Gastbeitrag
Verhältnismäßigkeit ist die neue Freiheit
Liberalismus in der Coronakrise

Liberale haben es immer schwer, aber derzeit besonders. Liberale – und ich verwende diesen Begriff im weiten Sinn des Wortes – sind in den meisten Gesellschaften schon immer nur eine kleine Minderheit. Aber in der Coronakrise zeigt sich dies in einer Drastik, die erschreckend ist.

In vermutlich allen Gesellschaften sind latent viele Ängste und – sagen wir es vorsichtig – sehr problematische Haltungen vorhanden, die im Allgemeinen, jedenfalls in Demokratien, unter der Decke bleiben. Aber in Krisen wie dieser kommen sie zum Vorschein: wir sehen sie bei jenen, die blindlings die schärfstmöglichen Restriktionen fordern, über die, die jede Diskussion über Lockerungen oder alternative Wege verbieten und verhindern wollen, bis zu jenen, die sich im Alltag als Aufpasser und Blockwarte gerieren.

Aus Angst lassen sich viele Menschen bereitwillig einschränken – aber manche nicht. Manche hinterfragen das Ganze oder Teilmaßnahmen. Warum?

Liberale argumentieren mit Freiheit(en): das Problem ist meist, dass dies vielen anderen als Argument nicht reicht. Freiheit, so wird entgegnet, stehe schon immer unter vielen Bedingungen und Einschränkungen. Ohne die philosophische Debatte von Jahrhunderten hier aufarbeiten zu wollen, so kann man sicherlich sagen, dass der klassische Liberalismus mit seinem Freiheitsbegriff im emphatischen Sinn – so sympathisch ich ihn finde – schwierig zu verteidigen ist. Aber es gibt ja Alternativen: Freiheiten verstanden als Grundrechte, die nicht durch Mehrheitsentscheidungen ausgehebelt werden können.

Was heißt es, in einer Krise wie dieser auf Freiheiten als Grundrechten zu bestehen? Selbst wenn man zugesteht, dass Lockdown-Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sein mögen (was durchaus hinterfragt werden kann, dazu komme ich noch), dann müssen solche Maßnahmen immer auch verhältnismäßig sein. Und das gilt umso mehr für Maßnahmen, die über längere Zeit freiheitseinschränkend bestehen bleiben.

Verhältnismäßigkeit ist ein grundlegendes Prinzip der Demokratie. Es besagt, dass sämtliche Vor- und Nachteile einer Maßnahme abgewogen werden müssen. Es besagt außerdem, dass untersucht werden muss, ob es ein anderes Mittel gibt, das in gleicher (oder sogar besserer) Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen und die Allgemeinheit weniger belastet. Zum Beispiel: einen Ladendieb zu erschießen, um ihn an der Flucht zu hindern, ist unverhältnismäßig. Eine umfassende militärische Intervention zu starten, um einen Cyberangriff abzuwehren, wird in der Regel unverhältnismäßig sein.

Die Verhältnismäßigkeit in der Coronakrise werde ich im Folgenden an fünf verschiedenen Aspekten diskutieren:

  • Fehlende Diskussionsoffenheit

Bereits zum Anfang der Coronakrise ist mir sehr früh die mangelnde Diskussionsoffenheit aufgefallen. Der Tenor lautete vielerorts: Alles muss in eine Richtung laufen. Das ist einer demokratischen Gesellschaft und dem Stil der Debattenführung nicht angemessen. Julian Nida-Rümelin etwa hat wiederholt darauf hingewiesen (etwa: https://www.rnd.de/politik/philosoph-nida-rumelin-nicht-ausgrenzen-sondern-einbeziehen-JX3EQZJL6FHL3CEGZCK2HYHT2I.html).

Diskussionsoffenheit heißt grundsätzlich: alternative Auffassungen zu hören. Verhindern, dass eine Monokultur entsteht – denn genau das ist in der Coronakrise lange der Fall gewesen, zum Teil bis heute.

Insbesondere wurde im Verlauf der Krise dieser Fehler weiter verstärkt: Nachdem die Politik in den Augen vieler eine Weile zunächst den Eindruck eines eher rationalen Umgangs mit dem Virus vermittelte, geriet der Begriff „Öffnungsdiskussionsorgien“ in die Debatte. Damit entstand der Eindruck, dass nicht nur die Maßnahmen nicht hinterfragt werden dürfen, sondern dass man darüber nicht einmal diskutieren dürfe. Das ist nicht nur unverhältnismäßig, es ist schlicht unvereinbar mit demokratischen Werten.

