Gastbeitrag
Wie verhältnismäßig ist die EZB-Geldpolitik?

Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die EZB die Verhältnismäßigkeit ihrer Politik überprüft und nachweist. Dabei würde eine solche Prüfung des PSPP-Programms keinesfalls so eindeutig ausfallen, wie die EZB dies suggeriert. Denn die massiven Anleihenkäufe der EZB haben nach ihrern eigenen Studien die Inflationsrate bisher nur geringfügig erhöht, und ihre eigenen Studien und die anderer Institutionen deuten teilweise auf beträchtliche Nebenwirkungen.

EZB hält Maßnahmen für verhältnismäßig …

Nach dem BVerfG-Urteil zum EZB-Anleihenkaufprogramm will die EZB den Eindruck vermeiden, sie lasse sich von einem nationalen Gericht die Richtung diktieren. Sie fürchtet um ihre Unabhängigkeit. Und es geht ihr in der aktuellen Situation vermutlich nicht nur um das PSPP-Kaufprogramm, sondern sie möchte auch verhindern, dass ihr Handlungsspielraum im Kampf gegen die Corona-Krise eingeengt wird – sie also ihr Notfallkaufprogramm PEPP einschränken muss.

Inhaltlich hat die EZB aber mit der vom BVerfG geforderten Prüfung offenbar kein Problem. Schließlich betonte sie, sie habe ausgiebig über potenzielle Nebenwirkungen des Staatsanleihekaufprogramms referiert. Es habe EZB-Veröffentlichungen dazu und regelmäßigen Austausch mit Parlamentariern gegeben. Die Verhältnismäßigkeit sei ausführlich diskutiert worden und zwar auch mit dem Europäischen Gerichtshof im Zuge seiner Entscheidung über das PSPP-Programm.

Folglich widerspricht die EZB einerseits dem EuGH-Urteil, demzufolge eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht nötig ist. Andererseits widerspricht sie auch die Auffassung des BVerfG, eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit sei „weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt“.

… aber stimmt das?

Dabei ist es keineswegs so, dass die EZB die Wirkungen und Nebenwirkungen des PSPP nicht analysiert hat. Allerdings machte sie bei der Entscheidung über die Staatsanleihenkäufe Anfang 2015 keine Anmerkungen zu unerwünschten Nebenwirkungen. Zudem ergeben die danach publizierten Studien kein so klares Bild in Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wie von der EZB postuliert.

Ein Problem ist, dass bei vielen Analysen die Wirkung der expansiven Geldpolitik insgesamt untersucht wird, und nicht die von einzelnen Maßnahmen wie des PSPP, sodass letztlich die Wirkung der Staatsanleihenkäufe im Speziellen unklar bleibt. Zudem sind bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung stets nicht nur die beiden Extremszenarien „keine“ oder „alle“ Anleihenkäufe zu untersuchen, sondern auch Zwischenlösungen, da die Verhältnismäßigkeit natürlich immer von der Dauer und vom Umfang einer Maßnahme abhängt. Schließlich hat die EZB selber immer wieder betont, dass die negativen Nebenwirkungen einer sehr expansiven Geldpolitik mit deren Dauer zunehmen würden.

Geringer Effekt auf Inflation

Alleiniges Ziel der Anleihenkäufe ist es nach Angaben der EZB, die Inflationsrate im Euroraum dauerhaft auf knapp 2% zu erhöhen. Lange Zeit hat die Notenbank ihre Schätzungen über die Wirkung ihrer expansiven Geldpolitik auf die Inflation nicht sehr detailliert veröffentlicht, sondern zum Beispiel nur auf Nachfrage in ihren Pressekonferenzen. Zudem bezogen sich diese Schätzungen auf alle EZB-Maßnahmen zusammen und nicht nur auf das PSPP. Das hat sich erst 2019 geändert. EZB-Chefvolkswirt Lane nahm wiederholt Bezug auf eine Studie, in der die Wirkung einzelner Maßnahmen auf die Inflation separat geschätzt wurde. Obwohl Lane immer wieder die positive Wirkung der EZB-Maßnahmen insgesamt hervorhob, hielten sich die Effekte nach diesen Untersuchungen doch sehr in Grenzen. So wäre nach den Schätzungen der EZB die Inflationsrate auch ohne die Anleihenkäufe von etwa 0% im Jahr 2016 auf Werte merklich über 1% in den Folgejahren gestiegen. 2017 hätte die Rate ohne Anleihekäufe statt 1,5% 1,3% betragen, 2018 1,6% statt 1,8% (Abbildung 1). Da hier die Wirkung aller Anleihenkäufe insgesamt geschätzt wurde, dürfte die Wirkung des PSPP sogar noch etwas darunter liegen.

