Prävention als Wundermittel der Gesundheitspolitik
Ein ordnungspolitischer Einordnungsversuch

Der Bundestag hat noch kurz vor der Sommerpause mit der Koalitionsmehrheit das Gesetz zur Förderung der Prävention beschlossen. So sollen beispielsweise die Krankenkassen ihre Ausgaben für Prävention, jeweils gerechnet auf den Versicherten, verdoppeln. Gerade die Prävention von Kindern und Jugendlichen soll weiterhin ausgebaut werden und dabei Zugangshürden zu Primär- und Vorsorgeleistungen abgebaut werden. Als besondere Anknüpfungspunkte sieht das Gesetz eine Beförderung betrieblicher Gesundheitsförderung vor und insgesamt soll der GKV-Spitzenverband einheitliche Verfahren zur Qualitätssicherung von Prävention erlassen. Unabhängig von der fraglichen Halbwertszeit dieses Gesetzes, die Opposition hat schon angekündigt das Gesetz im Bundesrat nicht passieren zu lassen, was dann angesichts der Bundestagswahl im September das Ende dieses legislativen Vorhabens wäre, stellt sich doch einmal wieder die Frage nach Sinn und Unsinn von mehr „geförderter“ Prävention. Sicherlich die vordergründige Logik erscheint zwingend: Könnten durch ziel- und passgenaue Präventionsangebote Krankheiten verhindert oder Krankheitsverläufe effektiv beeinflusst werden, stünden Effizienzpotenziale, vielerorts gerechnet in erwarteten Kosteneinsparungen, an. Jedoch zeigen sowohl die empirischen Erfahrungen als auch grundsätzliche ordnungsökonomische Aspekte bei der Auseinandersetzung mit Prävention Zweifel an dieser einfachen Logik. Diesen Zweifeln bzw. Umsetzungshürden für eine erfolgreiche Präventionsstrategie gilt es nachfolgend etwas Augenmerk zu schenken.

Die Forderung nach einer Förderung von Prävention muss sich zunächst der gesundheitswissenschaftlich nicht trivialen Frage stellen, wer letztendlich der Verantwortliche für Prävention ist. Hier ist zunächst zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention zu entscheiden. Bei letztgenannter greifen Infrastrukturen und Bedingungen am Arbeitsplatz, bei erstgenannter Kategorie sind der Patient und/oder der Arzt im Kontext von Gesundheits- und Krankheitsphänomenen gemeint. Gemäß dem Bild eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums etwa von Hurrelmann adressiert Verhaltensprävention – übrigens ist mit Prävention in diesem Sinne immer eine Gruppenstrategie impliziert im Gegensatz zur Prophylaxe –die Auseinandersetzung mit gesundheitsförderlichen Verhalten. Das gesundheitsförderliche Verhalten kann bei einem gesunden Adressaten ohne Symptomatik ansetzen (Primärprävention) oder das Management dieses Risikofaktors (Sekundärprävention) im Sinne von Früherkennung im Fokus haben. Zusätzlich lassen sich noch Präventionsangebote abgrenzen, die auf eine Verzögerung der Krankheitsprogression fokussieren, jedoch eine Krankheit schon voraussetzen und dann eher mit Rehabilitation oder Tertiärprävention abgrenzt werden können. Auch wenn es in der gesundheitswissenschaftlichen Literatur keine eindeutigen Abgrenzungskriterien gibt (vgl Hurrelmann et. al. 2009), so bleibt aus ökonomischer Sicht die Frage zu beantworten, wer für die effektive Umsetzung von Prävention letztendlich verantwortlich zeichnet.

Im Kontext der Primärprävention ist der einzelne Mensch derjenige, der sein Gesundheitsverhalten reflektieren und u. U. ändern muss.  M. a. W. geht um Strategien für eine andere, u. U. gesündere (bessere?) Lebensführung. Im zweiten Fall, etwa bei Screeningverfahren (Mammographie, Koloskopie u. ä.) ist das Zusammenspiel zwischen potenziellem Patienten und medizinischen Leistungserbringer erforderlich (vgl. etwa Fleckenstein 2006).

