Die Corona-Kontroverse (3)
Zwei Entgegnungen

In Teil 1 dieser kleinen Serie hatte ich empirisch gezeigt, dass die Intensität der verordneten Lockdowns die Sterblichkeiten eher erhöht als gemindert hat und dies nicht einer umgekehrten Kausalität geschuldet sein konnte. Vielmehr scheint es einen robusten Zusammenhang zwischen Intensität des Lockdowns und der finanzwirtschaftlichen Ausgangsposition des betreffenden Staates zu geben: Je höher der Schuldenstand Ende 2019, desto schärfer der Lockdown.

Jan Schnellenbach bemerkt hierzu richtigerweise, dass es bei Ländervergleichen auf die Auswahl und Klassifikation der betrachteten Länder ankomme. Er kritisiert, ich habe nur wenige Staaten betrachtet und die Kriterien für deren Klassifikation nicht transparent gemacht. Zugegebenermaßen wird künftige, detaillierte Forschung vermutlich Ordinalskalen entwickeln, etwa Skalen von Eins bis Zehn, die die Eingriffsintensität abbilden. Vorerst, wo Aktualität zählt, damit eine womöglich verfehlte Politik nicht fortgeführt wird, scheint es mir vertretbar, als Allgemeinwissen zu unterstellen, dass Schweden erheblich sanfter als Deutschland eingreift, Frankreich, Griechenland, Italien und Spanien hingegen erheblich härter. Die Länderauswahl hatte ich durch das Kriterium „EU-Staaten mit mehr als 10 Millionen Einwohnern“ objektiviert und dieses Kriterium eingehend begründet.

Das zweite Argument Jan Schnellenbachs verstehe ich nicht: Meiner Behauptung nach folgt die Ausbreitung einer Atemwegserkrankung, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird, stets einer epidemiologischen Kurve (oder logistischen Funktion), ganz gleich, ob es sich um Corona-, Influenza-, Rhino- oder andere Viren handelt: Die Infektionen nehmen zunächst zu und später automatisch ab, weil die Zahl empfänglicher Personen, die noch nicht infiziert sind, von Anfang an sinkt. Dies ist die mathematische Idee hinter der Differentialgleichung, die eine logistische Funktion definiert. Empirisch hat sich dieses Muster bei der Covid-19-Erkrankung in Deutschland und in Italien bewahrheitet, wie von mir vorausgesagt, ebenso im Vereinigten Königreich. In Homburg (2020) hatte ich die logistische Funktion für Italien graphisch veranschaulicht, in Teil 1 dieser Serie dieselbe Funktion für Deutschland, und wenn man nun das Vereinigte Königreich betrachtet, erhält man erneut das gleiche Bild:

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– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

In allen drei Fällen sinken die gemeldeten Corona-Sterbefälle etwas langsamer als zu erwarten. Dies führe ich nicht darauf zurück, dass die Lockdowns die Corona-Sterblichkeit kausal erhöht hätten, sondern eher auf die auch bei Sterbefällen zunehmenden Testzahlen. Meine Feststellung, das Sterbezahlen bei den genannten Infektionskrankheiten automatisch abflachen und dann sinken, ist keineswegs eine „sportliche These“, sondern epidemiologische Selbstverständlichkeit. Eine Selbstverständlichkeit, die sich auch in sämtlichen Staaten ohne Lockdown (wie Schweden, Südkorea und Taiwan) bewahrheitet hat. Dass schließlich die von Jan Schnellenbach zitierten später erschienenen Arbeiten meine Analyse verfeinert haben, ist doch selbstverständlich. Es ist klar, dass bei fortschreitender Zeit Arbeiten entstehen, die zuvor unberücksichtigte Faktoren einbeziehen.