Noch ein dritter Punkt in diesem Zusammenhang: Egal wie man zu dem schwedischen Ansatz in der Coronakrise steht, es ist schon erstaunlich, dass die Berichterstattung darüber oft so massiv verzerrt wurde und wird. Gerade in den deutschen Medien wurde regelmäßig versucht, den Weg als gescheitert (https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_87785966/schweden-und-das-coronavirus-das-schwedische-modell-geraet-ins-wanken.html ; https://www.sueddeutsche.de/politik/schweden-coronavirus-1.4904015 ) oder als schlimm darzustellen (https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.strategie-gegen-corona-schweden-taugt-nicht-als-vorbild.0af6a9c3-e274-435e-90e4-f013efb7edf0.html). Immer wieder wurde fälschlicherweise berichtet, dort würde man Alte sterben lassen, was auf einem einzigen nichtoffiziellen Paper basierte, das die schwedische Seite mehrfach dementierte (https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-schweden-intensivmedizin-101.html ). Ich komme auf das Modell Schweden zurück.

Insgesamt führte die fehlende Diskussionsoffenheit – außer zu massiven Anfeindungen – dazu, dass bestimmte, neben dem virologischen ebenso relevante, Gesichtspunkte in der Krise kaum noch angesprochen werden konnten. Bei allem Verständnis für politisches Handeln: hier ist die Verhältnismäßigkeit gleich zu Anfang abhandengekommen. Mittlerweile wird die Diskussion immer schwieriger, wenn man sieht, was in den Demonstrationen und auf den Straßen passiert. Es wird vor einer weiteren Eskalation wie mit den Pegida-Demonstrationen gewarnt. Die Schwierigkeiten der Debatte hängen dabei mit dem zweiten Punkt zusammen:

  • Einseitigkeit und fehlende Abwägung unterschiedlicher Aspekte

Seit Beginn der Coronakrise dominierte – zumindest für lange Zeit – ein einziger Gesichtspunkt alles: Die medizinische, und noch spezieller: die virologische Sichtweise einiger Experten. Ich will diese Expertise gar nicht in Frage stellen, obwohl auch hier immer deutlicher wird, dass die medizinische Seite von Corona und COVID-19 alles andere als eindeutig ist.

Jedenfalls bin ich nicht der Auffassung, dass die virologische Seite alle anderen überwiegen sollte. Ich glaube, dass auch andere Wissenschaften, Ethik, Rechtswissenschaft, Ökonomie, Psychologie und andere wichtige Rollen zu spielen haben, weil es auch in der Coronakrise – und in der jetzt folgenden Wirtschaftskrise – wesentlich darauf ankommt, Abwägungen zu treffen und dabei den Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit im Auge zu behalten. Ethik und Rechtswissenschaft sind dafür prädestiniert, in der Diskussion unterschiedliche Aspekte zusammenzubringen, eine Einseitigkeit der Diskussion zu vermeiden und Gesamtabwägungen aller Aspekte zu empfehlen. Das ist bereits in der Stellungnahme des deutschen Ethikrates vom 7.4. gut zum Ausdruck gekommen (https://www.ethikrat.org/pressekonferenzen/der-deutsche-ethikrat-zur-corona-krise/): Auch der Ethikrat ruft darin nach einer Gesamtabwägung aller Aspekte und weist darauf hin, dass solche Abwägungen unter dem Stichwort „Triage“ bereits seit langem in Medizin und Medizinethik diskutiert und praktiziert werden. Ein allgemeines Lebensrisiko ist demnach „von jedem zu akzeptieren“, und eine Sichtweise, die den Wert des Lebens über alles stellt und andere Gesichtspunkte ausschließt, ist abzulehnen. Was für manche hart klingen mag, ist eine letztlich unvermeidliche Abwägung: wenn man jedes Leben um jeden Preis retten will, riskiert man an anderer Stelle schwere Nachteile und Schädigungen.

