Gastbeitrag
Die Wucht der deutschen Teilung wird völlig unterschätzt

Bild: Pixabay

Die ökonomische Wucht der Teilung Deutschlands in Bundesrepublik und DDR vor etwa 70 Jahren wird bis heute völlig unterschätzt. Aufgrund mehrerer Wellen von Massenabwanderung aus Ostdeutschland driften die Einwohnerzahlen beider Landesteile bis heute massiv und ungebremst auseinander. Auf dem Gebiet von Westdeutschland leben heute so viele Einwohner wie niemals zuvor in der Geschichte, Ostdeutschland ist auf die Einwohnerzahl des Jahres 1905 zurückgefallen.

Rund 30 Jahre nach dem Mauerfall sind die optischen Flurschäden des Sozialismus in Ostdeutschland weitgehend verschwunden. Viele Dörfer haben sich herausgeputzt, Rathäuser funkeln, Gründerzeit-Altbauten sind kernsaniert. Ihren alten historischen Glanz haben die meisten ostdeutschen Städte und Gemeinden zurück. Das einzige was ihnen fehlt, sind ihre Einwohner.

Die Einwohnerzahl ist ein wichtiger Indikator für die langfristige Attraktivität und wirtschaftliche Stärke einer Region. Boomende, attraktive Regionen ziehen verstärkt neue Einwohner an und die Geburtenraten steigen. Aus schwächelnden Regionen mit weniger guten Perspektiven wandern Menschen dagegen ab, die Einwohnerzahlen sinken. In diesem Beitrag diskutiere ich die Bevölkerungsentwicklung von Ost- und Westdeutschland seit dem Jahr 1871 vor. Die zugrundeliegenden Einwohnerzahlen habe ich aus verschiedenen Quellen zusammengetragen.[1] Schon ein erster Blick auf das gesammelte Datenmaterial zeigt: Kaum ein Ereignis hat die jüngere deutsche Wirtschaftsgeschichte so geprägt wie die Teilung des Landes in Bundesrepublik und DDR im Jahr 1949. Wäre die Einwohnerzahl in Ostdeutschland nach Kriegsende genauso gewachsen wie in Westdeutschland, würden in Ostdeutschland heute rund doppelt so viele Einwohner leben. Dresden und Leipzig (heute ca. 550 000 Einwohner) wären jeweils Millionenstädte! Diese einfachen Rechnungen zeigen, dass das Ausmaß und die Persistenz des Auseinanderdriftens zwischen Ost und West in der Öffentlichkeit immer noch drastisch unterschätzt werden: Die Teilung hat die beiden Teile Deutschlands dauerhaft auf völlig unterschiedliche Entwicklungspfade geschickt.

In den folgenden Abschnitten stelle ich die Bevölkerungsentwicklung von Ost- und Westdeutschland seit dem Jahr 1871 genauer vor. Im Zentrum steht dabei die seit 1949 aufklaffende „Teilungslücke“ zwischen Ost und West. Anschließend diskutiere ich Implikationen, die sich aus dieser Entwicklung für die aktuelle wirtschafts- und gesellschaftspolitische Debatte zur Förderung strukturschwacher Regionen in Ostdeutschland ergeben.

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Ost- und westdeutsche Geschichte im Zeitraffer

1871 bis 1949: Ost und West entwickeln sich völlig gleich

Bis kurz nach Ende des zweiten Weltkrieges entwickelten sich die Bevölkerungszahlen in Ost- und Westdeutschland nahezu völlig identisch (Abb. 1). Für eine bessere Vergleichbarkeit habe ich die Einwohnerzahl des Jahres 1936 auf 100 normiert. In diesem Jahr lebten auf dem Gebiet Ostdeutschlands etwa 16 Millionen Einwohner, in Westdeutschland 42 Millionen Einwohner. Zwischen 1871 und 1936 verdoppelte sich die Einwohnerzahl sowohl in Ost- wie auch in Westdeutschland, der Osten war dem Westen manchmal sogar um einige Jahre voraus. Kurz nach Kriegsende verzeichnete Ostdeutschland nochmals einen deutlich stärkeren Einwohnerzuwachs als Westdeutschland, da eine überproportional hohe Zahl von Vertriebenen aus den Ostgebieten zunächst in der damaligen sowjetischen Besatzungszone aufgenommen wurde. Ende der 1940er-Jahre hatten sowohl Ost- wie auch Westdeutschland einen Bevölkerungszuwachs von etwa 15 bis 20 % gegenüber dem Jahr 1936 zu verzeichnen.

