Gastbeitrag
Ostdeutschland geht der politische Mainstream aus*

Nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland ist das etablierte Parteiensystem nur noch eine Ruine. Die Sorgen um die politische und wirtschaftliche Stabilität Ostdeutschlands nehmen zu. Bereits jetzt kursieren einige Mythen über die Ergebnisse, Ursachen und Konsequenzen der Wahlen. Es ist Zeit für eine erste Analyse.

Mythos 1: Die Wahlergebnisse sind ein abrupter Richtungswechsel.

Wahr ist: Die aktuellen Wahlen haben die Parteienlandschaft nachhaltig verändert. Wahr ist aber auch: Die etablierten Parteien verlieren im Osten seit Jahrzehnten kontinuierlich an Rückhalt.

Dem politischen Mainstream geht in Ostdeutschland schon seit langem die Luft aus, nicht erst seit der Flüchtlingskrise oder dem Ukraine-Krieg. Bei der Landtagswahl 1990 stimmte eine große Mehrheit von 84 % der Wähler in Thüringen für eine der etablierten Parteien der alten Bundesrepublik, also CDU, SPD, Grüne oder FDP. Mit jeder Landtagswahl sank anschließend der Zuspruch: 80 % (1994), 73 % (1999), 66 % (2004), 64 % (2009), 54 % (2014), 40 % (2019) und nun 34 % (2024). In den übrigen ostdeutschen Bundesländern sieht es nicht anders aus, der Rückgang ist nur etwas langsamer. Bemerkenswert ist die nahezu identische Entwicklung von Brandenburg und Sachsen. Einziger Unterschied: Brandenburg wird traditionell von der SPD und Sachsen von der CDU dominiert. Die aktuellen Wahlergebnisse sind somit alles andere als eine unerwartete Wendung. Sie sind der vorläufige Höhepunkt eines jahrzehntelangen Vertrauensverlustes in die etablierte Politik in Ostdeutschland.

Mythos 2: Die Ostdeutschen sind undankbar.

Wahr ist: Seit der Wiedervereinigung flossen über 2 Billionen Euro von West- nach Ostdeutschland, vor allem in Form von Renten und Sozialleistungen. Wahr ist aber auch: Seit 1989 hat Ostdeutschland unter dem Strich fast 1,9 Millionen vorwiegend junge Menschen an den Westen verloren, die dort weit mehr als 2 Billionen Euro zur Wirtschaftsleistung beigetragen haben dürften.

Ein wesentlicher Grund für den schleichenden Vertrauensverlust sind die enttäuschten Hoffnungen vieler Ostdeutscher, mit der Wiedervereinigung ein gleichberechtigter Teil Deutschlands zu werden. In Nachwahlbefragungen nehmen drei von vier Thüringern Ostdeutsche als Bürger zweiter Klasse wahr, unter AfD-Wählern sind es sogar 83%. Ein mahnendes Symbol ist die beharrliche Lohnlücke zwischen Ost- und Westdeutschland, die sich durch fast alle Jobs und Qualifikationsstufen zieht. Dazu kommt die fehlende Würdigung der Zumutungen nach der Wiedervereinigung, vor allem die flächendeckende Deindustrialisierung, der Einwohnerschwund seit 1945 (Rösel 2023) und die Schrumpfung der öffentlichen Infrastruktur. Jede zweite Schule wurde in Ostdeutschland seit 1990 geschlossen, Gemeinden und Landkreise zu riesigen Einheiten fusioniert. Rückbau und Abwicklung sind kein bloßes Gefühl, sondern weithin spürbar und sichtbar. Die AfD ist dort stark, wo demografischer Wandel, Strukturwandel und der Rückzug des Staates besonders tiefe Spuren hinterlassen haben (Rösel und Sonnenburg 2016, Schneider 2020, Greve et al. 2023).

Mythos 3: Die Ampel ist schuld.

Wahr ist:Die Landtagswahlen waren Denkzettelwahlen für die die Ampel-Parteien. Wahr ist aber auch: Die modernisierte CDU hat ihre konservativen ostdeutschen Wähler verloren.

Sachsen und Thüringen wählen traditionell konservativ. Parteien links der Mitte – das BSW schon eingerechnet – kommen auf lediglich ein Drittel aller Sitze in den neu gewählten Landtagen. In den 1990er-Jahren stellte die CDU mehrere Alleinregierungen in Sachsen und Thüringen. Seitdem hat die Bindungswirkung der Union jedoch enorm nachgelassen. Auf Kreisebene ähneln die historischen Stimmenanteile der CDU der 1994 deutlich stärker den Stimmenanteilen der AfD von 2024 als den Stimmanteilen der CDU von 2024 – und das sowohl in Brandenburg, Sachsen, als auch Thüringen (ohne Eichsfeld). Über die Hälfte der CDU-Wähler in Thüringen wählten die Union nur, um den Einfluss der AfD zu begrenzen. In Sachsen hat die CDU gegenüber der letzten Wahl sogar weiter Stimmanteile eingebüßt. Die Stärke der AfD ist vor allem auch die Schwäche der CDU.

