfall.

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Bedroht Corona auch unser Gesellschaftssystem?

Bild: Syaibatul Hamdi auf Pixabay

Wer hätte es Anfang dieses Jahres für möglich gehalten, dass der Vorsitzende der FDP in einer Fernsehsendung die von einer breiten Mehrheit fast aller Politiker und Parteien erfolgreich betriebene massive Einschränkung unserer Grundrechte als einen Beweis dafür anführt, wie gut unsere Demokratie funktioniert? Und wer hätte gedacht, dass niemand aufschreit? Schuld ist – immerhin mal eine gute Nachricht – kein plötzlicher Wertewandel hin zum Totalitarismus. Vielmehr ist ein Virus für diese Entwicklung verantwortlich, und das ist gerade dabei ist, die Welt zu verändern. Niemand, der auch nur irgendwie verantwortungsbewusst denkt, hat eine vertretbare Alternative zur gegenwärtigen Kontaktsperre, selbst die am weitesten gehenden Forderungen zur Lockerung der Kontaktsperre bleiben Lichtjahre von dem entfernt, was uns bis vor wenigen Wochen selbstverständlich war. Blicken wir auf Bergamo, New York, Madrid oder London und auf all die anderen Hotspots, dann wird überdeutlich, dass es keine grundlegende Alternative gibt, die irgendwie vertretbar wäre.

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