1949 bis 1989: Ost und West driften weit auseinander

Die Staatsgründung von Bundesrepublik und DDR im Mai bzw. Oktober 1949 markiert eine fundamentale Wende in der deutsch-deutschen Entwicklung.[2] Etwa seit diesem Jahr driften Ost und West massiv und nahezu ungebremst auseinander. Gut qualifizierte Menschen verließen in den späten 1940er- und 1950er-Jahren in Scharen die DDR und siedelten in die Bundesrepublik über. Bis zum Jahr des Mauerbaus, 1961, hatte Ostdeutschland nahezu den kompletten Bevölkerungszuwachs der Jahre 1945 und 1946 von rund 2 Millionen Neubürgern wieder verloren. Die Bevölkerungszahl in der DDR stagnierte anschließend weitgehend auf dem Vorkriegsniveau bei rund 17 Millionen Einwohnern. In Westdeutschland führten die Massenflucht aus der DDR, der Geburtenboom der 1960er-Jahre sowie der Zuwanderung aus Südeuropa dagegen zu einem enormen Anstieg der Bevölkerungszahl. Erst Mitte der 1970er-Jahre kam mit Abflauen des Babybooms der Bevölkerungswachstum zum Stehen. Westdeutschland war von rund 40 Millionen Einwohner vor dem Krieg auf über 60 Millionen Einwohner und damit um fast 50% gewachsen (Ostdeutschland: nahe 0%).

1989 bis 2017: „Teilungslücke“ verdoppelt sich nochmals

Nach dem Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung im Jahr 1990 setzte sich in Ostdeutschland fort, was durch den Mauerbau im Jahr 1961 scheinbar nur unterbrochen wurde. Wie bereits in der direkten Nachkriegszeit verließen noch einmal Millionen Ostdeutsche ihre Heimat, diesmal getrieben von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Westdeutschland profitierte ein zweites Mal vom Zuzug junger und gut qualifizierter Menschen aus dem Osten – die nach 1949 gerissene „Teilungslücke“ verdoppelte sich seit 1990 nochmals. Westdeutschland hat eine um 60% höhere Einwohnerzahl als vor dem Zweiten Weltkrieg, Ostdeutschland eine um 15% geringere Einwohnerzahl.

Schlussfolgerungen

Die gewählte Langfristperspektive wirft ein neues Licht auf die aktuellen Diskussionen um die vor allem im Osten zu beobachtende Veränderung der politischen Landschaft sowie die künftige Ausrichtung der ostdeutschen Förderpolitik. Vor dem Hintergrund der im Osten stark gesunkenen Arbeitslosenquoten, der modernen Infrastruktur und der hübsch sanierten Städte und Dörfer besteht in weiten Teilen Westdeutschland ein großes Unverständnis über die zunehmende Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher. Abb. 1 offenbart mit der nach 1949 gerissenen „Teilungslücke“ eine bisher kaum diskutierte mögliche Wurzel dieser steigenden Unzufriedenheit. Der seit 1949 anhaltende Bevölkerungsschwund prägt die ostdeutsche Bevölkerung möglicherweise mehr als bisher angenommen. Erschwerend kommen außerdem neue Enttäuschungen hinzu, dass die ersehnte Transformation zu Demokratie und Marktwirtschaft nach 1990 am Auseinanderdriften von Ost und West nichts änderte, ganz im Gegenteil. Aufgrund der Massivität der langfristigen Entwicklung überlagert diese möglicherweise alle kurzfristigen Erfolgsmomente wie die gegenwärtige Entspannung am Arbeitsmarkt oder den Anstieg der Einkommen seit 1990. Wie stark das Auseinanderfallen von vorkriegsbedingt geprägten hohen Ambitionen und der Ernüchterung über die tatsächliche Entwicklung die politische Stimmung in Ostdeutschland beeinflusst, bedarf jedoch dringend weiterer Untersuchungen.

