Die Inflationsmessung in der EU mittels des harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) hat Schwächen (Schnabl und Sepp 2021). Die Qualitätsanpassung der Preise scheint einseitig auf Qualitätsverbesserungen und damit Preissenkungen in der Statistik ausgerichtet. Die Gewichte von einzelnen Gütern scheinen im Zeitverlauf zugunsten von Gütern mit geringen Preissteigerungen zu wachsen. Die Preise von Vermögenswerten und sogar von selbst genutztem Wohneigentum werden bei der Inflationsmessung ausgeklammert.
Die EZB (2021a) hat in ihrer jüngsten Überprüfung der geldpolitischen Strategie auf den letzten Kritikpunkt reagiert und angemerkt, dass „der HVPI die für private Haushalte relevante Inflationsrate besser abbilden würde, wenn die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum einfließen würden.“ Aus Sicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung würde dadurch die Glaubwürdigkeit der EZB gestärkt (Dany-Knedlik und Papadia 2021).
Das selbst genutzte Wohneigentum ist für die Inflationsmessung im Euroraum aus drei Gründen wichtig. Erstens findet das selbst genutzte Wohneigentum in vielen anderen Ländern Eingang in die Messung der Konsumentenpreise wie beispielsweise in den USA, Japan und der Schweiz, aber nicht im Euroraum.[1] Zweitens reduziert sich auf diese Weise das Gewicht des Gutes „Wohnen“ im HVPI beträchtlich, sodass die Ausgabenstruktur der Haushalte nicht realistisch abgebildet wird.[2] Drittens sind in vielen Euroländern einschließlich Deutschland die Immobilienpreise sehr viel schneller gestiegen als die Mieten, die im HVPI hauptsächlich das Gut Wohnen repräsentieren und im Gegensatz zu Immobilienpreisen meist reguliert sind. [3]
Damit wurden – wie selbst ein Vertreter der EZB anerkannt hat (Mersch 2020) – spätestens mit dem Einsetzen der quantitativen Lockerung im Jahr 2015 die offiziellen Inflationsraten im Euroraum unterschätzt. Die Geldpolitik der EZB wurde damit womöglich zu expansiv gestaltet und der Preisauftrieb auf den Immobilienmärkten des Euroraums von der EZB begünstigt. Die EZB (2021b) hat wohl deshalb im Zuge ihrer jüngsten Strategieüberprüfung vorgeschlagen, das eigengenutzte Wohnen auf der Grundlage des Index für selbst genutztes Wohneigentum von Eurostat (Owner-Occupied Housing Price Index, OOHPI) bei der Inflationsmessung zu integrieren.
Die EZB (2021b) hat allerdings auch kritisiert, dass der Index für selbst genutztes Wohneigentum von Eurostat nur auf Quartalsbasis und mit erheblicher Verzögerung verfügbar ist, während der HVPI jeden Monat erstellt wird.[4] Zudem vertreten die Europäische Kommission und EZB die Ansicht, dass beim Erwerb von Wohneigentum nicht nur der Konsum, sondern auch das Investieren ein Motiv ist.[5] Die Integration des OOHPI würde aus dieser Sicht Vermögenselemente in den HVPI einbringen und würde damit den rechtlichen Vorgaben widersprechen, die den HVPI nur auf den Konsum ausrichten. Da der Rechtsrahmen und die statistischen Methoden des OOHPI und HVPI erst überarbeitet werden müssten, sei eine Berücksichtigung des selbst genutzten Wohneigentums bei der Inflationsmessung im Rahmen des HVPI nicht vor 2026 denkbar (EZB 2021b).
Gleichzeitig suggeriert die EZB aber, dass der Owner-Occupied Housing Price Index von Eurostat grundsätzlich ein geeignetes Maß für die Preisveränderungen von selbst genutztem Wohneigentum ist. Das ist jedoch zumindest für Deutschland aus folgendem Grund fraglich. Nach Eurostat (2021) enthält der Index für selbst genutztes Wohneigentum die Ausgaben für neuen Wohnraum (einschließlich Nebenkosten des Erwerbs wie Grunderwerbssteuer, Notar und Makler) und die Kosten von Eigentümern für größere Reparaturen. Die größte Unterkategorie für den deutschen OOHPI ist mit einem Gewicht von 70,5% „selbstgebauter Wohnraum und größere Renovierungen“.
Das hohe Gewicht liegt unter anderem daran, dass von Bauträgern für Haushalte errichtete Gebäude und Wohnungen als selbstgebauter Wohnraum betrachtet werden (Eurostat 2017: 18) und Verkäufe von bestehenden Immobilien von Haushalt zu Haushalt im HVPI (wie alle Transaktionen innerhalb des Privatsektors) unberücksichtigt bleiben. Als wichtigste Maßgröße für selbstgebauten Wohnraum und größere Renovierungen werden die Bauleistungspreise herangezogen (Brunßen und Diehl-Wolf 2018: 70-71).