Denn es ist nicht erst jetzt klar, sondern war bereits frühzeitig abzusehen, dass es über die Coronakrise als medizinischer Krise im engeren Sinne hinaus auch eine Wirtschaftskrise geben wird – sie ist bereits da. Das wiederum heißt, es werden andere Schäden aus der Coronapolitik entstehen als die, dass Menschen unmittelbar an der Krankheit (oder mit dem Virus) sterben (und ich übergehe hier bewusst die Diskussion, ob tatsächlich im Wesentlichen ältere Menschen und solche mit schweren Vorerkrankungen an COVID-19 sterben, wofür es viele Indizien gibt). Getroffen sind Unternehmen und Wirtschaftszweige in vielen Bereichen, die von heute auf morgen schließen mussten. Die Zahlen und Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute belegen diesen drastischen Einbruch. Wie immer man die Notwendigkeit dieser Maßnahmen sieht, eins ist klar: Man kann eine Wirtschaft sehr schnell ausschalten, aber man kann sie nicht so schnell wieder einschalten. Die Produktion kann man sicherlich schneller hochfahren als andere Bereiche, doch auch da gibt es Probleme mit Lieferketten. Vor allem aber geht es um den Konsum, denn die Konsumlaune ist extrem gesunken (https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.handel-in-der-corona-krise-historisch-schlechte-konsumlaune-sinkt-weiter.6985bd7c-02c4-4e15-8f02-ac4cd52ab066.html ; https://www.mdr.de/sachsen/staedtetagspraesident-jung-warnt-vor-leeren-innenstaedten-100.html ). Allgemeiner gesagt: Menschen müssen erst deutlich mehr Vertrauen in die Zukunft gewinnen, um stärker kurz- und langfristige Investitions- und Konsumentscheidungen zu treffen. Die Politik trägt mit ihren Maßnahmen derzeit wenig dazu bei, dieses Vertrauen zu stärken. Und die Steuereinnahmen brechen drastisch ein: Man rechnet bereits jetzt mit Steuermindereinnahmen von mehreren hundert Milliarden Euro – es ist zu befürchten, dass dies erst der Anfang ist.

Unabhängig davon gibt es weitere Effekte des Lockdowns, die sich längerfristig auswirken werden. Menschen trauen sich nicht, zum Arzt zu gehen, selbst zu notwendigen Operationen (https://www.focus.de/gesundheit/news/drastischer-rueckgang-erste-studie-zeigt-wie-viele-patienten-sich-wegen-corona-nicht-behandeln-liessen_id_11988988.html). Wartezimmer sind leer, Krebs wird zu spät erkannt und Krebs-Operationen verschoben (https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/folgen-der-corona-massnahmen-52-000-krebs-ops-verschoben-70820748 ), wie Ärzte im ganzen Land berichten. Und das hat massive Folgen, wie die Vergangenheit lehrt: es wird geschätzt, dass die Finanzkrise 2008 zu einer halben Million zusätzlicher Krebstoter weltweit geführt hat (https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/krebstote-durch-finanzkrise-zusaetzlich-starben-500-000-menschen-a-1094316.html ). Krankenhäuser im ganzen Land stehen leer, weil Intensivkapazitäten vorgehalten wurden für Coronapatienten, die nicht kamen. Dafür sind andere Betten nicht belegt, und Gesundheitseinrichtungen schreiben paradoxerweise sogar hohe Verluste (https://www.bz-berlin.de/berlin/corona-effekt-bisher-ausgeblieben-viele-betten-leer-berlins-kliniken-streben-behutsame-oeffnung-an ).

Hier sind Abwägungen offensichtlich nicht richtig getroffen worden: An dieser Erkenntnis kommen wir nicht vorbei. Auch die WHO warnt davor, dass die negativen Auswirkungen des Lockdowns überwiegen (https://www.telegraph.co.uk/global-health/science-and-disease/unicef-warns-lockdown-could-kill-covid-19-model-predicts-12/). Und auf den Impfstoff können wir nicht warten, es ist völlig ungewiss, wann es ihn geben wird.

Hier Verhältnismäßigkeit einzufordern, heißt: die Notwendigkeit verantwortungsvoller Gesamt-Abwägungen zu betonen. Eine Politik, die die Krise nur von einem Standpunkt betrachtet, handelt nicht verantwortungsvoll.

  • Verhältnismäßigkeit von Regeln

Mittlerweile sind ja einige Lockerungen in der Coronakrise zu verzeichnen. Ein wesentliches Problem stellen jetzt jedoch die Regeln da, mit denen viele Öffnungen verbunden wurden. Vieles ist nicht verhältnismäßig. Der Chef eines großen Münchner Modehauses äußerte sich kürzlich wie folgt: „Mein selbstverständliches Vertrauen in unsere freiheitliche Grundordnung und in den gesunden Menschenverstand ist schon ein wenig ins Wanken geraten… es gab und gibt schon recht viele für mich nicht mehr nachvollziehbare Verfügungen“. (https://etailment.de/news/stories/Reden-wir-ueber-Corona-Hirmer-Chef-Troch-Mein-gesunder-Menschenverstand-ist-ein-wenig-ins-Wanken-geraten-23021 )