Eine erst vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie der Bundesbank bestätigt diese Ergebnisse. Diese Studie schätzt die Wirkungen des erweiterten Ankaufprogramms (Käufe von Staatsanleihen und privaten Anleihen zusammen) auf das reale Bruttoinlandsprodukt, die Verbraucherpreise und die Buchkredite an nichtfinanzielle Unternehmen in den vier größten Mitgliedsländern des Euroraums (Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien). Die Auswirkungen auf die Inflation sind laut Bundesbank im Allgemeinen schwächer als auf das Realwachstum, und ab 2017 gebe es kaum Anzeichen für positive Effekte auf die Inflation . Einen statistisch signifikanten Effekt konnten die Autoren lediglich für das Jahr 2015 und nur für Deutschland und Spanien nachweisen.

Insgesamt muss sich die EZB aufgrund der Ergebnisse ihrer eigenen Untersuchungen die Frage gefallen lassen, ob sich der Ertrag des PSPPs angesichts seines enormen Umfangs überhaupt lohnt – zumal mögliche Nebenwirkungen der Käufe noch gar nicht berücksichtigt wurden.

claschabb1

– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

EZB hält bisher Nebenwirkungen für begrenzt

Auf diese Nebenwirkungen ihrer expansiven Geldpolitik ist die EZB in vielen einzelnen Kommentaren und Analysen eingegangen. So hat EZB-Direktoriumsmitglied Schnabel in einer erst Mitte Februar gehaltenen Rede die drei am meisten diskutierten Nebenwirkungen analysiert:

  • die Auswirkungen der Geldpolitik auf die Einkommens- und Vermögensverteilung und die vermeintliche „Enteignung“ des (deutschen) Sparers;
  • die Auswirkungen auf die Unternehmenslandschaft und die angebliche Entstehung sogenannter „Zombie-Firmen“;
  • die Auswirkungen auf die Finanzstabilität, vor allem auf die Vermögenspreise.

Schnabel betonte, „dass viele der häufig geäußerten Befürchtungen auf Halbwahrheiten und falschen Narrativen beruhen. Die überzogene Kritik an der EZB ist gefährlich, weil sie nicht nur das Vertrauen in die gemeinsame Geldpolitik bedroht, sondern auch den Zusammenhalt in Europa.“

Ernste Risiken für die Finanzstabilität

Unter den Nebenwirkungen sieht Frau Schnabel die größte Gefahr darin, dass eine sehr expansive Geldpolitik zu Risiken für die Finanzstabilität führt. Diese Gefahr sei „sehr ernst zu nehmen“. Denn es sei gerade ein Ziel der gegenwärtigen Geldpolitik, die Risikobereitschaft von Investoren wiederzubeleben, um damit Wachstum und Investitionen zu fördern.

Eine Studie der französischen Notenbank bestätigt mithilfe einer empirischen Analyse, dass die EZB die Risikobereitschaft tatsächlich erhöht hat. Besonders stark sei der Effekt von Ankündigungen der EZB zu den Anleihekäufen.

Gleichzeitig warnt die EZB in ihrem im November 2019[1] veröffentlichten Finanzstabilitätsbericht vor vier zentralen Risiken für die Finanzstabilität:

  • erhöhte Risikobereitschaft von Nicht-Banken,
  • Potenzial für zukünftige Korrekturen der Vermögenspreise,
  • anhaltende Bedenken hinsichtlich der Schuldentragfähigkeit,
  • wachsende Herausforderungen für die Rentabilität von Banken.

Obwohl die EZB bisher keine Anzeichen für breit angelegte Vermögenspreisblasen erkennt, liegt der Zusammenhang zwischen der sehr expansiven Geldpolitik und den langfristigen Finanzstabilitätsrisiken somit auch nach EZB-Aussagen klar auf der Hand. Für die Beseitigung der Risiken erklärt sich die EZB allerdings schlicht für nicht zuständig. Laut Frau Schnabel ist es „Aufgabe der makroprudenziellen Aufsicht, die Entwicklung der Kreditvergabe und Verschuldung zu beobachten und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um das Kreditwachstum zu bremsen.“ Zudem sei es „Aufgabe der Politik, die Problematik hoher Staatsschulden anzugehen, nicht diejenige der EZB“.

