Sind ethische Fragen in der gegenwärtigen Diskussion zur Staatsverschuldung relevant? Mit welchem Leitfaden lässt sich eine konsensfähige normative Analyse der Thematik durchführen? In welchem Verhältnis stehen moralische und ökonomische Beurteilung der Staatsverschuldung?
Staatsverschuldung ist eines der derzeit beherrschenden Themen. Dabei dreht sich die (ökonomische) Diskussion in erster Linie um Effizienzfragen. Nach der ethischen Dimension der Thematik wird entweder gar nicht gefragt, oder es wird automatisch und ohne fundierte Begründung angenommen, dass Staatsverschuldung abzulehnen sei. Die Moral zu vernachlässigen mag aus Sicht der VWL zulässig sein, für die Öffentlichkeit hingegen ist sie – insbesondere nach der jüngsten Finanzkrise – sehr wohl von Bedeutung. Die Durchsetzbarkeit eines Vorschlags hängt entscheidend von seiner Legitimität ab, diese wiederum hängt daran, ob er gleichermaßen als effizient und moralisch richtig empfunden wird.
Die führenden Ökonomen in der Anfangszeit der sozialen Marktwirtschaft hatten dies erkannt. Für Walter Eucken galt: „Die Wirtschaftspolitik aber soll die freie, natürliche, gottgewollte Ordnung verwirklichen.“ ((Eucken 1990) S. 176.) Für Giersch war die normative Ökonomik – verstanden als „auf das Wirtschaftsleben angewandte Ethik“ ((Giersch 1961) S. 26.) – ein selbstverständlicher Bestandteil jeder ökonomischen Analyse.
Damit stellt sich die Frage nach einem moralischen Leitfaden zur normativen Beurteilung der Staatsverschuldung. Es gilt, eine Denkschule zu finden, die ausreichend breite gesellschaftliche Relevanz und Akzeptanz genießt, die auf einem allgemein konsensfähigen geistigen Fundament steht und die gleichzeitig umfassend genug ausgearbeitet und präzisiert ist, dass sich aus ihr relevante Aussagen zu verschiedenen Spezialgebieten ableiten lassen.
Auch wenn der Name es nicht vermuten lässt, ist die katholische Soziallehre eine der wenigen Denkschulen, die all diese Kriterien erfüllt. Anders als es der Name erwarten lässt, ist die katholische Soziallehre eben keine religiöse Lehre, die auf christlich-biblischen Geboten fußt und sich (nur) an gläubige Katholiken richtet. Vielmehr handelt es sich um ein streng philosophisch argumentierendes Gedankengerüst, das sich an »alle Menschen guten Willens« richtet. Man findet hier tatsächlich eine Denkschule vor, die zwar natürlicher Weise nicht von allen geteilt wird, die aber von Struktur und Fundament her zumindest allgemein konsensfähig sein kann.
Insbesondere der Umstand, dass die deutsche Verfassung und Wirtschaftsordnung entscheidend von dieser Lehre geprägt wurden, zeigt, dass sie geeignet ist, als Richtschnur für eine normative Untersuchung finanz- und wirtschaftspolitischer Fragen zu dienen. Für einige der »Väter der sozialen Marktwirtschaft«, insbesondere Erhard, Müller-Armack und Briefs, war die katholische Soziallehre neben dem von Eucken geprägten Ordoliberalismus der Freiburger Schule eines von zwei Leitkonzepten, aus denen sie das neue System entwickelten. Auch das Grundgesetz wurde in seiner Entstehung von der katholischen Soziallehre beeinflusst. Dabei kommt ihr besonders zu Gute, dass sie bewusst keine konkreten Modelle vorgibt. Sie versteht sich als gedanklicher Leitfaden, der Ziele und Grundprinzipien vorgibt. Die Übertragung dieser Grundsätze auf konkrete Fragestellungen, wie in diesem Fall die Staatsverschuldung, bleibt Aufgabe der jeweiligen Fachgebiete unter Maßgabe der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Aussagen der katholischen Soziallehre
Ziel der katholischen Soziallehre ist es, eine gute Gesellschaftsordnung zu prägen, und allen Menschen ein gelingendes Leben zu ermöglichen. Dabei richtet sie sich an die gesamte Gesellschaft und möchte über die Grenzen der religiösen Gemeinschaft hinauswirken. Um diese universelle Anwendbarkeit zu erreichen, argumentiert die katholische Soziallehre streng philosophisch und nicht theologisch. Sie greift dafür in erster Linie auf die Naturrechtstheorie zurück. Unter Naturrecht wird im Allgemeinen eine Art ewiges Urrecht verstanden, das ein verbindliches System rechtlicher Normen bildet, und welches vor und über allem positiven Recht angesiedelt ist. Ein zweiter Grundpfeiler der katholischen Soziallehre, neben der Naturrechtstheorie, ist das christliche Menschenbild.
