Durch die weltweite Verschiebung der wirtschaftlichen und demografischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Schwellenländer hat Europa in den vergangenen Jahren an Bedeutung als wirtschaftliche und politische Macht verloren. Vor dem Hintergrund, dass die asiatische Bevölkerung in den nächsten vier Jahrzehnten um weitere 1,7 Mrd. anwachsen dürfte, diejenige Afrikas auf 2 Mrd. anschwellen wird (mit einem Anteil der unter 20-Jährigen von 50 Prozent), während die Bevölkerung Europas bis 2050 voraussichtlich um 20 Mio. schrumpft, dürfte sich dieser Prozess fortsetzen. Kein einzelnes Land in Europa dürfte in der Lage sein, die Wertvorstellungen der zukünftigen ökonomischen und politischen Agenda maßgeblich zu beeinflussen.
Der Euro-Raum, dessen Währung zwar nicht Raison d’être der Europäischen Union, wohl aber das bedeutendste Symbol der europäischen Integration geworden ist, befindet sich in einer schwerwiegenden institutionellen Vertrauenskrise. Die europäische Staatsschuldenkrise hat die Konstruktionsfehler eines Ordnungsrahmens zutage gefördert, dem es an Verbindlichkeit mangelte. So ist eine zuverlässige Koordinierung und Überwachung der nationalen Finanzpolitiken kaum gelungen. Die Haushaltsregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP), die nach Beitritt zur Währungsgemeinschaft Obergrenzen für die Defizit- und Schuldenquote sicherstellen sollten, wurden umgangen und letztlich bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Neben den unzureichenden Anreizen für eine solide Finanzpolitik mangelte es darüber hinaus an effektiven Instrumenten, um makroökonomischen Ungleichgewichten, insbesondere Divergenzen in der Wettbewerbsfähigkeit, entgegenzuwirken.
Wie kann Europa sich angesichts dieser Herausforderungen in der globalen Wirtschaft behaupten? Teil der Strategie muss es sein, die Zukunft des Euro-Raums als dem Kernstück der Europäischen Integration zu sichern. Eine Auflösung der Währungsunion hätte nicht nur hohe ökonomische Kosten zur Folge, sondern würde eine Renationalisierung der Politik bedeuten und das über Jahrzehnte eingesetzte politische Kapital entwerten.
Um eine weitere Zuspitzung der Krise zu vermeiden, muss auf mehreren Ebenen angesetzt werden. Der Politik stehen dabei Maßnahmen sowohl auf Länderebene als auch auf EU-Ebene, ordnungspolitische als auch prozesspolitische Eingriffe, kurzfristig und langfristig einsatzfähige respektive wirkende Instrumente zur Verfügung.
Schnell wirkende Maßnahmen wie das Aufspannen der Rettungsschirme, die extrem unterstützende Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und die EU-Gipfelbeschlüsse u.a. zur direkten Bankenrekapitalisierung durch die Rettungsfonds EFSF/ESM oder zum 120 Mrd.-Wachstumspaket helfen, Ansteckungseffekte in Grenzen zu halten. Auch eine Wiederherstellung des Marktzugangs über eine partielle Absicherung von Staatsanleihen mithilfe der European Sovereign Bond Protection Facility der EFSF dürfte dazu beitragen, Marktpanik einzudämmen.
Um die Eurozone langfristig zu stabilisieren, führt jedoch kein Weg an einer konsistenten und mit einem klaren Zeitplan versehenen Roadmap im Hinblick auf die zukünftige fiskalische und politische Koordination im Euro-Raum vorbei. Deshalb wurde die Vierergruppe bestehend aus dem EU-Ratsvorsitzenden Van Rompuy, Kommissionspräsident Barroso, Euro-Gruppenchef Juncker und EZB-Präsident Draghi gebeten, „einen spezifischen Fahrplan mit Terminvorgaben für die Verwirklichung einer echten Wirtschafts- und Währungsunion auszuarbeiten“ (mit Konsultationen der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments). Ein Zwischenbericht wird im Oktober 2012 und der Schlussbericht vor Jahresende vorgelegt.
Schon lange vor der Einführung der gemeinsamen Währung hatte sich eine intensive Debatte darüber entfacht, ob das Experiment der Währungsunion gelingen könne, ohne dass diese von einer politischen Union flankiert würde. Eine weitreichende politische Union galt zu diesem Zeitpunkt nicht als konsensfähig. Die Hoffnung verlagerte sich darauf, dass der Euro als Triebkraft auf dem Weg zu einer politischen Union wirken würde, was aber nicht in dem erwarteten Umfang eingetreten ist. So hat die „Krönungstheorie“, wonach eine Währungsunion erst am Ende eines langen wirtschaftlichen Annäherungsprozesses und nach Inkrafttreten einer politischen Union sinnvoll ist, wieder an Aktualität gewonnen.