Geldpolitik und Zombies

Nicht eindeutig ist die Antwort der EZB auf die Frage, ob sie mit ihren Staatsanleihenkäufen das Entstehen von „Zombie-Firmen“ begünstigt hat – also von Firmen, deren Profitabilität so gering ist, dass sie bei höheren Zinsen nicht überlebensfähig wären.

EZB-Direktoriumsmitglied Schnabel betont, Zombie-Unternehmen seien eher eine Folge von schwachen Banken. So zeigten Untersuchungen der EZB, dass schwache Banken eher geneigt sind, risikoreiche Kredite an schwache Unternehmen zu vergeben. Eine Fortsetzung der Reformen im Bankensektor sei deswegen wichtiger als der Einfluss der Geldpolitik.

Dem widerspricht eine empirische Studie der BIZ, nach der Zombie-Unternehmen nicht nur durch schwache Banken zu erklären sind. Anhand von Firmendaten über börsennotierte Unternehmen in 14 fortgeschrittenen Volkswirtschaften dokumentieren die Autoren einen sprunghaften Anstieg der Anzahl von Zombie-Unternehmen seit Ende der 80er Jahre. Die Analyse deutet darauf hin, dass dieser Anstieg mit einem verringerten finanziellen Druck verbunden ist, was wiederum zum Teil auf niedrigere Zinsen zurückzuführen sei.

Diese Ansicht hatte EZB-Direktoriumsmitglied Mersch schon Ende 2017 vertreten, also deutlich vor der Veröffentlichung der BIZ-Studie. Durch die Senkung der Zinsen für alle Unternehmen lasse die Geldpolitik laut Mersch indirekt zu, dass ineffiziente Firmen sich über Wasser halten können. Somit könnten wirtschaftliche Abschwünge weniger leicht eine produktivitätssteigernde „schöpferische Zerstörung“ herbeiführen, also dass ineffiziente Firmen verdrängt und somit Ressourcen frei werden, die dann in effizienteren Unternehmen zur Steigerung der Gesamtproduktivität beitragen. Tatsächlich gebe es laut Mersch Belege dafür, dass die schöpferische Zerstörung während der durch die Finanzkrise ausgelösten tiefen Rezession weniger stark ausgeprägt war als in früheren (und nicht so massiven) Abschwungphasen und dass Zombiefirmen in einigen Ländern des Euroraums das Produktivitätswachstum gebremst haben.

Keine Enteignung der Sparer

Die These von der Enteignung der Sparer durch die expansive Geldpolitik weist die EZB klar zurück. Da dieser Vorwurf vor allen Dingen in Deutschland laut wird, hat sich EZB-Direktoriumsmitglied Schnabel in ihren Ausführungen hauptsächlich auf dieses Land konzentriert.

Laut Schnabel zählen am Ende für den Sparer die Realzinsen, also die Zinserträge abzüglich der Inflation. Es sei zu wenig bekannt, dass die mittlere reale Verzinsung für Spar- und Sichteinlagen in Deutschland seit der Einführung des Euros in etwa dem Durchschnitt der 24 Jahre davor entspricht.

Zudem bestehe Deutschland nicht nur aus Sparern, sondern zum Beispiel auch aus Kreditnehmern und Arbeitnehmern. Unterscheide man nach Einkommensgruppen, so sehe man, dass die Mittelschicht, in der sich die meisten Kreditnehmer befinden, der Gewinner der Niedrigzinspolitik ist. Die Eine empirische Studie von EZB-Ökonomen würde zudem zeigen, dass vor allem ärmere Einkommensschichten von den geldpolitischen Maßnahmen profitiert haben, da siebesonders von der niedrigeren Arbeitslosigkeit profitiert haben.

Unterm Strich bleiben Zweifel

Insgesamt bleiben damit selbst auf der Grundlage von Studien der EZB Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Anleihenkäufe. So ist ihnen zufolge der Effekt auf die Inflationsrate allenfalls verhalten, und auch nach den Analysen der Notenbank ergeben sich aus den Anleihekäufen langfristig große Risiken für die Finanzstabilität, für deren Bekämpfung sich die EZB jedoch offenbar nicht zuständig sieht. Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist also keineswegs abwegig.

— — —

[1] Vor wenigen Tagen hatte die EZB ihren aktuellen Finanzstabilitätsbericht veröffentlicht, dessen Schwerpunkt auf der Beschreibung der Risiken durch die Corona-Krise für die Finanzstabilität in Europa liegt. Da wir hier aber die Wirkung des PSPP auf die Finanzstabilität untersuchen, erscheint uns der Bericht von November 2019 als besser geeignet.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert