Am aktuellen Rand
Eine Rechnung und eine Frage
Eine mögliche Geschichte zur Risikoabwägung in Corona-Zeiten

Es war einmal ein Mann, der sich ständig über die neuesten Entwicklungen in der Corona-Pandemie informierte, soweit dies für einen Nicht-Mediziner aus öffentlich zugänglichen Quellen möglich war. Am 13.4.2021 las er dabei im Internet, dass die Behörden in den USA wegen sechs Thrombosefällen nach Impfungen mit dem Serum von Johnson & Johnson aus einem „Übermaß an Vorsicht“ (https://www.rnd.de/gesundheit/usa-johnson-johnson-impfstopp-wohl-nur-wenige-tage-YERCGR6LHCO7UYEPBHQLUWLWUM.html) einen Impfstopp empfohlen hatten und das Pharmaunternehmen daraufhin den Marktstart dieses Serums in Europa verschoben hatte. Nach ähnlichen Vorfällen bei AstraZeneca war dies bereits der zweite Impfstoff, der zeitweise oder für bestimmte Bevölkerungsgruppen aus der Anwendung genommen wurde.

Unser Mann bemühte sich nun festzustellen, wie schwer die Verläufe dieser (Sinusvenen)Thrombosen waren, was sich schnell als schwer zu erreichendes Ziel erwies. Immerhin schien klar, dass es zu (mindestens) einem Todesfall gekommen war. Da unser Mann durch diese Entwicklung länger auf seine Impfung warten musste, versuchte er sich einen Überblick zu verschaffen, wieviel mehr an Sicherheit ihm dieses „Übermaß an Vorsicht“ von Behörde und Produzent bringen würde. Ihn interessierte dabei vor allem das Todesfallrisiko und dazu überlegte er sich die folgende stark vereinfachte

Rechnung:

Die 7-Tage-Inzidenz schwankte zwar beträchtlich, doch musste man davon ausgehen, dass in den folgenden Wochen nicht so schnell Werte unter 100 Infektionen auftreten würden. Also konnte ein Ansatz von 100 Infizierten pro 100.000 Einwohner in einer Woche als überaus optimistisch angenommen werden. Für das interessierende Risiko ist nun entscheidend, wie viele Infizierte in der Folge versterben, und da lag die Letalitätsrate am 12.4.2021 in Deutschland bei 2,86% (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1103785/umfrage/mortalitaetsrate-des-coronavirus-nach-laendern/, abgerufen am 14.4.2021). Selbst wenn man verschiedenen Aspekten wie beispielsweise dem Tod „an oder mit Corona“ Rechnung tragen wollte, kam man wohl kaum unter 2,5%. Für die nächste Zeit hieß dies also, dass ein durchschnittlicher Deutscher unter eher optimistischen Annahmen damit rechnen konnte, pro Woche einer infektionsbedingten Sterbewahrscheinlichkeit von 0,0025% zu unterliegen. Hält man diesen Wert länger stabil beträgt die Überlebenswahrscheinlichkeit unter Ausblendung anderweitig möglicher Todesursachen nach n Wochen 0,999975n. Diesen Wert muss man von 1 abziehen, um die Sterbewahrscheinlichkeit nach einer potenziellen Infektion innerhalb von n Wochen zu erreichen, aber bei einer so kleinen Ausgangswahrscheinlichkeit kann man ohne großen Fehler auch einfach den Wochenwert mit der Zahl der Wochen multiplizieren;[1] bei drei Wochen ergibt sich dann beispielsweise 0,0075%. Das ist also – stark vereinfacht – sein infektionsbedingtes Todesfallrisiko, solange sich nichts Wesentliches ändert und er insbesondere nicht geimpft wird.

Bei den zwischenzeitlich eingestellten oder eingeschränkten Impfungen muss zweierlei bedacht werden: Zum einen das für die Einschränkungen ursächliche Todesfallrisiko durch Nebenwirkungen und zum anderen die Reduktion des Todesfallrisikos durch die Impfung. Für den ersten Aspekt hatte unser Mann in derselben Nachricht vom 13.4.2021 gelesen, dass in den USA 6,8 Millionen Dosen verimpft worden waren, was bei einem Todesfall eine relative Häufigkeit von 0,0000147% bedeutet. Hinsichtlich des zweiten Aspekts sind die öffentlich zugänglichen Angaben problematisch, denn man muss das interessierende Risiko, hier also das Todesfall- und nicht das Infektionsrisiko, beachten und unterstellen, dass sich die Befunde nicht durch das Auftreten neuer Mutanten verändern. Vorbehaltlich dessen konnte man zum Beispiel im Ärzteblatt vom 1.3.2021 lesen (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/121576/FDA-Zulassung-Was-den-Johnson-Johnson-Impfstoff-von-den-anderen-unterscheidet):

„Beim Impfstoff von Johnson & Johnson beträgt die Schutzwirkung gegen eine schwere oder lebensbedrohliche COVID-19 77 % und 85 % (ab den Tagen 14 und 28 nach der Impfung). COVID-19-bedingte Todesfälle sind nach der Impfung übrigens gar nicht aufgetreten (gegenüber 7 Todesfällen in der Placebogruppe).“