Abb. 1 erlaubt auch Schlussfolgerungen bezüglich der Gestaltung der Förderkulisse in Ostdeutschland. Aufgrund von demografischer Veränderung sowie Massenabwanderung ist die Einwohnerzahl im Osten inzwischen auf die des Jahres 1905 zurückgegangen. In einigen ländlichen Regionen haben die Bevölkerungszahlen gar den Stand von Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht, mit weiter rückläufiger Tendenz. Gegenüber den 1850er-Jahren sind die Ansprüche an öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge natürlich heute ungleich höher. Die Finanz- und Förderpolitik in Ostdeutschland muss auf diese Situation geeignete Antworten geben und sich dabei auch dem ländlichen Raum zuwenden. Keine noch so stark auf die größeren Städte ausgerichtete „Leuchtturmpolitik“ wird die seit 1949 aufklappende „Teilungslücke“ zwischen Ost und West auch nur ansatzweise wieder schließen können. Stattdessen drohen bei einer solchen Politik genau solche Regionen abgehängt und vergessen zu werden, die nach 1949 in einen nicht selbst verschuldeten Sog der Geschichte gerieten.

Literatur

Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“ (2018), Bruttoinlandsprodukt, Bruttowertschöpfung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland 1991 bis 2017, Reihe 1, Länderergebnisse Band 1, Erschienen im März 2018; Tabellen 3.3, 8.3 und 13: Jahr 2017 ergänzt im Juni 2018.

Besser, C. (2008): Grunddaten der Bevölkerungsstatistik Deutschlands von 1871 bis 1939, GESIS Datenarchiv, Köln. ZA8295 Datenfile Version 1.0.0.

Bolt, J., Inklaar, R., de Jong, H. und J. L. van Zanden (2018): Rebasing „Maddison“: new income comparisons and the shape of long-run economic development.  Maddison Project Working Paper, Nr. 10, (Maddison Project Database, Version 2018).

Eder, C. und M. Halla (2018): On the Origin and Composition of the German East-West Population Gap, IZA Discussion Paper Nr. 12031.

Statistisches Amt der DDR (Hrsg.) (1990): Statistisches Jahrbuch ’90, 35. Jg., Berlin.

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[1] Siehe die Hinweise zu Abbildung 1. Alle Zahlen beziehen sich auf das Gebiet der früheren Bundesrepublik (Westdeutschland) beziehungsweise der damaligen DDR (Ostdeutschland). Alle übrigen ehemaligen deutschen Gebiete, zum Beispiel die nach 1945 abgetrennten Teile Preußens östlich von Oder und Neiße oder Elsaß-Lothringen, sind in den Zahlen nicht enthalten. In Westdeutschland ist Westberlin, in Ostdeutschland Ostberlin enthalten. Die Gesamteinwohnerzahl Berlins wurde überschlägig auf West- und Ostberlin für die Jahre aufgeteilt, in denen keine Zahlen nach Stadtteilen vorliegen. Teilweise beruhen die Zahlenangaben außerdem auf Schätzungen und Interpolationen, die jedoch die generelle Aussagekraft der Ergebnisse nicht beeinträchtigen dürften.

[2] Eder und Halla (2018) zeigen zudem, dass insbesondere auch die Angst vor einer Besetzung durch die Rote Armee zu einer massiven Abwanderung aus den zunächst von der US-Armee befreiten Teilen Ostdeutschlands (z. B. Thüringen) führte und einen erheblichen Teil der „Teilungslücke“ erklärt.

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