Im Fall der Tertiärprävention sind hingegen Aspekte eines Case-Managements, die ein Zusammenspiel zwischen diagnostischen und therapeutischen Aspekten am patientenorientierten Risikoprofil ausrichten, konstitutiv. Diese Unterscheidung ist deswegen nicht trivial, weil sie kenntlich macht, dass Prävention in einer derartigen weiten Interpretation des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums sehr weit die individuelle Lebensführung tangiert. So würde eine traditionelle Theorie des Marktversagens beispielsweise einen Eingriff in die individuelle Lebensführung, was aber eine effektive Primärprävention nur sein kann, nur dann rechtfertigen, wenn beispielsweise durch fehlendes gesundheitsförderliches Verhalten negative externe Effekte zulasten Dritter auftreten würden, die im Nettoeffekt wohlfahrtschädlicher wären als die Einschränkung der Konsumentenfreiheit des Einzelnen. Die aktuelle Diskussion um eine Impfplicht für Masern geht in diese Richtung. Die Beförderung von gesundheitsförderlichen Verhalten setzt aber im Grunde genommen an der Hypothese der Unternutzung gesundheitsförderlichen Verhaltens an.

Angenommen es gäbe einen Hinweis für gesundheitsförderliches Verhalten, in dem Sinne dass der einzelne dies nur noch vollziehen müsste und er könnte damit von einem positiven Impuls für sein Gesundheitskapital ausgehen, so greift dieses Moment aber den Aspekt des individuellen Gesundheitskapital des einzelnen auf und ist im ökonomischen Sinne Teil der Konsumentensouveränität.. Gemäß dem Grossman-Theorem ist jedoch der einzelne Mensch zunächst Mitproduzent seiner eigenen Gesundheit und Gesundheitsleistungen in diesem Sinne spiegeln in einer einfachen Betrachtung aus Sicht des Einzelnen sowohl investive als auch konsumtive Aspekte wider. In Analogie an Cohen und Mooney (1984) lassen sich Erwartungs- und Gebrauchsnutzen als Illustration diesbezüglich abgrenzen. Auch wenn, rationale Erwartungen vorausgesetzt, der einzelne einen hohen Erwartungsnutzen aus der Inanspruchnahme einer präventiven Leistung hätte, muss diese erst einmal tatsächlich in Anspruch genommen werden, was als Gebrauchsnutzen bezeichnet werden kann, der auch negativ sein kann (Disutility). Allein das Bild eines Vorsorgechecks oder gar einer aufwendigeren Screeninguntersuchung können dieses Bild wiedergeben. Aber auch Bewegungs- und Ernährungsverhalten ist unmittelbar verständlich immer mit einem Konsumerlebnis verbunden und daher sind Verhaltensänderungen ohne Berücksichtigung dieser Kategorie nicht nachhaltig zu trennen. Obwohl diese Einschätzung nicht zwingend neu ist, lässt sich jedoch bei vielen Präventionsempfehlungen dieser Aha-Effekt festhalten, wenn sich nach einer gewissen Zeit kaum nachhaltige Bindungseffekte an ein angeblich erfolgreiches Präventionsprogramm zeigen lassen.

Insgesamt sollte die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen generell nicht überschätzt werden. Das Rand-Institut hat beispielsweise in einer jüngst veröffentlichen Untersuchung zur Effektivität von betrieblichen Gesundheitsmanagementprogrammen in den Vereinigten Staaten ein ebenfalls skeptisches Bild gezeichnet (vgl. Mattke et. al. 2013). Das Ergebnis ist dabei nicht die Unwirksamkeit von gesundheitsförderlichen Verhalten im Betrieben, sondern eher im Gegenteil ein durchaus förderlicher Effekt auf die Mitarbeiterzufriedenheit und auch auf Lebensqualitätseffekte. Eine mögliche Kostenersparnis auf volkswirtschaftlicher Ebene kann jedoch nicht gezeigt werden, jedoch lassen sich Anzeichen dafür finden, dass die Inanspruchnahmen von kostenintensiven medizinischen Leistungen zwischen Programmbeteiligten und Nicht-Programmbeteiligten in den untersuchten Unternehmen mit der Zeit divergieren, mit einem Kostennachteil für die Nicht-Programmteilnehmer. Deutlich wurde dabei auch die Bedeutung von Präventionsangeboten als Teil von individueller Lebensqualität. Somit ist gesundheitspolitisch ein Wunsch nach mehr Präventionsangeboten ein Ausdruck der Präferenzverschiebungen zugunsten eines Wachstumsmarkts Gesundheit. So könnte, auch durch den Einfluss von medizinisch-technischen Fortschritt und wachsendem Bedürfnis nach höherer medizinischer Qualität ein gesundheitspolitisch relevantes Ziel einer Präventionsstrategie nur sein, die Wachstumsraten der Gesundheitsausgaben , d. h. die Grenzausgaben, durch gezielte Präventionsmaßnahmen flacher zu halten. Ein Denken in den Wachstumsraten von Gesundheit berücksichtigt auch, dass höhere Gesundheitsausgaben neben medizinischen Faktoren von Bedürfnisstrukturen und Angebots- und Nachfrageeffekten begründet sind.