Ein zentrales Thema, das auch zu den derzeitigen Protesten beitragen dürfte, ist die Maskenpflicht. Die Politik legte sich an einem bestimmten Punkt in dieser Krise auf die Maskenpflicht fest, obwohl Mediziner lange Zeit davor gewarnt hatten. Man kann durchaus über die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr reden – das sind in der Regel kurze Strecken. Das ist machbar. Aber die Maskenpflicht in Geschäften ist eine unnötige Belastung und ein schwerer Fehler der Politik: Sie ist schlicht ein Konsumkiller. Man sieht es in Deutschland (https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/coronavirus-innenstaedte-100.html), und man sieht es bereits seit Monaten in China (https://de.yahoo.com/news/china-erst-mal-lie-nichts-171412031.html ): Menschen lassen sich nicht in die Geschäfte zwingen. Und das Online-Geschäft (das im Übrigen in erster Linie den Großen wie Amazon zugute kommt) kann das nicht kompensieren. Bei den derzeitigen Einschränkungen konsumieren die Menschen einfach deutlich weniger.

Und ein Blick in andere europäische Länder zeigt, dass es diese Maskenpflicht in vielen ausdrücklich nicht gibt. Dazu zählen nicht nur Schweden, sondern etwa auch Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Island, Finnland, die Schweiz, Großbritannien und Irland. Sogar Frankreich mit seinen hohen Zahlen an Infizierten und Toten hat am 11.5. wieder Geschäfte geöffnet – ohne allgemeine Maskenpflicht (sie gilt dort nur im ÖPNV). Die Politik wäre gut beraten, diese Maskenpflicht sofort abzuschaffen – sie ist überflüssig und trägt auch wesentlich zu den aktuellen öffentlichen Eskalationen bei.

Masken im Alltag sind nicht etwas, das man einfach mal so einführen kann. Ich bin selber viel in Japan beruflich unterwegs. In Deutschland herrscht oft der Eindruck vor, Japaner würden überall und ständig Masken aufsetzen. Tatsächlich tun das mehr Leute als hier – allerdings freiwillig. Und vor allem war das nicht immer so, sondern ist Ergebnis eines längeren kulturellen Prozesses. Wenn man versucht, von heute auf morgen so etwas einzuführen, wird das zu Verwerfungen führen, das war vorhersehbar. Aber es ist auch absolut unnötig, man sieht es in anderen Ländern, die Masken nicht eingeführt haben: die Infektionszahlen steigen nicht. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass nun ausgerechnet der einzige Ministerpräsident der Linken, Bodo Ramelow, als erster angekündigt hat, die Corona-Maßnahmen einschließlich der Maskenpflicht zu beenden: die Linke erweist sich als Vorkämpfer von Freiheit und Grundrechten.

Warum führte man überhaupt solche Maßnahmen ein – nachdem die Bürger schon einen langen Lockdown hinter sich gebracht hatten und eigentlich hätten aufatmen können?

Zum einen wurde und wird immer noch mit einer möglichen zweiten Welle argumentiert. Diese Angst vor einer zweiten Welle ist aber, wenn man sich die Gesamtsituation ansieht, vollkommen unbegründet. Es gibt in keinem der Länder, in denen das Infektionsgeschehen schon viel früher angefangen hat als in Europa, eine zweite Welle. Es gibt sie nicht in Südkorea oder anderen asiatischen Ländern. Es gibt sie insbesondere auch nicht in Singapur, wie gelegentlich behauptet wurde, in den Zahlen ist lediglich eine einzige Welle (auf sehr niedrigem Niveau) erkennbar, die zwischendurch wieder etwas anstieg, um anschließend wieder zu fallen. Vor allem aber hat es auch bei früheren Pandemien (etwa der Asiatischen Grippe 1957/58 oder der Hongkong-Grippe 1968/69) nie eine zweite Welle gegeben, außer bei der Spanischen Grippe. Das ist das einzige Beispiel dafür, auf das auch immer wieder Bezug genommen wird. Und die Spanische Grippe hatte ihre Besonderheiten,  sie ist in vieler Hinsicht und von ihren Auswirkungen her auf gar keinen Fall vergleichbar mit dem aktuellen Geschehen (https://www.focus.de/wissen/mensch/medizinhistoriker-salfellner-im-gespraech-viele-vergleichen-spanische-grippe-mit-corona-doch-die-unterschiede-sind-massiv_id_11990944.html ).

