Immunitätszertifikate (2)
Immunität und Gleichheit

In ihrem Beitrag „Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource“ untermauern Eichenberger/Hegselmann/Stadelmann ihren Vorschlag, vom COVID-19-Virus genesene Personen mit Immunitätszertifikaten auszustatten, die sie von rechtlichen Normen, die auf die Verhinderung der Verbreitung des Virus zielen, exemieren sollen. Der dahinter stehende Gedanke: da diese Menschen nach dem gegenwärtigen Stand der Medizin zumindest für einen bestimmten Zeitraum, dessen Dauer noch nicht geklärt ist, gegen das Virus immun sein dürften, und dieses auch nur eingeschränkt weiter verbreiten dürften, sollen diese Personen dazu beitragen können, den Wirtschaftskreislauf zu beleben und können insbesondere in Gesundheitsberufen tätig sein.

Eine Bedrohung der Gleichheit?

Zu diesem Vorschlag soll aus rechtlicher Sicht Stellung genommen werden: Das Immunitätszertifikat privilegiert die Gruppe der Immunen gegenüber der (größeren) Gruppe der Nicht-Immunen, besonders in einer potentiell durchaus greifbaren Situation, in der die Beschränkungen der Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger wieder verschärft werden müssen. Widerspricht diese Forderung nicht dem zentralen Prinzip der Gleichheit der Menschen (Art. 3 Grundgesetz oder Art. 7 österreichische Bundesverfassung?

Gleichheit bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich behandelt werden müssen, sondern vielmehr: Nur gleiche Sachverhalte sind rechtlich gleich zu behandeln, ungleiche eben ungleich. Was ergibt sich daraus im Hinblick auf die Regulierungen der COVID-19-Gesetz- und Verordnungsgebung? Diese Beschränkungen griffen und greifen massiv in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen ein. Diese Eingriffe sind aber nur gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig sind.

Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich

Um die Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ist eine Interessenabwägung erforderlich: Auf der einen Seite stehen die Interessen an einer ungehinderten Teilnahme am Erwerbsleben, an der Mobilität und dem Recht, sich im Rahmen der Gesetze so zu verhalten, wie es beliebt. Diese Interessen werden durch das öffentliche Interesse ergänzt, eine freie Entfaltung der Wirtschaft zu ermöglichen, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise zu begegnen. Auf der anderen Seite ist das Recht der Menschen auf Leben, vor allem älterer und gesundheitlich beeinträchtigter Personen, zu gewichten sowie das öffentliche Interesse, eine Überforderung des Gesundheitssystems, das eine besonders große Zahl von Kranken nicht bewältigen könnte, zu verhindern.

Jeder Staat auf der Welt war angesichts der Pandemie gezwungen, diese Interessenabwägung vorzunehmen. Sie wurde nicht überall gleich vorgenommen, es herrschten auch nicht überall gleiche Verhältnisse. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt, sondern, dass die Macht der Regierung (und in den meisten Fällen handelte es sich um eine Art der Regierungsgesetzgebung, auch wenn sie verfassungskonform durch die Parlamente erfolgte) geliehen ist: Einschränkungen sind nur solange und soweit zulässig, als die Bekämpfung der Pandemie diese erfordert. Erlaubt die konkrete Situation ein Zurückfahren der Beschränkungen, dann ist eine solche vorzunehmen. Für Freiheit zu sorgen ist kein großzügiges Ermessen der Regierung, sondern eine Verpflichtung.

Für Personen, deren Immunität für einen bestimmten Zeitraum anzunehmen ist, bedeuten die Beschränkungen nun aber Folgendes: Sie werden zu ihrem Nachteil (und zum Nachteil des öffentlichen Interesses) gleich behandelt wie der Rest der Bevölkerung, obwohl feststeht, dass die Beschränkungen ihnen gegenüber wirkungslos sind, weil sie selbst (noch) nicht wieder krank werden können. Sie werden rechtlich gleichbehandelt, obwohl sie ungleich behandelt werden müssten. Dass diese Ausführungen nur soweit gelten, als die Medizin keine gewichtigen Einwände gegen die Prämissen der Immunität erhebt, sei hier zur Sicherheit nochmals bekräftigt.

Einwände

Daraus folgt nun aber noch nicht zwangsläufig, dass diese Gleichbehandlung von Ungleichem unsachlich und damit unverhältnismäßig ist. Vollzugsprobleme, wie beispielsweise, dass Immune von Nicht-Immunen äußerlich nicht zu unterscheiden sind, könnten ein Argument sein, von einer Differenzierung Abstand zu nehmen. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Immunen mit einem amtlich anerkannten Ausweis (=Zertifikat), das sie mit sich führen, ihre Immunität belegen können. Dann ist es für die Exekutivorgane, welche die entsprechenden Vorschriften kontrollieren, kein großes administratives Problem, diese rechtlich notwendige Unterscheidung zu treffen.

Mit anderen Worten: Gibt es ein praktikables und vertrauenswürdiges Instrumentarium, das es ermöglicht, Immune von Nicht-Immunen zu unterscheiden, und ergibt eine medizinische Abwägung, dass das Risiko, das von Immunen ausgeht, im Verhältnis zu dem von Nicht-Immunen gering ist, ist es verfassungsrechtlich nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, Immunen Tätigkeiten zu erlauben, die Nicht-Immunen im Interesse der Verhinderung der Verbreitung des Virus untersagt werden.

Allerdings kommen weiterer Einwände ins Spiel: Könnte die Aussicht auf Privilegierung nicht vor allem junge Menschen zu einem bewussten Spiel mit der Ansteckung verleiten, im Wissen, dass sie die Krankheit voraussichtlich unbeschadet überstehen werden und dann wieder voll am Erwerbs- und gesellschaftlichen Leben teilnehmen können? Und belohnt das Immunitätszertifikat nicht solche, die zumindest nachlässig mit den Corona-Regeln umgegangen sind, weil sie sich sonst nicht angesteckt hätten?

Das sind ernsthafte Einwände, welchen ernsthaft begegnet werden muss: Natürlich ist es denkbar, dass das Immunitätszertifikat zu moral hazard verleitet, ebenso wie es die „Falschen“ belohnt. Genauso ist es aber auch denkbar, dass die Erkrankung auf keinem vorwerfbaren Verhalten beruht, ja möglicherweise sogar durch nachlässiges Verhalten staatlicher Akteure verursacht wurde. Weshalb diese Menschen zusätzlich bestrafen und weshalb den Menschen von vornherein unterstellen, sie würden sich unredlich verhalten?

Sorgsame Abwägung

Diese Argumente sind sorgsam abzuwägen. In jedem Fall ist aber der Einwand zurückzuweisen, Immunitätszertifikate stellten eine Bedrohung der Gleichheit dar. Im Gegenteil: Sie schaffen durch Differenzierung erst Gleichheit, weil sie unterschiedliche Sachverhalte eben nicht gleich, sondern ungleich regeln. Solche Differenzierungen begegnen uns übrigens in der Rechtsordnung geradezu massenhaft, ohne auf Empörung zu stoßen: Dass diverse Verkehrsbeschränkungen in Großstädten oder auf Autobahnen nur für mit fossilen Brennstoffen betriebene Fahrzeuge, nicht aber für E-Autos gelten, ist sachlich begründbar und wird von niemandem in Frage gestellt (obwohl auch E-Autos im Ergebnis nicht emissionsfrei sind, aber das steht auf einem anderen Blatt). Dass Personen, die an einer ansteckenden Krankheit leiden, unter Quarantäne gestellt werden (und der Rest der Menschheit eben nicht), das war auch bisher unbestrittenes Recht.

Und zuletzt: Das Argument, wenn es vielen schlecht geht, soll es allen schlecht gehen, ist ideologischer, nicht rechtlicher Natur.

Blog-Beiträge der Serie „Immunitätszertifikate“:

Zertifizierte Corona-Immunität als Ressource

Peter Bußjäger
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6 Antworten auf „Immunitätszertifikate (2)
Immunität und Gleichheit“