Lothar Lammfromm sieht in seinem Kommentar zu Teil 2 meine Vorhersagen zur Corona-Sterblichkeit als „krachend gescheitert“ an und greift damit eine im Netz kursierende Wortwahl auf. Zur Versachlichung möchte ich folgendes anmerken. In einer geschlossenen Emailgruppe (der von Weizsäcker-Makrogruppe) hatte ich ab dem 24. März, dem Tag des Inkrafttretens des deutschen Lockdowns, Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme geäußert und auch Zweifel an der These des Bundesinnenministeriums[1], ohne Lockdown seien aufgrund „exponentiellen Wachstums“ 1.200.000 Corona-Sterbefälle zu befürchten. Viele Mitglieder der Weizsäcker-Gruppe teilten die Einschätzung des Bundesinnenministeriums und prognostizierten, bald sei „Bergamo überall“. Gegen diesen Pessimismus habe ich meine logistische Schätzung von 4.000 Corona-Sterbefällen gesetzt, und zwar in einer Situation großer Unsicherheit, in der es darum ging, die Größenordnung richtig abzuschätzen. Aus heutiger Sicht haben wir mit knapp 8.000 Corona-Sterbefällen zu rechnen. Die Größenordnung entspricht exakt der von mir prognostizierten, während das Bundesinnenministerium, gestützt auf die verfehlte Methodik des RKI, um zwei Größenordnungen daneben lag. Aufgrund eines solch Vergleichs kann ich nicht erkennen, meine Methode sei „krachend gescheitert“. Sie hat sich vielmehr als sehr erfolgreich erwiesen.

Es bleibt deshalb dabei, dass die Lockdowns überflüssig und schädlich waren, während der ebenso stabile wie unheimliche Zusammenhang zwischen Lockdownintensität und Schuldenstandsquote näher erforscht werden sollte.

Literatur

Homburg, S. (2020) Effectiveness of Corona Lockdowns: Evidence for a Number of Countries. The Economist’s Voice (im Druck). Als Diskussionspapier vorab verfügbar unter https://ideas.repec.org/p/han/dpaper/dp-671.html.

— — —

en[1]  Siehe https://fragdenstaat.de/dokumente/4123-wie-wir-covid-19-unter-kontrolle-bekommen . Mir liegt eine schriftliche Bestätigung des Bundesinnenministeriums vor, dass dieses Papier authentisch ist und der VS-Vermerk aufgehoben wurde, weshalb ich daraus zitieren darf.

Blog-Beiträge zur “Corona-Kontroverse”:

Jan Schnellenbach: Covid-19 und die Grenzen bivariater Korrelationsanalysen

Stefan Homburg: Lockdowns im internationalen Vergleich

Stefan Homburg

12 Antworten auf „Die Corona-Kontroverse (3)
Zwei Entgegnungen“

  1. Vorab:

    Herr Homburg, sehr herzlichen Dank dafür, dass Sie hier in der Sache diskutieren! Die Bereitschaft, sich auch mit Kritik in der Sache auseinanderzusetzen, ist vorbildlich! Grundsätzlich ist es in einem Blog auch eher möglich, in der Sache sorgfältig zu argumentieren.

    Zur Sache (Prognosen, Sterbezahlmodellierungen etc.):

    Das RKI hatte zu keinem Zeitpunkt für Deutschland 1,2 Mio Tote aufgrund von Covid-19 prognostiziert. Die Autoren des BMI-Diskussionspapier beklagen die tatsächliche Position des RKI, ich zitiere:

    „Das RKI geht in einem sehr moderaten Szenario derzeit von einer Letalität von 0,56% aus.“

    Das „Diskussionspapier“ des BMI vom Anfang März 2020 bezieht sich auf, ich zitiere:

    „wenn nichts getan wird“.

    Man nimmt für dieses Worst-Case-Szenario darüber hinaus theoretisch an, dass die ICU-Kapazitäten in Deutschland ähnlich gravierend wie in der Lombardei überfordert werden wird mit bis zu 300.000 gleichzeitigen schweren Erkrankungsverläufen. Ich hoffe, wir sind uns hier alle darüber einig, dass ein gezielt schwarz gezeichnetes und auch explizit so bezeichnetes „Worst-Case-Szenario“ eben keine Prognose für künftige reale Entwicklungen darstellt. Bereits im zweiten, ebenfalls schwarz gezeichneten Szenario „Dehnung“ wird dann nur noch mit 200.000 Todesfällen bis Ende 2020 kalkuliert. Im dritten Szenario, an dem die Autoren im Rest des Papiers kontinuierlich festhalten, das ist also die eigentliche Prognose, rechnen die Autoren mit 12.000 Todesfällen. Ich zitiere:

    „Wenn es gelingen sollte, durch umfangreiches Testen und Isolieren die Ausbreitung des Virus effektiv zu kontrollieren, wären die Auswirkungen weitaus milder. Im vorliegenden Modell würden (…) nur 12.000 versterben.“

    An der Stelle könnte man diesem Diskussionpapier (das Anfang März erstellt wurde) sogar eine gewisse Verharmlosung vorwerfen!