Sie strebt zwei Ziele an, die sich wie ein roter Faden durch alle Überlegungen hindurch ziehen:
– Die Sicherung des individuellen Wohlergehens
– Die Errichtung einer guten Gesellschaftsordnung
Um die genannten Ziele zu erreichen, müssen aus Sicht der katholischen Soziallehre drei Grundnormen verwirklicht werden:
– Freiheit
– Gerechtigkeit
– Gemeinwohl
Ohne Freiheit kann sich das Individuum nicht entfalten, nicht zu seiner Bestimmung gelangen, kann es also keine gute Gesellschaftsordnung geben. Gerechtigkeit wird im aquin’schen Sinne verstanden als der Wille, jedem sein Recht zuzuteilen. Entsprechend muss Gleiches gleich, und Ungleiches ungleich behandelt werden. Gemeinwohl heißt, dass es den Menschen ermöglicht werden soll, sich zu entfalten und ihre Persönlichkeit zu entwickeln.
Aus diesen drei Normen leiten sich die Prinzipien ab, das sind die konkreten Forderungen der katholischen Soziallehre, die als Maßstab an das Handeln des Staates, an die Struktur der Institutionen, an den Aufbau der Gesellschaft angelegt werden sollen. Die Einhaltung dieser Prinzipien führt zur Verwirklichung der Normen. Sie sind alle miteinander verbunden und führen jeweils zur Erfüllung des anderen.
– Personalität
– Solidarität
– Subsidiarität
– Nachhaltigkeit
Das Personalitätsprinzip besagt, dass die menschliche Person unter allen Umständen Gegenstand und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein muss. Alles – Staat, Gesetze, Institutionen, Wirtschaftsordnung – muss dazu dienen, dass der Mensch sich entfalten und zu seiner Bestimmung gelangen kann. Solidarität beruht auf einem allgemeinen Zusammengehörigkeitsgefühl aller Glieder der Gesellschaft und besteht in dem Streben dach einem Wohlergehen aller. Solidarität bedeutet, dass die einzelnen Glieder einer Gesellschaft füreinander und für das Ganze einstehen. Beim Subsidiaritätsprinzip geht es um eine funktionelle Strukturierung der Gesellschaft. Allgemein ausgedrückt besagt es, dass Aufgaben auf einer möglichst niedrigen Ebene angesiedelt sein sollten, so lange diese dazu sinnvoll in der Lage ist. Das Nachhaltigkeitsprinzip fordert, die Bedürfnisse der Gegenwart so zu befriedigen, dass die Möglichkeit zukünftiger Generationen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, nicht aufs Spiel gesetzt wird.
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Die Ethik der Staatsverschuldung
Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun aus dem bislang geschilderten für die ethische Beurteilung der Staatsverschuldung ziehen? Wie lassen sich diese allgemeinen Aussagen der katholischen Soziallehre für die Evaluierung der Staatsverschuldung operationalisieren? Dafür gilt es, konkrete Kriterien abzuleiten und einen Kriterienkatalog aufzustellen, anhand dessen sich verschiedene institutionelle Arrangements abprüfen lassen.