Und das zweite ist der schwedische Weg. Ich habe schon erwähnt, dass die Vorgehensweise Schwedens in öffentlichen Diskussionen in Deutschland in einer Weise verteufelt wurde, die schon fast nicht mehr verständlich ist – außer dass mancherorts Angst vor einer Kontrollgruppe herrscht. Denn wenn diese Kontrollgruppe ergibt, dass der ganze Lockdown möglicherweise nicht nötig war, dann dürfte das Auswirkungen auf die allgemeine Stimmung und die politische Landschaft haben. Nochmal: Ich will hier gar nicht über die Sinnhaftigkeit des Lockdowns entscheiden. Aber die Zahlen in Schweden sind doch sehr interessant. Sie sind sicherlich nicht perfekt, Schweden hat nicht die niedrigsten Todeszahlen pro Kopf. Sie sind aber auch nicht so schlecht, dass man den schwedischen Weg für gescheitert erklären kann. Experimente mit ihrer Bevölkerung haben, in der einen oder anderen Hinsicht, letztlich alle Länder angestellt. Bei den Todeszahlen zeigt sich (lt. ourworldindata.org): die schwedischen Zahlen (etwa die der Toten im Verhältnis zur Bevölkerung) liegen (z.T. deutlich) unter denen vieler anderer europäischer Länder. Sie liegen etwas höher als jene von Dänemark und Norwegen, das ist richtig, aber auch nicht um Größenordnungen. Sie liegen etwa in ähnlicher Höhe wie jene der Niederlande und deutlich niedriger als jene von etwa Großbritannien, Spanien, Frankreich, Italien oder Belgien. Und: die schwedischen Zahlen gehen in gleicher Weise zurück wie die der anderen Länder. Der immer mal wieder beschrieene Anstieg ist ausgeblieben. Aber das Wichtige ist, dass die Schweden eine Abwägung getroffen haben und zwar eine Abwägung, bei der die gesellschaftlichen Kosten in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wurden. Mit Kosten meine ich nicht nur monetäre Kosten, sondern auch die Kosten für das Leben der Menschen: für Eltern, für Kinder, für Künstler, Unternehmer und Arbeitnehmer, für Selbstständige, für Gastronomen und für viele andere. Auch in Schweden gab es durchaus Einschränkungen, etwa bei Versammlungen oder Universitäten. Aber es ist vermieden worden, in eine (wie hierzulande) übersimplifizierte Diskussion zu geraten: Lockdown ja oder nein. In dieser Hinsicht sind in Deutschland massive Fehler begangen worde, und wir werden viel von dem Beispiel Schwedens lernen müssen – insbesondere auch, was Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen bedeutet.

  • Fairness von Maßnahmen

Aus ethischer Sicht stellt sich natürlich immer auch die Frage der Fairness: Treffen die Corona-Beschränkungen alle im gleichen Maße? Sind die Lasten fair verteilt? Oft wurde behauptet: Das sei eine Krise, die uns alle betreffe. Das ist zum Teil richtig, zum Teil aber auch falsch. Man kommt nicht ganz um die Erkenntnis herum, dass Corona manche Menschen stärker betrifft als andere und dass viele, die etwa einen sicheren Arbeitsplatz haben, und viele, die ihre Arbeit leicht ins Digitale verlegen können, es leichter haben als andere (https://www.welt.de/finanzen/plus207876629/Lockdown-Folgen-2-1-Millionen-Deutsche-stehen-vor-dem-Ruin.html ). Wir müssen an viele Selbstständige und Unternehmerinnen denken, an die Gastronomen (https://www.focus.de/perspektiven/gesellschaft-gestalten/coronacare-kurz-davor-dicht-zu-machen-jetzt-beginnt-fuer-gastro-kampf-ums-ueberleben_id_12004990.html ), an die Künstler. Viele künstlerische Zweige, die kaum eine Möglichkeit haben, digital im gleichen Maße tätig zu werden, sind von den Maßnahmen sehr stark betroffen.

Dagegen haben sich andere in der Krise – und ich meine das gar nicht als Kritik – ganz gut eingerichtet. Manche sehen den Lockdown als eine Art Erholung vom beruflichen „Hamsterrad“. Aber für andere geht es um die Existenz, um die wirtschaftliche wie auch die persönliche. Und hier muss man das Schicksal einer weiteren Gruppe aufbringen: Eltern und Kinder.