    Anders, als es Herr Stefan Homburg darstellt, wird in diesem „Diskussionspapier“ auch nicht vorwiegend über Lockdown-Maßnahmen diskutiert (diese sind in dem Papier erkennbar nachrangig und zeitlich befristet, sowie an bestimmte R-Werte oberhalb von 1,6 gebunden), sondern über eine ganze Bandbreite von Maßnahmen inklusive von NPIs (non pharmaceutical interventions), und nicht zu knapp auch über die von der WHO als primär erkärte Strategie „Test. Trace. Isolate.“.

    In den Worten der Autoren des Diskussionspapier:

    „Wir müssen von der Methode «Wir testen, um die Lage zu bestätigen» zur Methode «Wir testen, um vor die Lage zu kommen» wechseln (das belegt Südkorea eindrucksvoll).“

    Das klingt schon mal überhaupt nicht nach Lockdown, sondern nach guter epidemiologischer Praxis. Nun, was fordern die Autoren dieses Diskussionspapiers noch?

    * „Kapazität für die nötige medizinische Betreuung (…) erhöhen“
    * „Identifikation von Kontaktpersonen“
    * „elektronnische Bewegungsprofile“
    * „Isolation von Erkrankten und Verdachtsfällen“
    * „Unterbindung von Großveranstaltungen“
    * „Zugangsbeschränkungen für Alteneinrichtungen“
    * „Soziale Distanzierung“
    * „Dauerhafte oder auch nur längere Ausgangsbeschränkungen müssen hingegen vermieden werden.“

    (weit und breit kein Lockdown, Herr Homburg)

    Bis dahin ist dieses Papier also völlig unbedenklich. Eine Schwäche erlaubt es sich in dieser Passage:

    „Für (…) Südkorea erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von momentan 1,1%.

    Nunja. Das ist epidemiologisch ein Fehlschluss, weil in der Fallanalyse in Südkorea die asymptomatischen Fälle vielfach nicht erfasst sind, trotz eines sehr intensiven Testgeschehens in Südkorea und einem gerade aufopferungsvollen Tracing. Prof. Hendrik Streeck hat einen Anteil der asymptomatischen Verläufe in der Heinsbergstudie mit 20 Prozent angegeben, internationale Autoren geben hier Werte von 20 bis zu 40 oder 50 Prozent an. Professor Bhakdi gibt hier sogar einen Wert von 99,5 Prozent für asymptomatische Verläufe an, allerdings kann niemand in irgend einer Weise nachvollziehen, wie er auf diesen Wert kommt, der sämtlicher Studienlage gröblich widerspricht.

    Herr Professor Bahkdi äußerst sich zu dieser Frage auch nicht, insofern kann sein sonderlingshafter Überschlag völlig außer Betracht bleiben, zumal er im Bereich SARS-Cov-2 (oder SARS/MERS) keine einzige Veröffentlichung vorzuweisen hat.

    Korrigiert man die südkoreanische CFR also, anders als die Autoren des Diskussionspapiers, um die 20 Prozent von Prof. Hendrik Streeck, landen wir bei einer IFR in Höhe von rund 0,9 Prozent – und im angenommenen maximalen Fall von 50 Prozent liegt man bei 0,55 Prozent geschätzter IFR. Der letzte Wert ist ganz besonders interessant, weil dies genau der Wert der Heinsbergstudie ist, wenn man diese Studie um die zwei in Gangelt nachträglich aufgetretenen zusätzlichen Todesfälle und die in Gangelt schiefe Altersverteilung (vulnerable Gruppen sind in Gangelt zu 17,8 Prozent unterrepräsentiert) korrigiert, was als empfehlenswerte Vorgehensweise im Diskussionsbereich der Heinsbergstudie angesprochen wird.

    Wir kommen also für die IFR auf einen Bereich von 0,55 bis 0,9 Prozent (mit einer gewissen Tendenz zu den unteren Schätzwerten, wenn wir weitere internationale Studien berücksichtigen). Hinweis: Die Mehrzahl dieser Studien leiden darunter, dass sie die tatsächlichen Übersterblichkeiten in Covid-19-Hotspots kaum berücksichtigen, sodass sich dann hinterher evtl. doch höhere Werte ergeben könnten.

    Passt man das „Worst case Szenario“ des Diskussionspapiers entsprechend der aktuellen Studienlage an, und berücksichtigt man darüber hinaus, dass sich die SARS-CoV-2-Epidemie vermutlich schon bei einer Durchseuchung in Höhe von 50 Prozent weitgehend tot läuft (allerdings: mit einer residualen Resttätigkeit), so käme man auf ein Worst-case-Szenario (auf der Basis von: „wir tun nichts“) in Höhe 220.000 bis 400.000 „Corona-Tote“ für Deutschland in einem Zeithorizont von zwei Jahren. Eine ganz grobe Worst-Case-Kalkulation, eine ganz grobe Kelle, und unrealistisch.

    Wir wissen allerdings bereits, dass wir in Deutschland keineswegs „nichts“ tun. Alleine schon durch „Test. Trace. Isolate“ kann man nach Ansicht der Mehrheit der Epidemiologen den R-Wert um etwa 0,2 bis 0,3 Punkte absenken, und damit den Verlauf der Epidemie entscheidend beeinflussen, wie dies durchaus eindrucksvoll von Schweden vorgeführt wird, das gleichwohl auch auf zahlreiche Veranstaltungsverbote, Clubschließungen, soziale Distanzierungsregeln sowie harte Regularien für Restaurants setzt, sowie einem Nudging der Bevölkerung in Richtung sozialer Distanzierung und des allgemeinen Maskentragens in der Öffentlichkeit.

    Jedenfalls ist es Schweden gelungen, auf einem durchaus ärgerlich hohen Niveau mit einer sogar dramatischen Übersterblichkeit in Stockholm, in der Epidemie eine gewisse Plateaubildung zu erreichen, sodass die Anzahl der aktiven Fälle kaum noch ansteigt. Das lässt sich durchaus auch als Erfolg auffassen. In Schweden ist diese Wertung umstritten.

    Zurück zur Prognosefrage für Deutschland:

    Niemand kann zur Zeit sicher prognostizieren, wie die Epidemie bei uns bis Ende 2020 verlaufen wird. Immerhin können wir auf den Epidemieverlauf einwirken, und die Bevölkerung in Deutschland ist keineswegs bereit, dass ältere Menschen bei uns massenhaft versterben.

    Ob die bis Mitte Mai in Deutschland vorgenommenen Lockerungen den Reproduktionsfaktor bereits über „1“ treiben werden, kann zur Zeit auch niemand sagen. Meine Vermutung geht dahin, dass der weitere epidemiologische Verlauf im Sommer auf einem relativ konstanten (!) und erfreulich niedrigen Niveau verlaufen wird, also bei ca. 500 bis 1000 Neuerkrankungen pro Tag und respektive ca. 50 bis 120 Sterbefällen pro Tag. Mit anderen Worten, ein „Tanz“ rund um einen R-Wert in Höhe von „1“.

    Für den Herbst/Winter 2020/21 wird im Moment unter Epidemiologen über eine zweite Gipfelung spekuliert, was in Sachen Sterbefälle insofern deutlich problematisch wäre, weil es dann zu zahlreichen Doppelinfektionen Grippe/Sars-Cov-2 kommen würde. Die Doppelinfektion hat eine erwiesene, deutlich gesteigerte Letalität von bis zu 20 Prozent.