Setzt man Normen und Prinzipien der katholischen Soziallehre zueinander in Relation, lässt sich eine Matrix aufspannen, in deren Felder sich konkrete Kriterien schreiben lassen, wie die einzelnen Prinzipien zur Erreichung des jeweiligen Prinzips beitragen.
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Eine detaillierte Diskussion aller Kriterien und ihrer Implikationen für die Staatsverschuldung würde hier den Rahmen sprengen. Daher sollen nur die Kernpunkte herausgegriffen werden (ausführlicher hier).
Eine eingehende Untersuchung der entsprechenden Kriterien zeigt, dass ausufernde Staatsverschuldung der Erreichung des Freiheitsziels entgegensteht. Folgende Generationen müssen ohne Gegenleistung höhere Steuern zahlen, was dem Kriterium der Entfaltungsfreiheit entgegensteht. Die Einengung der Handlungsspielräume durch den Zinsdienst verletzt das Kriterium der Entscheidungsfreiheit. Eine Ausnahme ergibt sich jedoch beim Vorliegen einer Goldene Regel. Hier lässt sich Staatsverschuldung durch intergenerative Solidarität bei der Finanzierung rechtfertigen. Des Weiteren schränkt Staatsverschuldung die Organisations- und Handlungsfreiheit künftiger Generationen ein.
Etwas differenzierter ist das Bild im Hinblick auf das Gerechtigkeitsziel. Hier kann Staatsverschuldung gleichermaßen ein Instrument zur Herstellung von Gerechtigkeit, wie auch ein Verstoß gegen das Gerechtigkeitsgebot sein. Das Kriterium der Lastengerechtigkeit erlaubt einerseits die Verteilung von Lasten gemäß des anfallenden Nutzens, wendet sich jedoch gleichzeitig gegen die Weitergabe von Lasten, denen kein solcher gegenübersteht. Ebenfalls aus dem Solidaritätsprinzip speist sich das Universalitätskriterium. Demnach fordert die intergenerative Solidarität von späteren Generationen, der Gegenwart in besonderen Notsituationen zu helfen. Konkret heißt dies, dass Kredite zur Bewältigung besonderer Krisen eingesetzt werden können. Allerdings muss auch die Ausgangsgeneration zur Tilgung dieser Lasten herangezogen werden. Es geht nicht darum, dass alle Lasten einfach weiterverschoben werden dürfen. Die Beteiligungsgerechtigkeit fordert, die Ausgangssituation späterer Generationen nicht zu verschlechtern. Staatsverschuldung für Investitionen sind damit akzeptabel. Jenseits dieser engen Grenzen wird Staatsverschuldung auch unter Gerechtigkeitsaspekten kritisch gesehen. Die negativen Folgen einer steigenden Verschuldung, z.B. aufgrund nicht vorgenommener Abschreibungen oder konsumptiver Kredite, Verstoßen gegen die Beteiligungsgerechtigkeit und das Nachhaltigkeitsgebot. Spätere Generationen werden bevormundet, so dass ihre Eigenverantwortung eingeengt wird.