  1. Verhältnismäßigkeitsprüfung bei den Grundrechten – Die Rolle der Ökonomik

    Moderne ökonomische Analyse zeichnet sich durch ihre Analysemethode aus. Der methodische Individualismus ist dabei zentral: Dies ist „eine wissenschaftliche Position, nach der alle gesellschaftlichen Phänomene auf das Verhalten der Individuen zurückgeführt werden müssen“ (M. Kolmar: Grundlagen der Mikroökonomik, Wiesbaden 2017, S. 8). Dieser Ansatz hat sich als sehr hilfreich erwiesen, Kausalzusammenhänge zu erklären und bedingte Zukunftsprognosen zu machen. „Ökonomik als eine Sozialwissenschaft“ hat den unmittelbaren Zweck, „ein bessere Verständnis der Funktionslogik gesellschaftliche Prozesse zu entwickeln“ (Kolmar, S. 12). Worum geht es letztlich? „Erklärung zwecks Gestaltung“ ist als „Zielsetzung der Ökonomik“ (K. Homann/A. Suchanek: Ökonomik, Tübingen 2000, S. 27) anzusehen.

    Grundrechtsprüfung ökonomisch genügend fundieren

    Warum hier dieser Hintergrund? Weil der obige interessante Beitrag zu Recht auf die Notwendigkeit sorgsamer Abwägungen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Grundrechten verweist und dazu wichtige Argumente liefert. Der Standpunkt ist auch deshalb bedeutsam, weil er den Dialog und die Kooperation zwischen Juristen und Ökonomen fördert. Dies ist besonders relevant, um eine möglichst rationale Wirtschafts(ordnungs)politik in der Praxis juristisch sachgerecht umzusetzen.

    Der Dialog an dieser Schnittstelle muss unbedingt fortgesetzt werden, da beide Disziplinen daraus lernen können und durch die reflektierte Zusammenarbeit bessere Ergebnisse für die Gesellschaft zu erwarten sind. Sehr hilfreich hierfür ist ebenfalls ein Blick in das hervorragende interdisziplinäre Lehrbuch hierzu „Ökonomische Methoden im Recht“ (E.V. Towfigh/N. Petersen, 2. Aufl., Tübingen 2017, S. 17). Dort heißt es: „Der Kern jeder Grundrechtsprüfung ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, bei der konkurrierende normative Ziele gegeneinander abgewogen werden müssen. Bei dieser Abwägung vermischen sich faktisch und normative Elemente der Auslegung miteinander, so dass der sozialwissenschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung in diesem Bereich ein besonderes Gewicht zukommt.“ Zentral ist hierbei die Erkenntnis, dass am Ende „eine normative Abwägung [steht], deren Ergebnis durch die ökonomische Analyse nicht determiniert ist. Die ökonomische Analyse liefert dabei jedoch die notwendige Tatsachengrundlage, aufgrund derer eine informierte Abwägung überhaupt erst vorgenommen werden kann“ (E.V. Towfigh/N. Petersen, S. 13).

    Es stellt sich die Frage, ob trotz der berechtigten Würdigung einiger wichtiger ökonomische Aspekte („moral hazard“, „Belohnung der Falschen“) in dem juristischen Beitrag von Professor Bußjäger nicht dennoch zentrale weitere ökonomische Aspekte zu kurz kommen. Denn diesbezüglich diskutierte weitere Marktmängelargumente, wie sie jüngst diskutiert worden sind, werden bedauerlicherweise nicht aufgegriffen (vgl. etwa zu negativen [technologischen] externen Effekten von Corona: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=27491#more-27491; vgl. auch den Link unten) – möglicherweise aus Platzgründen in einem ja bewusst kurz gehaltenem Standpunkt.

    Dilemmastrukturen und experimentelle Verhaltensökonomik

    Darüber hinaus werden die im Text vorgebrachten ökonomischen Argumente im Aufsatz wieder als letztlich nicht entscheidend bzw. ausschlaggebend eingeordnet, weil der Autor implizit eine „Entscheidungstheorie“ (vgl. Kolmar, S. 8) für menschliches Verhalten zugrunde legt, welche aus einer strikt ökonomischen Perspektive als überoptimistisch anzusehen ist. Dies gilt zumindest dann, wenn es um die Ausgestaltung grundlegend anreizförderlicher Rahmenbedingungen geht, mit der gesellschaftlich bestmögliche Ergebnisse erzielt werden sollen.