    Denkbar ist vor dem Hintergrund einer sehr starken deutschen Industrie aber auch, dass wir bereits im Herbst die ersten Millionen Impfdosen zum Schutz vulnerabler Gruppen herstellen können, oder auch, dass wir bei der Behandlung von Covid-19 z.B. auf der Basis von Antikörper-Therapien einen Durchbruch erzielen könnten.

    Im Augenblick setzen sich die deutschen Krankenhäuser bei der Behandlung von Covid-19 weitweit an die Spitze und konnten die Sterblichkeit von schweren Verläufen, die in Intensivstationen behandelt werden, auf unter 25 Prozent senken – und weitere Fortschritte in der Behandlungstechnik sehen bereits aussichtsreich aus!

    Wie will man bei so vielen unsicheren Faktoren das Epidemiegeschehen bis Ende 2020 vernünftig voraus sagen? Wie will man eine Sterblichkeit bei solch großen Unsicherheiten vernünftig prognostizieren?

    7,569 bestätigte Todesfälle haben wir jedenfalls schon jetzt, und auf der Basis der aktuellen aktiven Fälle (20.000) lassen sich sehr sicher bereits mindestens weitere 800 Todesfälle in den kommenden drei Wochen voraus sagen.

    Mit „8.000“ wird es nichts mehr, Herr Homburg.

    Meine Schätzung zum Jahresende 2020 liegt bei 30.000 bis 35.000 Sterbefälle und inkludiert bereits erste Erfolge in der Impf-Front, sowie bei den Antikörper-Therapien, die allerdings erst 2021 breiter ausgerollt werden. Dies ist in eine sehr grobe, sachlich imho sorgfältig begründete, Prognose, die im Übrigen voraus setzt, dass wir in Deutschland weiterhin smart im Epidemiemanagement vorgehen und nicht zulassen, dass sich der Wert von R (t) über viele Wochen hinweg oberhalb von 1,3 einpendelt.

    Geht man hingegen so vor, wie wir es bei der Berechnung der Sterblichkeit von Grippewellen gewohnt sind, also unter starker Beachtung realer Übersterblichkeiten, könnten wir wohl bis Ende 2020 mit insgesamt rund 40.000 Covid-19-Toten rechnen, sowie damit, dass wir bis jetzt schon bei 10.000 bis 12.000 liegen.

    Hinweis: Die gemeldeten offiziellen Fälle bei uns enthalten gesteigert oft die schweren Verläufe (z.B. Krankenhauseinlieferungen von Atemnotfällen) – somit sollte bitte niemand den Fehler machen, die Sterblichkeit von Covid-19 durch bloßen Vergleich aus „Fällen“ und „Sterbefälle“ abzuleiten.

    Richtiger sind hierfür a) Antikörperstudien an den Seuchenhotspots und b) Übersterblichkeitsstudien bei Seuchenhotspots.

    P.S.
    Das im Diskussionspapier beschriebene Szenario „langes Leiden“ sieht zwar unangenehm, aber sogar verblüffend hellsichtig aus. Die eigentliche (!) Prognose in diesem Diskussionspapier findet man unter „Zeitrahmen“ und diese fällt ebenfalls recht gelungen aus, teils ist dies als Prognose sogar herausragend.

  2. Dass Prof. Homburg einen Diskurs eröffnet hat, ist vorbildlich und in Deutschland leider nicht die Regel – selbst in der Wissenschaft nicht. Erstaunlich, dass Ökonomen noch keine Opportunitätskostenrechnung des „Lockdowns“ präsentiert haben.

    Die Verwendung von logistischen Funktionen zur Beschreibung von biologischen Wachstumsprozessen, insbes. in der Epidemologie, ist in der Tat wissenschaftlicher Standard (Von der Mathematik her, ist es Oberstufenstoff: https://youtu.be/q7zw0oS8tnw ). Insofern greift der Einwand von Herrn Schellenbach „Forderungen auf der Grundlage von bivariater Augenschein-Empirie sind hier mehr als fahrlässig“ hier nicht).

    Wenn tatsächlich in allen Länder völlig unabhängig von den epidemologischen Maßnahmen, gleiche Verläufe von Infektions- oder Lethalitätszahlen resultieren würden, wäre das ein solider Ausgangspunkt, die bisherige Politik zu überdenken.