Mythos 4: Eine Regierungsbildung ist unmöglich.

Wahr ist: Die Wahlergebnisse sind ausgesprochen herausfordernd. Wahr ist aber auch: Es besteht die Chance für innovative Lösungen.

Mit den Wahlergebnissen gilt es nun umzugehen, wenn rasche Neuwahlen angesichts der verfestigten politischen Stimmung und des ohnehin geringen Vertrauens in die Einigungsfähigkeit der Politik eher ausscheiden. In Sachsen und Brandenburg drängt die Zeit; die Landesverfassung lässt dem neuen Landtag nur vier bzw. drei Monate Zeit, um einen Ministerpräsidenten zu wählen. Thüringen hat zwar keinen Zeitdruck, dort hätte aber – jenseits der AfD – nur ein bisher undenkbares Vierer-Bündnis aus CDU, SPD, BSW und Linkspartei eine parlamentarische Mehrheit. Vor einer Einbindung der AfD warnen Unternehmerverbände, die negative Auswirkungen auf den Ruf des Wirtschaftsstandortes, Investitionen und Fachkräfte befürchten. Beispiel Dresden: Seit Beginn der PEGIDA-Demonstrationen 2014 hat das Image der Stadt stark gelitten und junge Menschen aus dem In- und Ausland meiden nachweislich Dresden (Brox und Krieger 2021). Kommen Populisten an die Macht, schwächelt zudem die wirtschaftliche Entwicklung und die politische Polarisierung nimmt zu (Funke et al. 2023, Dörr et al. 2024). Möglich, aber eher unwahrscheinlich wäre auch eine Experten- bzw. Technokraten-Regierung, die es in schwierigen politischen Zeiten in Österreich, Italien und Griechenland gab. Die Aussicht auf Regierungsposten, den Einfluss im Bundesrat und den Ministerpräsidentenbonus bei künftigen Wahlen dürfte aber viel zu verlockend sein.

Bleibt noch die – nach den Thüringer Erfahrungen – zunächst wenig attraktive Option einer Minderheitsregierung. Studien zeigen allerdings, dass Minderheitsregierungen deutlich besser sind als ihr Ruf. Sowohl fiskalisch als auch politisch können sie ebenso stabil und solide arbeiten wie Mehrheitsregierungen (Potrafke 2021, Thürk und Stecker 2023). Wichtig ist, dass Minderheitsregierungen durch formale Unterstützungsabkommen abgesichert sind. Volksbefragungen zu bedeutenden Regierungsvorhaben könnten zusätzliche Legitimität verleihen, das Vertrauen stärken und entsprächen dem Wunsch vieler Ostdeutscher nach regelmäßigerer politischer Einbindung.

Egal, welche Lösung am Ende steht: Sachsen und Thüringen müssen bisher unbekanntes politisches Terrain betreten. Dies bietet die Chance für einen eigenen, ostdeutschen Weg. Die dabei gemachten Erfahrungen dürften künftig über die Landesgrenzen hinaus gefragt sein.

Literatur

Brox, E., & Krieger, T. (2021): Weniger Zuzug nach Dresden: Rechte Proteste verschrecken junge Leute!, ifo Dresden berichtet, 28 (4), 12–17.

Dörr, L., Potrafke, N., Rösel, F., & Tähtinen, T. (2024): Welche Politik verfolgen Populisten an der Macht? Ergebnisse ausgewählter Studien, ifo Schnelldienst 77 (3), 30–32.

Funke, M., Schularick, M., & Trebesch, C. (2023): Populist Leaders and the Economy, American Economic Review, 113 (12), 3249–3288.

Greve, M., Fritsch, M. & Wyrwich, M. (2023): Long?term decline of regions and the rise of populism: The case of Germany, Journal of Regional Science, 63 (2), 409–445.

Potrafke, N. (2021): Fiscal performance of minority governments: New empirical evidence for OECD countries, Party Politics, 27 (3), 501–514.

Rösel, F. (2023): The German Local Population Database (GPOP), 1871 to 2019, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 243 (3-4), 415–430.

Rösel, F., & Sonnenburg, J. (2016): Politisch abgehängt? Kreisgebietsreform und AfD Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern. ifo Dresden berichtet, 23 (6), 6–13.

Rösel, F. (2024): Mythen und Wahrheit: Landtagswahlen in Ostdeutschland, Wirtschaftsdienst, 104, (9), 586–587.

Schneider, L. (2020): Deindustrialisierung und Wahlverhalten, Wirtschaftsdienst, 100 (10), 787–792.

Thürk, M., & Stecker, C. (2023): Flexibel, stabil und effektiv? Zum Stand der Forschung über Minderheitsregierungen, Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 17 (3), 297–314.

*Dieser Beitrag ist eine leicht geänderte Fassung des Kommentars von Rösel (2024).

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