Es ist besorgniserregend, dass man in den vergangenen Wochen und Monaten erleben musste, dass Eltern und Kinder kaum eine Lobby in Deutschland haben. Man sieht das exemplarisch an manchen Statements von Politikern wie jenem des brandenburgischen Wirtschaftsministers Steinbach, der schlicht erklärte, das alles sei doch noch kein „Wahnsinns-Ausnahmezustand“, sondern „gerade mal 14 Tage länger als die Sommerferien“ (https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/05/brandenburg-wirtschaftsminister-steinbach-kritik-twitter.html ).

Von Seiten der Politik wurden Entscheidungen etwa bezüglich Schulen, Kitas und Kontaktsperren von heute auf morgen getroffen, die man erst ganz langsam in kleinen Schritten begann rückgängig zu machen. Eltern und Kinder leiden dauerhaft unter dieser Situation. Viele sind seit Monaten im Home-Office mit kleinen Kindern, die zum Teil immer noch nicht wissen, wann sie wieder in Kitas und Schulen gehen können. Und das, obwohl inzwischen in mehreren Ländern wie Dänemark und Norwegen die Schulen seit Wochen wieder offen sind – und die Infektionszahlen dort nicht steigen. Ganz zu schweigen von Ländern wie Island und Schweden, die Schule und Kitas gar nicht erst geschlossen haben. Die empirische Evidenz bestätigt damit, was auch frühzeitig auch von vielen Medizinern gesagt wurde, nämlich dass Kinder und Jugendliche kaum zum Infektionsgeschehen beitragen. Gehört wurde dies jedoch nicht (https://www.noz.de/deutschland-welt/gut-zu-wissen/artikel/2051898/corona-kitas-schulen-experten-bezweifeln-sinn-von-schliessungen  ). Mittlerweile fordern fünf medizinische Fachgesellschaften eine schnelle Öffnung von Schulen und Kitas in der Breite und begründen dies mit gravierenden sozialen und gesundheitlichen Folgen der Schließungen

(https://www.welt.de/gesundheit/plus208109573/Schulen-und-Kitas-Darum-fordern-Experten-eine-schnelle-Oeffnung.html; https://www.spiegel.de/panorama/bildung/corona-krise-mediziner-fordern-komplette-schul-und-kita-oeffnung-a-4d1a0336-680d-4259-818e-7a263732f811 ).

Wir sollten hier aufhören, falsche Prioritäten zu setzen. Peter Dabrock, der bisherige Vorsitzende des deutschen Ethikrates, äußerte mehrfach, dass es eigentlich nicht vertretbar sei, die Bundesliga vor den Kitas oder Schulen wieder beginnen zu lassen. So weit würde ich nicht gehen, Fußball ist mit Sicherheit auch ein wichtiger Teilbereich, aber ich halte ebenfalls für sehr problematisch, eine wesentliche Hauptlast der Krise auf Kindern und Eltern abzuladen. In mehreren Bundesländern wie Sachsen für Grundschulen (https://www.news4teachers.de/2020/05/kretschmar-kuendigt-vollstaendige-oeffnung-aller-schulen-nach-den-sommerferien-an/ ) oder für Kitas in NRW (https://rp-online.de/panorama/coronavirus/kitas-nrw-eingeschraenkter-kita-regelbetrieb-fuer-alle-kinder-ab-8-juni_aid-51241969 ) ist jetzt immerhin eine klare Perspektive erkennbar, in anderen Bundesländern immer noch nicht: manche treten durchweg auf die Bremse. Das ist ein Fehler.

Der Schwarze Peter liegt dabei nicht immer allein bei den Politikern: Das am 13. April veröffentlichte Papier eines Gremiums der Leopoldina sandte von der wissenschaftlichen Seite her ein sehr einseitiges Signal: Danach sollten etwa Kitas bis Sommer geschlossen bleiben. Aus diesem Papier spricht Unverständnis für die Lage von Eltern und Kindern. Bei aller Kompetenz, die in der Leopoldina zweifellos vorhanden ist, muss man doch auch zweifeln an der Zusammensetzung dieser speziellen Gruppe: Ist es heute wirklich noch akzeptabel, dass in einem solchen Gremium Frauen kaum vertreten sind? Nach meiner Erfahrung wäre das international (etwa in den USA, Großbritannien und anderen Ländern) keinesfalls mehr denkbar. Das muss sich auch hierzulande ändern, und dann wird man auch sehen, dass andere gesellschaftliche Akteure stärker als bisher berücksichtigt werden.