Nun wollte unser Mann aber die Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs durch die Infektion (nicht zu verwechseln mit der Nebenwirkung des Impfstoffs) nicht ausschließen und verwendete die Schutzwirkung gegen einen „schweren oder lebensbedrohlichen“ Verlauf. Also nahm er 80% als Parameter an, so dass sich nach der Impfung c.p. pro Woche eine verbleibende Sterbewahrscheinlichkeit von 0,0025% x (1-0,8) = 0,0005% ergibt. Da man nur einmal sterben kann, resultiert daraus nach n Wochen eine infektionsbedingte Sterbewahrscheinlichkeit von n x 0,005% + 0,0000147%. Nimmt man wieder n = 3, so erhält man für den Wert nach 3 Wochen mit potenzieller Infektion rund 0,0015%, also ein Fünftel dessen, was im Fall ohne Impfung drohte. Wie man sieht, spielt dabei das Todesfallrisiko durch die Nebenwirkung quantitativ keine nennenswerte Rolle – es geht letztlich nur um das durch die Infektion bedingte Risiko mit und ohne Impfung. Selbst wenn alle sechs Thrombosefälle tödlich geendet wären, würde die Gesamtwahrscheinlichkeit auf demselben Rundungsniveau 0,0016% betragen. Anders formuliert: Bei Ansatz einer Schutzwirkung der Impfung gegen das Todesfallrisiko nahe 100% anstatt wie bisher 80%, steigt die Vervielfachung des Gesamtrisikos durch einen Impfaufschub in gigantische Höhen praktisch unabhängig davon, wie viele Wochen er währt.

Unser Mann dachte nach. Wenn sich durch diese Aufschübe aus einem „Übermaß an Vorsicht“ seine Impfung verzögerte, wäre sein Todesfallrisiko also fast fünf Mal so hoch wie bei einer sofortigen Impfung, wobei noch unterstellt war, dass die Thrombosen tatsächlich durch die Impfung bedingt und keine statistischen Zufallsbefunde waren. Nun ja, vielleicht würde er ja dann einen besseren Impfstoff bekommen, aber da bliebe wenig Spielraum, wenn man die eigentliche Schutzwirkung aus dem obigen Zitat unterstellen würde. Nun mochten die Relationen sich noch ein wenig verändern, wenn zusätzliche Parameter ins Spiel kämen oder die Evaluierung auf der Basis der AstraZeneca-Verhältnisse erfolgte, aber dass die Vorteilhaftigkeit von Impfen gegenüber Warten kippen würde, erschien extrem unplausibel.

Da unser Mann ein begeisterter Leser von „Wirtschaftliche Freiheit“ war, hatte er natürlich auch die bisherigen Beiträge zu diesem Thema gelesen, insbesondere http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=28859#more-28859. Nach seiner Rechnung konnte er noch weniger verstehen, warum man es den Menschen nicht überlässt, ob sie mit dem in Frage stehenden Serum geimpft werden wollen, und blieb zurück mit der

Frage:

Um die Entscheidung eines erzwungenen Impfaufschubs zu rechtfertigen, muss ein Leben mit und ohne Impfung offensichtlich unterschiedlich viel wert sein – warum eigentlich?

P.S. Am 14.4.2021 hat die EMA eine Risikoanalyse für den Impfstoff von AstraZeneca angekündigt, aber die Zulassung einstweilen weiter aufrechterhalten. Die Vorteile des Schutzes vor Covid-19 seien höher zu bewerten als die möglichen Risiken (https://www.handelsblatt.com/dpa/wirtschaft-handel-und-finanzen-ema-macht-risiko-analyse-zu-astrazenca-impfstoff/27096090.html?ticket=ST-2224984-2u4mWtl6u7Itpooe2uoK-ap5). „Immerhin!“, dachte sich unser Mann, „Schauen wir einmal, wie das weitergeht!“

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[1] Dabei ist klar, dass wegen der Inkubationszeit und dem weiteren Krankheitsverlauf der Tod erst später eintritt, aber das spielt für die vorliegende Rechnung keine Rolle.

2 Antworten auf „Am aktuellen Rand
Eine Rechnung und eine Frage
Eine mögliche Geschichte zur Risikoabwägung in Corona-Zeiten

  1. Eine belastbare und ebenso passgenaue Analytik zur Entscheidungshoheit, höchstpersönlicher Bürgerlicher Freiheitsrechte zur Unversehrtheit.

  2. P.P.S. Bis zum Ende des 23.4.2021 sind viele der zwischenzeitlichen Einschränkungen für zugelassene Vektorimpfstoffe gefallen – das “Übermaß an Vorsicht” in den USA ist Geschichte. In Europa hat die EMA sogar das bislang am meisten unter publizitätsträchtigen Problemen leidende Vakzin von AstraZeneca entgegen der Regelung in Deutschland auch zur Zweitimpfung empfohlen. „Mal sehen, ob jetzt mehr Menschen einsehen, dass es immer um die Alternative mit dem geringsten Risiko geht“, sagte unser Mann zu sich, “ die Hoffnung stirbt eben auch hier zuletzt!“

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