Darüber hinaus ist das Methodensetting einer auch gesundheitsökonomisch wirkungsvollen Präventionsstrategie, gerade im Hinblick auf ökonomische Anreize noch nicht deutlich herausgearbeitet Auch wenn es ermunternde Ergebnisse von der Wirksamkeit ökonomischer Verhaltenssteuerung im Kontext von Primärprävention gibt, etwa im Kontext von Adipositasmanagement (vgl. Augurzky et. al. 2012), heißt dies noch lange nicht, dass in einer Lebenszeitbetrachtung der Steuerungseinfluss nachhaltig verstetigt werden kann. Insbesondere kann noch nicht ein abgrenzbares Set von relevanten Einflussgrößen gesprochen werden, das mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Indikator für die eine richtige Präventionsstrategie sein kann. Ein Blick in die weitere gesundheitswissenschaftliche Literatur zeigt insbesondere im Kontext der für die Präventionsstrategien interessanten chronischen Krankheiten, dass zumindest als notwendige Bedingung die institutionellen Interaktionen zwischen medizinisch-offerierter Prävention (Screenings) und primärpräventiven Aktivitäten des Einzelnen steuerungserheblich sind (vgl. etwa Russel 2007).

Unabhängig von der Effektivitäts- und Effizienzdebatte gilt es abschließend noch festzuhalten, dass vor dem Hintergrund eines freiheitlichen Menschenbildes Forderungen nach Maßnahmen der Verhaltensprävention letztendlich immer einen Eingriff in die individuelle Lebensführung bedeuten. Somit sind Präventionsangebote im Lichte der Wettbewerbsorientierung eines Gesundheits- und Sozialwesens zu betrachten. Präventionsmaßnahmen können bei einem Wettbewerb der Leistungsangebote als Differenzierungsmöglichkeit von Leistungserbringern und Krankenkassen dienen. Folglich hat vor dem Hintergrund einer wettbewerblich orientierten Gesundheitspolitik eine sinnvolle Präventionspolitik an den Freiheitsgraden der Leistungserstellung anzusetzen. Die bisherige Gesundheitspolitik hat diesen Differenzierungsansatz jedoch häufig negiert. Die zwangsweise Homogenisierung durch die vorgesehene Rolle der Spitzenverbände der Krankenkassen, wie es im Gesundheitsreformgesetz 2000 vorgesehen war, oder die Vorgabe einer staatlich definierten Präventionsstiftung, wie in der Gesundheitspolitik im Jahr 2004 diskutiert wurde oder auch die Idee im jüngsten Präventionsgesetz nach einheitlichen, vom GKV-Spitzenverband zu erlassenen Qualitätsregeln, stehen der Idee einer wettbewerblichen Präventionspolitik im Wege.

Literatur:

Augurzky, B., Bauer, T., Reichert, A., Schmidt, C. und Tauchmann, H. 2012. Does Money burn Fat? Evidence from a Randomized Experiment, Ruhr Economic Papers Nr. 368.

Cohen, D. and Mooney, G.: 1984, Prevention goods and hazard goods – a taxonomy, Scottish Journal of Political Economy 31, 92–99.

Fleckenstein, J. 2006. Prävention in einem liberalen Gesundheitssystem. Die Konsequenzen einer Liberalisierung des deutschen Gesundheitssystems für präventives Verhalten aus Sicht positiver und normativer Institutionenökonomie, Bayreuth.

Hurrelmann, K., Klotz, T., Heisch, J.: 2009, Lehrbuch der Prävention und Versorgungsforschung, Bern: Hans Huber.

Mattke, S., Hangsheng, L., Caloyeras, J, Huang, C., Busum, K. v., Khodyakov, D. and Shier, V. 2013. Workplace Wellness Programs Study. Final Report. RAND Health 2013.

Russell, L.: 2007, Prevention’s potential for slowing the growth of medical spending, Technical report, National Coalition on Health Care, www.nchc.org.

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