In eine ähnliche Richtung gehen die Schlussfolgerungen aus dem Gemeinwohlziel. Staatsverschuldung ist zulässig, solange sie das Wohl der Betroffenen fördert, einen höheren Nutzen als Kosten verursacht, späteren Generationen eine bessere Ausgangsposition ermöglicht und effizient eingesetzt wird. Insbesondere bei kurzfristiger Verschuldung, die zur Überbrückung von Schwankungen eingesetzt und zeitnah zurückgeführt wird, ist das der Fall. Bei langfristiger Verschuldung ist das in der Realität jedoch leider nur zu selten der Fall. Es kommt es zu unerwünschter Umverteilung, Wohlfahrtsverlusten, Inneffizienzen und Politikversagen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: In engen Grenzen, wie z.B. bei außergewöhnlichen Katastrophen oder für nützliche Investitionen, kann Staatsverschuldung ethisch zulässig sein. Dabei muss jedoch sichergestellt sein, dass auch die Gegenwart sich schon an den Lasten beteiligt, dass Investitionskredite nach ihrem Verbrauch wieder abgezahlt werden und dass es zu keinem Missbrauch kommt. In allen anderen Fällen ist Staatsverschuldung unter moralischen Gesichtspunkten abzulehnen.
Andersherum dargestellt lässt sich konstatieren, dass eine nicht durch eine Goldene Regel gedeckte Staatsverschuldung die Personalität verletzt, unsolidarisch gegenüber späteren Generationen ist, nicht dem Subsidiaritätsprinzip entspricht und unnachhaltig ist.
Die oben dargestellte allgemeine Kriterienmatrix der katholischen Soziallehre lässt sich folgendermaßen auf das Unterthema Staatsverschuldung anpassen:
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Verhältnis von Ethik und Ökonomie
Entgegen dem oft postulierten Widerspruch von Ethik und Ökonomie ist die moralische und die wirtschaftliche Sichtweise auf Staatsverschuldung nahezu identisch. Auch weite Teile der VWL kritisieren wirtschaftliche und politische Nachteile einer überbordenden Verschuldung und fordern ihre Beschränkung.
Es ist moralisch wie ökonomisch gleichermaßen wünschenswert, dass Staatsverschuldung nur in engen Grenzen zugelassen wird. Sie kann kurzfristig genutzt werden, oder in besonderen Krisensituationen, ggf. auch im Rahmen einer Goldenen Regel. Langfristiger, konsumptiver und nicht durch Gegenwerte gedeckter Verschuldung hingegen ist ein Riegel vorzuschieben. Für eine wirksame Begrenzung von Staatsverschuldung einzutreten ist das Gebot der ökonomischen Vernunft, wie auch ethische Verpflichtung.
Weiterführende Links
Eine Ausführlichere Darstellung dieser Überlegungen findet sich hier.
Vorschläge, wie eine ethisch und ökonomisch sinnvolle Begrenzung aussehen könnte finden sich hier.
Literatur
Eucken, W. (1990): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen.
Giersch, H. (1961): Allgemeine Wirtschaftspolitik, Wiesbaden.
Kann wirklich die „Konsensfähigkeit/Akzeptanz“ einer Ethik in einer bestimmten Gesellschaft über ihren Geltungsanspruch entscheiden? Kann über die Frage, ob die Todesstrafe eingeführt werden soll, Folter zur Rettung von Entführungsopfern erlaubt ist oder Genozid zur Schaffung von Lebensraum für die Bevölkerungsmehrheit, die Akzeptanz bei der Bevölkerungsmehrheit entscheiden? Ich weiß nicht, wie man unter den vielen, vielen ethischen Theorien die es gibt, die „Richtige“ allgemeinverbindlich festlegen können soll. Wenn dies nicht geht, wäre es dann nicht besser, der guten alten ökonomischen Tradition zu folgen, möglichst wenig „Ethik/normative Werturteile“ bei der Entscheidung wirtschaftspolitischer Frage zugrunde zu legen? Aus Ihrer Matrix kann man doch im Prinzip alles Mögliche herleiten. Ihr Befund, scheint mir nicht logisch zwingend zu sein. Wenn Sie zu dem Ergebnis kommen „Entgegen dem oft postulierten Widerspruch von Ethik und Ökonomie ist die moralische und die wirtschaftliche Sichtweise auf Staatsverschuldung nahezu identisch.“ warum braucht man dann überhaupt noch die katholische Soziallehre, um die wirtschaftspolitische Frage zu beantworten?