Aber wie viel Koordination ist erforderlich? Wann ist sie schädlich? Wie viel Gestaltungsfreiheit sollte den Mitgliedsländern überlassen werden? Grundsätzlich rechtfertigt sich eine Vertiefung einer fiskalischen und politischen Union nicht aus der Rettung der Währungsgemeinschaft, sondern sie ist eine Entscheidung, die nach einem öffentlichen Diskurs und einer politischen Willensbildung zu erfolgen hat, wie Europa gestaltet werden soll. Schaut man allein auf die ökonomischen Funktionsbedingungen der Währungsunion, so ist dafür keineswegs eine zentralistische EU-Wirtschaftsregierung notwendig. Nicht jeder Versuch einer Harmonisierung und Zentralisierung der Politik aus der Absicht, die „europäische Integration“ zu vertiefen, ist aus ordnungspolitischer Sicht auch sinnvoll und notwendig. Die einzelnen Länder der Währungsunion sollten in ihrer Wirtschaftspolitik vielmehr flexibel auf etwaige Schocks reagieren können, denn eine Anpassung über nationale Zins- oder Währungspolitik ist nicht möglich. Gerät ein Land unter Wettbewerbsdruck, muss es Löhne, sonstige Kostenfaktoren oder andere Standortbedingungen anpassen können. Weitgehende Harmonisierung wäre fehl am Platz, das Subsidiaritätsprinzip muss Geltung behalten.
Worauf es ankommt, ist ein gemeinsames wirtschaftspolitisches Verständnis, eine klare Rollenverteilung zwischen Geldpolitik, Finanzpolitik und Lohnpolitik und ein gemeinsames Verständnis über den Ordnungsrahmen einer sozialen Marktwirtschaft.
Die Europäische Gemeinschaft hat sich im Reformvertrag von Lissabon zu einer wettbewerbsfähigen Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschafts- und Sozialordnung der EU bekannt. Fundament der Sozialen Marktwirtschaft ist ein großes Maß an Gestaltungsfreiheit, welche in einen klaren Rechts- und Ordnungsrahmen eingebettet ist. Diese Gestaltungsfreiheit wird der Devise der EU „In Vielfalt geeint“ gerecht.
Im Zuge der durch die Krise angestoßenen Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU und EWU („Economic Governance-Reform“) haben sich neue „Spielregeln“ herausgebildet, die die institutionelle Landschaft bereits maßgeblich verändert haben.
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Der neue wirtschaftspolitische Steuerungsrahmen (siehe Abbildung) umfasst eine intensivere wirtschaftspolitische Koordination und Überwachung durch
- eine gemeinsame ökonomische Agenda, bestehend aus der Strategie Europa 2020, den Jahreswachstumsberichten (Annual Growth Surveys), welche konkrete Prioritäten für die nächsten 18 Monate festlegen, dem Euro-Plus-Pakt, der auf die Angleichung wichtiger Eckdaten etwa im steuerlichen oder sozialpolitischen Bereich abzielt sowie einem gemeinsamen Wachstumspakt
- eine synchronische Entscheidungsfindung und Bewertung mithilfe des Koordinationsinstruments Europäisches Semester, das im halbjährlichen Turnus die Selbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten überwacht
- einen stärkeren Überwachungsrahmen in Gestalt einer strikteren Überwachung sowohl der Fiskal- als auch Wirtschaftspolitik (Reform des SWP durch das Sixpack, Fiskalpakt).
Die jüngsten Reformen der wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrumente sind fraglos Schritte in die richtige Richtung. Sie sind Etappen auf dem Weg hin zu einer konsensfähigen Wirtschaftsverfassung für den Euro-Raum, die den diskretionären Spielraum in der Ausführung und Umsetzung der Überwachungsprozeduren deutlich begrenzt. Allerdings ist eine strikte Umsetzung von entscheidender Bedeutung.
Hinweis:
Die Langfassung des Standpunktes von Herrn Prof. Heise können Sie in der Oktober-Ausgabe der Fachzeitschrift WiSt nachlesen.
- Der Chefvolkswirt
Politischer Handlungsbedarf für die Zukunft des Euro - 8. November 2012
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