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Im Ergebnis korreliert für Deutschland der Index für selbst genutztes Wohneigentum (OOHPI) stark mit den Baupreisen von Wohngebäuden (Abb. 1). Die Veränderungsraten des Index für selbst genutztes Wohneigentum von Eurostat liegen zwar über den Mieten, aber auch deutlich unter den Veränderungsraten der Preise für Wohnimmobilien, einschließlich des Index für selbst genutztes Wohneigentum des Verbands deutscher Pfandbriefbanken (Abb. 2).
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Daraus ergeben sich vier Schlussfolgerungen. Erstens werden die erheblichen Verzerrungen bei der Inflationsmessung, die sich durch die Vernachlässigung von selbst genutztem Wohneigentum ergeben, durch den Vorschlag der EZB viel zu spät und nur sehr bedingt geheilt. Zweitens sind Schlussfolgerungen der EZB, dass in der Vergangenheit bei Berücksichtigung der Preisentwicklung von selbst genutztem Wohneigentum die Ausrichtung der Geldpolitik nicht maßgeblich verändert worden wäre (Nickel et al. 2021), mit Vorsicht zu betrachten.
Drittens dürfte damit die von der EZB vorgeschlagene Reform der Inflationsmessung im Euroraum die Glaubwürdigkeit der Inflationsstatistik und der EZB eher weiter schwächen als stärken. Da sich so eine Fortsetzung der anhaltend lockeren Geldpolitik andeutet, stehen – viertens – die jungen Menschen im Euroraum, die noch ein Eigenheim erwerben wollen, als Verlierer dieser Politik fest.
Literatur:
Brunßen, Frank / Diehl-Wolf, Eva-Maria 2018: Preisindizes für selbst genutztes Wohneigentum. WISTA, 5, 68-79.
Dany-Knedlik / Papadia, Andrea 2021: Berücksichtigung von selbst genutztem Wohnen im Preisindex kann Glaubwürdigkeit der EZB stärken. DIW Wochenbericht 49, 795-802.
Europäische Kommission 2018: Bericht der Kommission an das europäische Parlament und den Rat zur Eignung des Preisindex für selbst genutztes Wohneigentum für die Einbeziehung in den Erfassungsbereich des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI).
Europäische Zentralbank EZB 2021a: Erklärung zur geldpolitischen Strategie, Frankfurt.
European Central Bank ECB 2021b: An Overview of the ECB’s Monetary Policy Strategy, Frankfurt.
Eurostat 2017: Technical Manual on Owner-occupied Housing and House Price Indices, Luxemburg.
Eurostat 2021: Owner Occupied Housing Price Index, Luxemburg.
Mersch, Ives 2020: Asset Price Inflation and Monetary Policy. Keynote speech at the celebration of INVESTAS’ 60th anniversary.
Nickel Christiane / Álvarez, Luiz / Zevi, Giordano / Fröhling, Anette / Willeke, Caroline 2021: Inflation Measurement and its Assessment in the ECB’s Monetary Policy Strategy Review. ECB Occasional Paper 265.
Schnabl, Gunther / Sepp, Tim 2020: Die Inflationsmessung erzeugt die Illusion der stabilen Kaufkraft. Wirtschaftsdienst 100, 11, 838-841.
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[1] Im Jahr 2018 hatten die Europäische Kommission und die EZB die Einbeziehung der vorliegenden Preisindizes für selbst genutztes Wohneigentum abgelehnt (Europäische Kommission 2018).
[2] Beispielsweise hat das Wohnen (ohne Wohnnebenkosten) im nach nationaler Gesetzgebung erstellten Deutschen Verbraucherpreisindex (VPI) ein Gewicht von derzeit 20%, im von Destatis nach europäischen Vorgaben erstellten HVPI hingegen nur 10%.
[3] Während im Euroraum zwischen 1999 und 2020 die Mieten um durchschnittlich ca. 1,6% pro Jahr gestiegen sind, sind die Preise von Immobilien um ca. 3,3% gestiegen (Quelle: EZB und Eurostat). Zwischen 2010 und 2020 stiegen die Mieten im Euroraum um durchschnittlich 1,3% pro Jahr, die der Immobilien um 2,1% (Quelle: Eurostat).
[4] Der OOHPI erfüllt damit die Vorlagefristen des HVPI derzeit nicht.
[5] Dem widerspricht, dass auch das Grundstück für das Wohnen notwendig ist.
Eine Antwort auf „Die Preismessung im Euroraum bei selbst genutztem Wohneigentum schadet der Glaubwürdigkeit der EZB“