Insgesamt fehlt bei der Frage der Fairness von Maßnahmen der internationale Blick. Die Politik neigt dazu, ganz unterschiedliche Ansätze in den einzelnen Ländern, von denen man lernen könnte, zu wenig zu berücksichtigen. So öffnet beispielsweise das schwer getroffene Italien Schwimmbäder und Fitnessstudios ab 25. Mai sowie Theater und Kinos ab 15. Juni (https://www.dw.com/de/italiens-regierungschef-conte-stellt-corona-lockerungsplan-vor/a-53467608 ). Hierzulande sind in vielen Bundesländern zu diesen Punkten noch überhaupt keine Perspektiven erkennbar. Es fehlt auch hier an Verhältnismäßigkeit.

  • Und beim nächsten Mal?

Ein letzter, aber wesentlicher Punkt: was wäre denn die Reaktion bei der nächsten Krise, sollte wieder ein ähnliches Virus auftauchen (und wer will das ausschließen)? Wollen wir wirklich die jetzigen Maßnahmen noch einmal durchziehen? Das hätte völlig unabsehbare langfristige psychologische, soziale und ökonomische Rückwirkungen, die schon diese Krise nach sich ziehen wird. Wenn z.B. Menschen, die ins Arbeitsleben einsteigen, damit rechnen müssen, dass alle paar Jahre ein solcher Lockdown mit unabsehbaren Folgen kommt, würden sie das Risiko schlicht nicht eingehen – und nicht investieren. Das heißt etwa auch, keine neuen Arbeitsplätze zu schaffen, weil man ständig auf eine weitere solche Krise gefasst sein müsste. Menschen würden keine Restaurants, Bars, Theater, Kinos oder andere kulturelle Einrichtungen eröffnen: Sie müssten immer wieder befürchten, unter bestimmten Umständen vom Staat einfach geschlossen zu werden.

Man wird sich letztlich bei möglichen zukünftigen Krisen irgendwo auf eine Strategie wie den schwedischen Weg verständigen müssen, dazu sehe ich keine Alternative. Im Moment geht es erst mal um den Weg aus der jetzigen Krise. Das wird nur mit verantwortungsvollen Abwägungen geschehen können, mit interdisziplinären Abwägungen, mit einem Weg von der Einseitigkeit der bisher sehr stark virologisch geführten Diskussion. Und auch in der Politik muss wieder ein stärkerer Pluralismus der Ansätze und Strategien sichtbar sein, sonst werden unsere freiheitliche Demokratie und Gesellschaft erheblichen Schaden nehmen.

Liberale Aufgaben in und nach der Krise

Was können und sollten Liberale in solchen Krisenzeiten beitragen? Wenn man sich die Diskussionen on- und offline so ansieht, gewinnt man den Eindruck: Menschen können Grundrechte verlernen. Menschen können Freiheit verlernen. Nur ein Beispiel: Auf Twitter behaupteten Leute: „Ikea ist kein Grundrecht“ – glücklicherweise wurde dem von Juristen sofort widersprochen. Selbstverständlich ist es ein Grundrecht, sein Geschäft zu öffnen, und ein Grundrecht, als Kunde in ein Geschäft der Wahl zu gehen. (Und zu den Grundrechten gehört übrigens selbstverständlich auch das Recht zu demonstrieren.) Aber so weit ist es bereits gekommen, dass solche Kernelemente der Demokratie von nicht Wenigen in Frage gestellt werden.

Die Aufgabe der Liberalen (wie wenige sie auch immer sein mögen) ist und wird es immer sein, dem Verlust von Grundrechten entgegen zu wirken und schon bei kleinsten Anzeichen von diesbezüglicher Gefahr wachsam sein. Das ist nicht einmal begründungspflichtig, nein, die Begründungslast liegt grundsätzlich bei jenen, die Einschränkungen fordern oder vornehmen. Der Grundrechts-Muskel muss trainiert bleiben. Und das heißt in Krisenzeiten, Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen aktiv einzufordern – und nicht so nonchalant über fundamentale Grundrechtseinschränkungen hinwegzugehen wie der soeben ausgeschiedene Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle, der (im Gegensatz zu seinem Vorgänger Papier) alle Corona-Maßnahmen kurzerhand für alternativlos erklärte (https://www.tagesspiegel.de/politik/verfassungsrichter-zur-coronavirus-krise-vosskuhle-haelt-deutsche-strategie-fuer-alternativlos/25833224.html ).

Diese Aufgabe der Liberalen liegt übrigens im Interesse vieler, auch der Nicht-Liberalen – das sollten gerade Politiker anderer Richtungen erkennen: liberale Rufe nach Verhältnismäßigkeit in Krisenzeiten bedeuten auch, davor zu warnen, dass man überziehen könnte. Denn irgendwann muss man die beschlossenen Maßnahmen auch wieder beenden. Gesellschaft und Wirtschaft müssen aus dem Lockdown und seinen Folgen heraus, und zwar nicht in Trippelschritten. Wie aber schafft man es, aus Maßnahmen wieder auszusteigen – wenn viele das gar nicht wollen? Wenn sie Garantien für risikolose Sicherheit verlangen, die nicht gegeben werden können, und Lockerungen als menschenverachtend bezeichnen? Wie schafft es die Politik, die Geister, die man rief, wieder in die Flasche zurückzubekommen?

Mehr noch: Vor dem Überziehen von Maßnahmen zu warnen, heißt auch vor einer tiefgehenden Spaltung der Gesellschaft zu warnen. Ich habe es bereits oben erwähnt: die Menschen sind nicht gleichermaßen und gleich fair von den Krisenmaßnahmen betroffen. Das muss man im Blick haben, wenn man über das Ende von Corona-Maßnahmen diskutiert. Jens Spahn sagte bereits im April: „wir werden einander verzeihen müssen“ – in der Tat, das gilt in alle Richtungen. Ob uns das gelingt, ist offen. Die Flüchtlingskrise hat uns gelehrt, dass Spaltungen sehr tief gehen können.

Der Liberalismus muss auch immer die internationale Perspektive einfordern: neben dem Blick darauf, was für Maßnahmen andere beschließen, brauchen wir Vertrauen in ein funktionierendes Europa. Es lässt sich nicht wegdiskutieren: Hier hat die Politik massiv versagt. Insbesondere hätte man die Grenzen in Europa nicht schließen dürfen. Das war ein fatales, Vertrauen in die EU massiv zerstörendes und unnötiges Leid verursachendes Signal der Coronapolitik, das noch weitere Kollateralschäden nach sich ziehen wird.

Generell gilt zum Punkt Vertrauen: Liberale sollten immer betonen, dass man Menschen nicht wie Kleinkinder behandeln muss, sondern dass man ihnen erst einmal zutrauen kann, sich auch mit Augenmaß an Regeln zu halten. In Deutschland scheint dagegen ein paternalistisches Bild in der Politik vorzuherrschen, das erst einmal vom Gegenteil ausgeht. Renate Köcher, Chefin von Allensbach, wies Ende April darauf hin, dass ihre Erhebungen zeigten: „Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist bemerkenswert“ (https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/demoskopie-allensbach-chefin-das-misstrauen-der-politik-gegenueber-der-bevoelkerung-ist-bemerkenswert ). Ein solcher Paternalismus ist gefährlich für eine Gesellschaft.

Um hier mit einem positiven Akzent zu enden: Liberale sollte immer auch für Innovationen stehen, für Digitalisierung etwa. Die Coronakrise löst derzeit bereits einen Digitalisierungsschub aus. Unternehmen verändern sich, Infrastrukturen müssen verbessert, Schulsysteme grundlegend neu aufgestellt werden. Hier besteht Hoffnung, dass sich nach dem Schock etwas ändert.

Perspektiven

Wie wird es nach der Krise weitergehen? Ich sehe in liberaler Perspektive zwei Szenarien für die neuen Zwanziger Jahre:

  • Das erste Szenario ist das eines verlorenen Jahrzehnts. Die Wirtschaftskrise wird noch viel schärfer und langwieriger als gedacht. Es kommt zu einem Rollback der Globalisierung, wofür Umfragen bereits Indizien zeigen: so sehen in Deutschland nur noch Anhänger der FDP die Globalisierung mehrheitlich positiv (https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-umfrage-deutschland-wendet-sich-von-der-globalisierung-ab-a-7926d9ce-d749-4563-90dd-b40a468dd019 ).
  • Das zweite Szenario ist das optimistische: Die Krise wird – auf die eine oder andere Art – zu Ende gehen, und das könnte sich als große Chance für den Liberalismus erweisen. Ich halte einen backlash zugunsten der Freiheit für denkbar. Menschen werden Dinge, die sie für selbstverständlich hingenommen haben, wieder mehr zu schätzen wissen. Sie werden aus der Krise gelernt haben, sie werden wachsamer sein und sie werden Verhältnismäßigkeit in zukünftigen Situationen aktiv einfordern.

Hoffen wir das Beste.

Blog-Beiträge zur „Corona-Kontroverse“:

Stefan Homburg: Zwei Entgegnungen

Jan Schnellenbach: Covid-19 und die Grenzen bivariater Korrelationsanalysen

Stefan Homburg: Lockdowns im internationalen Vergleich

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