    Auf die Frage des Autors – „weshalb den Menschen von vornherein unterstellen, sie würden sich unredlich verhalten? – antworten viele Ökonomen regelmäßig: Weil sich die Logik vieler menschlicher Interaktionen als „Dilemmastruktur“ beschreiben lässt, also als „Situation, in der Interessenkonflikte die Realisierung der gemeinsamen Interessen verhindern.“ (Homann/Suchanek, S. 35). Weiter heißt es bei den beiden Vertretern dieser ökonomischen Denkschule: „Diese Grundstruktur ist konstitutiv für die Ökonomik, weil es ihre Problemstellung auf den systematischen Kern reduziert“ (S. 36). Das Ziel derartiger theoretischer Ansätze sind immer Mustervorhersagen (vgl. Kolmar, S. 1), welche die Wirklichkeit nicht Eins zu Eins abbilden. In der Realität sind zumindest zunächst durch internalisierte gesellschaftliche Normen, soziale Kontrolle und durch (informelle) Sanktionierung von regelverletzenden Trittbrettfahrern tendenziell bessere Ergebnisse zu erwarten. Auf der Basis experimenteller Forschung ist jedoch zu bedenken: Es gibt „in der Regel … eine Minderheit von vielleicht 20 bis 30 Prozent, die rein egoistisch orientiert ist. Das Problem dabei ist, dass die Kooperationsbereitschaft der Vernünftigen abnimmt, je öfter sie sehen, dass sich andere darüber hinwegsetzen.“
    (https://www.nzz.ch/meinung/freiheit-mit-corona-verantwortung-auch-fuer-die-anderen-ld.1564540?reduced=true).

    Kurzes Fazit

    Zu viel Optimismus zum Verhalten der Menschen erscheint folglich aus der Perspektive zumindest der Dilemmastruktur-Ökonomik und vorhandener experimenteller verhaltensökonomischer Befunde nicht angebracht. Denn systematisch hat nach der ökonomischen Logik der Dilemmastruktur derjenige, der sich an die Regeln bzw. Normen hält, Nachteile im Vergleich zu den sich eher rücksichtslos bzw. völlig sorglos verhaltenden Akteuren, wenn bei Regelabweichungen nicht ausreichend mit formellen oder informellen Sanktionen zu rechnen ist. Zumindest wäre es wohl präventiv sinnvoll, dass Menschen, welche sich nachweislich unter Inkaufnahme der Gefährdung anderer Mitmenschen (etwa durch nachhaltige Missachtung geltender Abstandsregeln) bewusst infiziert haben, nicht im Gegenzug dafür auch noch Immunitätszertifikaten erhalten sollten, um per Saldo gesellschaftsschädliche Folgewirkungen möglichst zu vermeiden.

  2. Warum dann noch Sanktionen gegen Verkehrsverstöße?

    Die FDP kommt bekanntlich schlecht durch die Corona-Krise. Dies zeigen repräsentative Umfragen der letzten Monate, welche die Bundespartei bei Wahlen am kommenden Sonntag bei nur knapp über oder sogar unter 5 Prozent sehen. Warum das so ist, dürfte nicht zuletzt in einer unausgegorenen Positionierung zur Bekämpfung der Ausbreitung des Corona-Virus liegen, welche wenig Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden scheint. Dies dürfte in erster Linie an der offensichtlichen Inkonsistenz der Position liegen, welche oft rechtlich formale Freiheitsrechte der Verfassung in den Vordergrund rückt, dabei aber ökonomische Argumente zu externen Effekten allzu gern vernachlässigt oder allenfalls teilweise berücksichtigt, wie gerade wieder geschehen.

    So warnte am 24. Juli 2020 der Bundestagsabgeordnete und Gesundheitsexperte der FDP-Bundestagsfraktion, Medizinprofessor Dr. Andrew Ullmann, zwar ökonomisch völlig berechtigt vor einem Abschied vom Prinzip der Eigenverantwortlichkeit bei Urlaubsreisen in Corona-Risikogebiete, wenn Teile der Politik die dadurch entstehenden Zusatzkosten aufgrund erforderlicher Tests zum Gesundheitsschutz der Urlauber selbst und von unbeteiligten Dritten vergemeinschaften möchten, statt sie ursachengerecht den freiwillig sich höheren Risiken als hierzulande aussetzenden Urlaubern anzulasten.