    Leider geht aus Homburg (2020) nicht hervor, wie die logistische Funktion genau geschätzt wurde. Die R2-Werte sind beeindruckend, aber welche Werte wurden für den Sättigungspunkt „S“ unterstellt? Bei „großen“ Ländern muss man doch sicherliche einen anderen Wert unterstellen als bei „kleinen“ Ländern.

    Herr Homburg ist hier ein wenig kryptisch und macht es damit seinen Kritikern leicht.

  3. Sehr geehrter Herr Friedrichs,

    ich habe ein SI-Modell verwendet, während das RKI mit einem S(E)IR-Modell arbeitete. Der zentrale Unterschied: Beim SI-Modell werden KEINE Parameter unterstellt!

    Es wird einfach die Funktion f(t) = S/(1+ a exp(-bt)) mit den drei Parametern S, a und b durch eine nichtlineare Regression an die Daten angepasst. Die Sättigungsgrenze S ist ERGEBNIS dieser Schätzung.

    Die S(E)IR-Modelle gelten als Goldstandard, benötigen aber Annahmen über die Ausbreitungsparamter. Genau diese Parameter liegen bei einer neuartigen Erkrankung nicht vor! Deshalb hat das RKI hier einen gravierenden methodischen Fehler gemacht. Es ist so wie auch in der VWL – lieber intellektuelle Brillanz als problemadäquate Relevanz.

    Mit freundlichen Grüßen
    Stefan Homburg

    P.S.: Herr Lammfromm: Die 1,2 Mio. Tote stehen im BMI-Papier glasklar drin. Weil die meisten Infektionen VOR dem Lockdown stattgefunden hatten, haben die staatlichen Maßnahmen auch überhaupt nichts mit der erfreulichen Entwicklung zu tun.

  4. An Herrn Lammfromm:
    Das BMI hat das Szeneriepapier vom März mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ selbst Ende April im Internet veröffentlicht, und jeder kann es lesen.
    Ganz klar wird hier das „worst case scenario“ in den Mittelpunkt gerückt. Es wird zum einen dargestellt als bedingte und plausible Prognose dessen was droht insofern keine weitreichenden lock-down Maßnahmen erfolgen. Es wird auch aber als wesentliches Element des kommunikativen Vorgehens hervorgehoben. So solle eine „gewünschte Schockwirkung“ erzielt werden und an die „Urangst“ vor dem qualvollen Ersticken appelliert werden, indem der Bevölkerung deutlicht gemacht werde, dass Angehörige oder man selbst qualvoll nach Luft ringend elendiglich zu Grunde gingen, wenn die Krankenhäusern stark Erkrankte abgeweis müssten (s. Seite 13). Es solle der Bevölkerung die potenzielle, tragisch- schuldhafte Verstrickung der eigenen Kindern herausgestellt werden, die möglicherweise den qualvollen Tod ihrer eigenen Eltern erwirkten, so sie sich nach dem Spielen nicht hinreichend die Hände waschten (s. Seite 13) und dann mit dieser Schuld beladen weiterleben müssten. Es solle herausgestellt werden, dass infizierte Gesundete ihr weiteres Leben in Angst vor erneuter Erkrankung harrten, bei ständiger Müdigkeit und reduzierter Lungenkapazität. Das erscheint mir – vor allem bereits vor dem Hintergrund dessen was Ende März bereits bekannt war – wie eine irrationale Panikmache. Strategien, die sich gezielt auf den Schutz besonders gefährderter Personen beziehen und den normal Gefährdeten einen größeren Freiheitsspielraum zugestehen, werden gar nicht diskutiert. Ein rationales Abwägen der tatsächlichen gesundheitlichen Risiken und ihres Vermeidungsnutzens gegen die gesellschaftlichen und individuellen Kosten weitgehender Schließungsmaßnahmen fehlt. Ein Referatsleiter, der intern eine solche Betrachtung angestellt hatte, wurde Medienberichten zufolge ignoriert, und nunmehr drohten ihm disziplinarische Maßnahmen. Und bis heute keine Spur von den erörterten sehr sinnvollen Maßnahmen – wie weitgehende Tests weiter Teile der Bevölkerung (und nicht nur von ausgewählten Personen, die starke Symptome zeigen oder sonst einer Ansteckung mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt waren). Sollte dieses Papier in der Tat die wesentliche interne Entscheidungsgrundlage des BMI gewesen sein – was für ein eklatantes Politikversagen!