    Fast in einem Atemzug verrät er aber bedauerlicherweise ebenfalls den berechtigten Gedanken der verursachergerechten Zuordnung von Lasten durch negative externe Effekte, wenn er behauptet: „Das Letzte, was wir brauchen in diesem Land, ist eine Gesundheitspolizei, die alles kontrollieren kann“ (https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/morgenmagazin/videos/plaettner-und-ullmann-zu-reiserueckkehrern-100.html).

    Sanktionsinstanzen sind notwendig für gutes Zusammenleben

    In der deutlich überspitzten Formulierung trifft dies zwar zu, da offensichtlich nicht hinter jede Person ein Gesundheitspolizist gestellt werden soll. Allerdings ist diese pauschale Argumentation sehr wahrscheinlich kontraproduktiv, da sie ja mit großer Sicherheit gerade von den eher sorglos Agierenden falsch verstanden werden wird. Richtig ist hingegen: Ohne Sanktionsinstanz und ohne angemessene Wahrscheinlichkeit für eine Aufdeckung von sozial (bzw. für andere Personen gesundheitsschädlichem) Verhalten wäre unter realistischen Bedingungen am Ende keinem gedient – außer womöglich denen, die Schäden für unbeteiligte Dritte billigend in Kauf nehmen, um ihre Freiheitsrechte als Trittbrettfahrer(innen) unbewusst oder sogar bewusst gemeinwohlschädlich ausleben zu können. (Aber auch diese Personen könnten im Nachhinein durch Gewissensbisse geplagt sein, wenn andere durch ihr Verhalten und daraus resultierenden Ansteckungen bleibende Schäden zu tragen hätten oder sogar Schlimmeres passiert.)

    Beim Straßenverkehr ergeben sich durchaus Problemlagen mit hoher Analogie zu denen bei einer Epidemie. Dennoch käme wohl keiner auf die Idee, die Straßenverkehrsordnung oder die Verkehrspolizei abzuschaffen. Deutschland hat daneben bekanntlich auch eine die individuelle Freiheit beschränkende Gurtpflicht im Auto eingeführt (gegen die sich aufgrund der per Saldo lebensrettenden Folgen heute praktisch keiner mehr wirklich eingeschränkt fühlt), weil dies insgesamt eindeutig gesellschaftlich zu besseren Ergebnissen führt. Die Polizei hat auch hier Ahndungsmöglichkeiten bei Fehlverhalten, was insgesamt hohe Akzeptanz in der Bevölkerung besitzt.

    Zwar lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Auslegung von gesellschaftlichen Werten sowie manchmal auftretendem wissenschaftlichem Streit um die Auslegung von empirischen Befunden über die genaue Ausgestaltung der einzelnen Regeln und dem Ausmaß von Sanktionen bei Verstößen trefflich streiten, da Verhältnismäßigkeit beim staatlichen Einsatz von Mitteln und die Berücksichtigung verschiedener Rechte zu wahren ist, die teilweise in Konflikte miteinander stehen. Aber die grundsätzliche Notwendigkeit der Straßenverkehrsordnung und der Sanktionierung von fahrlässigen oder mutwilligen Verstößen dagegen wird allgemein anerkannt.

    Es stellt sich daher die Frage: Wieso sollten (massive) Verstöße gegen erlassene Corona-Regeln vor diesem Hintergrund faktisch nicht geahndet werden, indem die dafür erforderliche Ordnungsinstanz grundsätzlich infrage gestellt wird? Damit ist ohne Frage keine Forderung nach umfassender freiheitsschädlicher polizeilicher Überwachung verbunden. Auch sollen – um Missverständnisse zu vermeiden – freiwillige gesundheitsgefährdende Handlungen von Menschen, die ausschließlich Auswirkungen auf sie selbst haben, nicht durch Staatseingriffe unterbunden werden, soweit sie auf freiwilliger Selbstselektion beruhen (und keine unerwünschten Effekte auf andere haben, die dies nicht ausdrücklich akzeptieren).

    Soll der regelkonform handelnde Mensch der Dumme sein?

    Aber allein auf der Basis von Eigenverantwortung und ohne die Möglichkeit der Sanktionierung von klarem Fehlverhalten durch staatliche Instanzen funktionieren moderne komplexe Gesellschaften regelmäßig nicht. Aktuelle Länder vergleichende Studien zur Ausbreitung des Coronavirus haben zwar herausgefunden: „Ob der Einzelne die Regeln befolgt, hängt vom eigenen Sozialkapital ab“ (https://www.zew.de/presse/pressearchiv/sozial-verantwortliches-verhalten-kann-die-ausbreitung-des-corona-virus-verlangsamen).
    Aber welche Lehren sind aus diesem Befund zu ziehen? Doch nicht die eines völligen Verzichts auf Sanktionierung durch eine dafür legitimierte Ordnungsinstanz nach dem Motto: Der (oder die) mit höherem Sozialkapital ist der (oder die) Dumme, weil andere ihre Freiheiten mit angelegten Scheuklappen beliebig oder zumindest unbedacht ausleben möchten.

    Gefahren eines falsch verstandenen Liberalismus

    Die FDP untergräbt durch die Missachtung der Lehren aus der Ökonomik, wie sie in meiner Reaktion oben schon dargelegt worden sind, ihre Glaubwürdigkeit. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, wenn die Jungorganisation der FDP-Spitze Populismus vorwirft
    (https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kritik-an-fraktionschef-ruelke-julis-werfen-der-fdp-spitze-populismus-vor.f5acadb2-c597-47fe-aaf3-04a26971589f.html?reduced=true).

    Es wäre sehr einfach, konsistent liberal zu argumentieren, wenn man sich einen simplen Sachverhalt verdeutlichen würde, worauf in der Debatte ja bereits mehrfach auch in diesem Blog verwiesen worden ist (vgl. z.B. hier: http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=27491). Der ehemalige Bonner Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern hat die bedauerlicherweise auch von Teilen der FDP trotz vorhandener und leicht zugänglicher Informationsmöglichkeiten scheinbar dauerhaft missverstandene aktuelle Problemlage trefflich beschrieben, wenn er im Vorspann eine Beitrags in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von „Grenzen der Eigenverantwortung“ spricht und betont: „Ohne Staatseingriffe würden in der Pandemie viel mehr Menschen sterben“. Professor Dr. Martin Hellwig fährt in dieser für Juristen generell und besonders für führende FDP-Politiker sehr empfehlenswerten ökonomischen Lektüre fort: „Ethische Appelle können für eine gewisse Rücksichtnahme sorgen. Aber Eigenverantwortung ist als Regulativ für die Gefährdung anderer in der Pandemie noch weniger geeignet als im Straßenverkehr. Viele Ansteckungen erfolgen, bevor der Infizierer weiß, dass er den Infekt hat. Und der Infizierer dürfte kaum wahrnehmen, dass seine potenziellen „Opfer“ wieder andere Personen infizieren können“ (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/die-grenzen-der-eigenverantwortung-in-der-corona-pandemie-16769693.html#void).

    Die offizielle Sommerpause ermöglicht den verantwortungsbewussten Menschen in diesem Land genügend Muße, sich diese wichtigen Zusammenhänge noch einmal zu verdeutlichen, damit es nicht vielleicht zu einem „bösen Erwachen“ aufgrund von zu viel Sorglosigkeit – vor allem eines gar nicht so großen Teils der Menschen – und doch noch zum Verspielen der bisherigen Erfolge bei der Bekämpfung der Pandemie in Deutschland kommt.

  3. Die wissenschaftlich kontroverse Debatte geht weiter

    Wer noch einmal den aktuellen Stand des weiterhin kontroversen „Für und Wider“ zu Immunitätsbescheinigungen sehr fundiert nachvollziehen will, dem sei die aktuelle Stellungnahme des Ethikrates empfohlen. In der Pressemitteilung (https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/deutscher-ethikrat-raet-derzeit-von-covid-19-immunitaetsbescheinigungen-ab/) heißt es u.a.:

    „Der Deutsche Ethikrat lehnt die Einführung solcher Bescheinigungen gegenwärtig einstimmig ab. Für den Fall, dass Immunität künftig hinreichend verlässlich nachweisbar werden sollte, herrschen im Rat unterschiedliche Auffassungen dazu, ob und – wenn ja – unter welchen Bedingungen die Einführung von Immunitätsbescheinigungen zu empfehlen wäre.“

    Einigkeit besteht aber unter anderem in dem Punkt, dass die Aufklärung zum Thema noch weiter verbessert werden soll:

    „Ungeachtet dieser unterschiedlichen Positionierungen spricht sich der Ethikrat (…) dafür aus, die Bevölkerung umfassend über einen gemeinwohlorientierten Infektionsschutz aufzuklären und über die Aussagekraft von Antikörpertests zu informieren.“

  4. Klare Positionierung der Nationalakademie Leopoldina zu Bußgeldern bei Missachtung wichtiger staatlicher Hygienevorschriften in der Pandemie

    Auch wenn in der Politik sehr überspitzt vor einer „Gesundheitspolizei, die alles kontrollieren kann” (siehe Zitat in „Warum dann noch Sanktionen gegen Verkehrsverstöße?“ oben), gewarnt worden ist, obwohl ja niemand solche weit gehenden Forderungen in unserer konstitutionellen Demokratie während der Corona-Krise je gestellt hat, so hat sich einiges seit diesem Zitat vom 24. Juli 2020 geändert. Dies zeigen vor allem die in den meisten Bundesländern mit Bußgeldern belegten Verstöße bei der Nichteinhaltung von Mund-Nasenschutz-Pflichten.

    Auch Forscher der Nationalakademie Leopoldina plädieren in ihrer 6. Ad-hoc-Stellungnahme vom 23. September 2020 dafür, „die Hygieneregeln notfalls mit Bußgeldern durchzusetzen“ (https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/leopoldina-fordert-haertere-umsetzung-der-corona-regeln-a-1734fcf7-1a21-4065-b729-d44fb59fd1c1). Im Text (https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_09_23_Leopoldina_Stellungnahme_Corona_Herbst.pdf) heißt es:

    „Eine aktuelle Studie zeigt, dass im Falle einer bloßen Empfehlung nur 77 % der Befragten, dagegen im Fall einer verbindlichen Pflicht 97 % bereit wären, eine Maske zu tragen.(Bedingt) vorsätzliche oder fahrlässige Infektionen Anderer zu vermeiden entspricht einer Rechtspflicht: dem Verbot der Verletzung Dritter, und nicht nur, wie in der öffentlichen Debatte häufig behauptet, einem moralischen Gebot zur Solidarität mit anderen.“ Die dort zitierte Studie findet sich hier: https://psyarxiv.com/ac2q4/.

    Die hieraus gezogene Schlussfolgerung der Wissenschaftler(innen) ist eindeutig: „Die Missachtung verbindlicher Anordnungen zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ist überall mit einem Bußgeld zu belegen, um solchen Anordnungen den gebotenen Nachdruck zu sichern.“

  5. FAZ-Journalist: „Grundübel der Pandemie-Bekämpfung“

    Deutliche Worte findet der verantwortliche innenpolitische Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jasper von Altenbockum, angesichts des verbreiteten Trittbrettfahrerverhaltens in Teilen der Bevölkerung in Deutschland: „Es findet immer noch jede Minderheit, jede Gruppe, jeder Einzelne einen triftigen Grund, warum gerade für ihn oder sie eine Beschränkung ungerecht, unzumutbar, unverhältnismäßig, illegal und deshalb inakzeptabel ist.“

    Folgerichtig positioniert er sich eindeutig zur Frage der Zumutbarkeit der meisten – angesichts steigender Infektionszahlen wieder verschärften – staatlichen Eingriffe in die Freiheiten der Menschen: Anders als offensichtlich manche Diskutanten in der kontroversen derzeitigen Debatte sieht er diese staatlichen Eingriffe aktuell keineswegs als „unmenschliche Eingriffe in existentielle Gewohnheiten“ an. Vielmehr verdeutlicht der FAZ-Journalist eine wichtige Intention der staatlichen Eingriffe: Ein „Wirrwarr zu verhindern, ist der Sinn der Verbote“ (Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-ausbreitung-ist-abschottung-die-loesung-16992016.html#void).

    Einige vehemente Verfechter einer die Corona-Regeln missachtenden Ausübung individueller Freiheit trotz virulentem Virus und zunehmenden Covid-19-Erkrankungen bei steigender „Lässigkeit“ und Unachtsamkeit scheinen zu übersehen: Wird die Eindämmung des Virus nicht durch konsequente Maßnahmen jetzt erreicht, könnten massivere staatliche Beschränkungen der individuellen Freiheit bei deutlich zunehmender unkontrollierter Virusausbreitung wie in vielen Nachbarländern noch weniger erfreuliche wirtschaftliche und soziale Folgen in naher Zukunft mit sich bringen.

    Daher ist „disziplinierte Freiheit“ (Michael Hüther, Buchtitel von 2011) nicht nur in normalen Zeiten sowieso wichtig, um Freiheit und Wohlstand zu ermöglichen, sondern gerade während der Corona-Pandemie unabdingbar, um bald wieder nachhaltig bessere Zeiten erleben zu können.

  6. Offene Fragen

    Ob die FDP bei der Coronabekämpfung dem „Gemeinwohl“ nachhaltig dienen kann, indem sie aus einigen früheren Fehlern (weiter) lernt, muss sich noch zeigen. Sehr wahrscheinlich dürfte beim Wahlergebnis der Bundestagswahl die „liberale“ Positionierung hierbei eine große Rolle gespielt haben. (Manche Experten gehen wohl sogar von einem „libertären Selbstverständnis“ aus; vgl. etwa Jens Hacke: Freiheit in ökologischer Verantwortung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 12/2021, S. 75).

    Die aktuelle Lage wird massentauglich in Talkshows intensiv debattiert, wie etwa bei „Anne Will“ am 12. Dezember 2021. Eine weitgehend treffende Zusammenfassung findet sich etwa hier: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/anne-will-ard-karl-lauterbach-omikron-impfungen-corona-pandemie-tv-kritik-91175168.html .

    Ausgelassen wird allerdings bedauerlicherweise eine Kernaussage des CDU-Politiker Norbert Röttgen der Sendung, die hoffentlich die weitere Debatte noch beflügeln wird: „Wir haben uns von dem verengten Freiheitsbegriff der FDP verführen lassen“.

    Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert und jetzige Vorsitzende der der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung bezeichnete kürzlich die aktuelle FDP-Positionierung zu Corona als „vergaloppierte eigene Position“ (Interview „Die CDU kann in eine existenzbedrohende Lage kommen“, in Focus vom 11.12.2021, S. 44).

    Wie lässt sich das erklären? Das wird im Einzelnen erst die wissenschaftliche Auseinandersetzung der Sozialwissenschaftler und Historiker hiermit zeigen. Aber darüber nachdenken lässt sich schon in „Echtzeit“, wie es einige Philosophen speziell auch für die Corona-Diskussion überzeugend vorgeschlagen haben (vgl. etwa https://www.sueddeutsche.de/kultur/philosophie-corona-ueber-philosophie-in-echtzeit-nikil-mukerji-und-adriano-mannino-1.4904964).

    Vielleicht haben sich ja die FDP-Strategen bei ihrer Positionierung von dem so genannten „Overton-Fenster“ inspirieren lassen, ein ursprünglich in der „Public Choice“-Theorie wurzelndes Konzept (vgl. https://www.mackinac.org/7504). Kurz zusammenfassen lässt sich die Idee folgendermaßen:

    „Das sogenannte Fenster umfasst … nur … die einigermaßen populären Positionen links und rechts vom Status quo. Das, so Overton, ist der Bereich, in dem Politik gemacht wird. Weil Politiker nur die Sachen vertreten und umsetzen, die beliebt sind und ihnen Stimmen bringen. In Overtons Konzept muss sich also erst die öffentliche Meinung verschieben, bevor sich die Politik ändert.
    Das Entscheidende ist nun, wie sich dieses Fenster verschieben lässt. Es nützt nichts, so Overton, nur die schon akzeptierten Positionen zu vertreten. Man muss vielmehr ganz nach außen gehen, nach weit jenseits des Fensterrahmens, zu den undenkbaren und radikalen Positionen. Erst von dort entwickelt sich ein Sog, der stark genug ist, das ganze Fenster zu verschieben“ (wörtliches Zitat aus Lenz Jacobsen: Krasse Meinungen wehen uns mit voller Wucht ins Gesicht, verfügbar hier: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-07/overtone-fenster-diskussionen-debatten-diskurse-radikal/komplettansicht).

    Vielleicht hilft dieser Analyserahmen auch, die derzeitigen Polarisierungen etwa zum Impfen – nicht nur hierzulande – besser zu verstehen und warum diese auch infolge der politischen Umpositionierungen demokratischer Parteien während der Pandemie (mit-)verursacht worden sind oder zumindest sein könnten.

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