  5. @Stefan Homburg

    Sehr geehrter Herr Homburg,
    wenn Sie Ihre Parameterschätzungen durch eine „nichtlineare Regression“ berechnet haben, wäre es natürlich schon sinnvoll gewesen, die Schätzwerte in Ihrem Papier (Homburg (2020)) zu veröffentlichen.

    Bei nichtlinearen Regressionen gelten die Standardkriterien für die Güte der Schätzer nicht in gleichem Umfang wie bei linearen Regressionen, so dass Plausibilitätsprüfungen um so wichtiger sind.

    So könnte man mittels der Schätzwerte für den Sättigungswert „S“, z.B. überprüfen, ob die Sättigungswerte in Prozent der Gesamtbevölkerung über die verschiedenen Länder konvergieren. Auch könnte man aus der Abweichung dieser Zahl von 100% Rückschlüsse über die epidemologische Stärke des Coronavirus ziehen.

  6. Ich finde es ausgesprochen unverständlich, wenn ein deutscher Hochschulprofessor den Wortlaut des hier diskutierten „BMI-Diskussionspapieres“, das eine Multiszenarienstudie für amtlichen Gebrauch darstellt, sogar vorgelesen bekommt, und also sehen muss, dass nur die Prämissen des dritten Szenarios (starke staatliche Eindämmungsversuche, ein deutliches Paket von NPI) zur Strategie der Bundesregierung sowie der gegenwärtigen Situation passen – und diesen sehr entscheidenden Punkt dann übersieht.

    Aus dem dritten Szenario ergäbe sich eine Prognose in Höhe von 12.000 Covid-19-Toten. Das ist völlig unbestreitbar, denn genau so steht es im BMI-Diskussionspapier drin. Es steht in diesem Papier auch drin, dass man sich seitens der Bundesregierung nur für dieses dritte Szenario interessiert – und dies konkret umzusetzen trachtet. Demnach sind diese 12.000 auch die konkrete Prognose – die beiden Alternativszenarien dienen lediglich der Untermalung dessen, was es zu meiden gilt!

    Herr Dr. Prof. Stefan Homburg erwidert aber trotz der exakten Zitation mit:

    „Die 1,2 Mio. Tote stehen im BMI-Papier glasklar drin.“

    Herr Stefan Homburg unterstellt damit, dies wäre die Gesamtprognose der Autoren des BMI-Diskussionspapieres gewesen!!

    Pardon, bei einem derartigen, unmittelbar kontrafaktischen Umgang mit Quellen, das nicht einmal auf wörtliche Zitationen aus diesem Papier reagiert, wäre eher an Reaktanzverhalten, Voreingenommenheit, psychologisches Splitting, Fakten unterdrückendes Blunting, im krassesten (und hier sicherlich unzutreffenden) Fall sogar einem „folie à beaucoups“ oder gar dem Ganser-Syndrom zu denken, und weniger an einem wissenschaftlichen Umgang mit Quellen.

    Hilfreiche Zitationen aus dem BMI-Diskussionspapier mit dem Titel „Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bekommen“:

    A) Seite 1: „Das Verschweigen des Wort Case ist keine Option.“

    B) Seite 2: „Das RKI geht von einer Hospitalisierungsrate von 4,5% aus, wovon 25% intensivpflichtig werden.“

    Also, wenn das nicht hellsichtig war: Was ist das denn dann?

    C) Auf Seite 6 findet sich hier das Szenario „Dehnung“, gibt aber nicht sehr genau an, welche Prämissen erfüllt sein müssen, damit dieses Szenario als wahrscheinlich angesehen wird. Man gibt im Szenario „Dehnung“ gegen dem „worst case Szenario“ nur an, dass dort die „Maßnahmen zur Reduktion physischer Kontakte viel weitreichernder“ sein würden, allerdings nicht, wie weit dies geht und wie dort der Umfang der vorgenommenen NPI konkret aussehen würde. Dieses Szenario kommt zu atemberaubenden 220.000 Coronatoten, ist allerdings aufgrund seiner unklaren Prämissenlage schwer einzuordnen. Dass Zahlen in dieser Größenordnung nicht völlig absurd sind, zeigen uns die aktuellen Entwicklungen in den USA, wo man – sehr zur Verärgerung von Herrn Professor Stefan Homburg – mit umfangreichen (gleichwohl: eher inkonsequent durchgeführten), und direkt verzweifelten Maßnahmen die Epidemie zu kontrollieren sucht. Unter Einschluss der Covid-19-bedingten Übersterblichkeit sind in den USA z.Zt. bereits über 300.000 Menschen verstorben.

    D) „Schließlich betrachten wir das weiter unten geschilderte und international unter Experten meist diskutierte Szenario „Hammer and Dance“ (Abbildung 3). Wenn es gelingen sollte durch umfangreiches Testen und Isolieren die Ausbreitung des Virus effektiv zu kontrollieren, wären die Auswirkungen weitaus milder. Im vorliegenden Modell würden sich rund eine Million Menschen infizieren, aber nur etwa 12.000 versterben. Die Mortalität läge also bei 1,2%. Insgesamt könnte dieser Zustand cirka zwei Monate andauern.“

    Die Prämissen des dritten, und offenkundig bevorzugten Szenarios werden auf Seite 8 genauer geschildert:

    „Die einzige gangbare Möglichkeit dürfte daher die Ein-
    richtung einer zweistufigen Strategie sein: Sie erfordert (i)
    die schnellstmöglich umgesetzte, strikte Unterdrückung der Neuansteckungen, bis die Reproduktionsrate in
    der Nähe von 1 ist, und (ii) schließt ein umfassendes und konsequentes System des individuellen Testens und Isolierens der identifizierten Fälle an.Das würde dem Rest der Volkswirtschaft wieder eine rasche Rückkehr in annähernden Normalbetrieb erlauben.“

    E) Auf den Seiten 9-11 werden dann vier weitere Unterszenarien zum Szenario „Hammer and Dance“ geschildert, was klar macht, dass die Autoren des BMI-Diskussionspapier hier den Schwerpunkt sehen und stark entschlossen sind, auf das Szenario „Hammer and Dance“ zu setzen.

    Für „Hammer and Dance“, was im Nachfolgenden auch tatsächlich von der Bundesregierung zusammen mit den Länderregerungen umgesetzt wurde, ergibt sich folglich die tatsächliche Prognose. Also 12.000 Tote, von denen man ausgeht.

    F) Auf Seite 15 und 16 wird dann teils sehr detailliert herunter gebrochen, wie man sich das Szenario 3 „Hammer and Dance“ genau vorstellt. Hier finden sich einige Unsauberheiten, allerdings keine von der Art, welche in Richtung der Argumentation von Herrn Stefan Homburg laufen, welcher unverändert auf seinem Twitter-Kanal den totalen Verzicht auf Tests und Maßnahmen fordert, und dies zum idealtypischen Umgang mit der Covid-19-Epidemie erklärt.

    Davon mag man halten, was man will. Wäre ich Mediziner, würde ich mich über diese Position allerdings sehr wundern. Entscheidend für mich ist hier einzig der in meinen Augen sehr unzulängliche Umgang von Herrn Professor Stefan Homburg mit Quellen. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, dass er den Inhalt dieser Quellen absichtsvoll verdreht und diese im Sinne einer stark maßnahmenkritischen Agenda gezielt missdeutet.

    Fazit:

    Das BMI-Diskussonspapier gibt eindeutig eine Anzahl von 12.000 Verstorbenen in Deutschland für 2020 an unter der Prämisse intensiver, staatlicher NPI.

    Herr Professor Stefan Homburg: Das ist nicht in Ordnung, was Sie an dieser Stelle tun.

    Im Übrigen mit freundlichen Grüßen, denn abseits dieser Streitfragen schätze ich Sie sehr, Herr Homburg!

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