Bringt die Große Koalition mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen?

Gesundheitspolitische Themen bestimmen nicht die gegenwärtige Tagespolitik und auch im Hintergrund ist relativ wenig zu hören, auch wenn sich die Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag einige Passagen zur Gesundheitspolitik verordnet hat, die sie zügig angehen will. Wenn ein Blick auf die gesundheitspolitischen Passagen im Koalitionsvertrag geworfen wird, stellt sich die Frage, wie es die Große Koalition mit der Frage nach „wettbewerblichen Strukturen“ im Gesundheitswesen hält. Seit nun 20 Jahren prägt die Idee einer „Solidarischen Wettbewerbsordnung“ die akademische und gesundheitspolitische Debatte, gleichwohl bleibt die Frage nach einer konsistenten ordnungspolitischen Leitlinie weiterhin offen. Der Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode ist daher eher zurückhaltend, wenn nicht gar widersprüchlich formuliert.

Einerseits sollen die Krankenkassen Freiheitsräume im Wettbewerb um Leistungen erhalten, d. h. im Kontext so genannter Selektivverträge, doch sollen andererseits deren Wirtschaftlichkeitsergebnisse nach vier Jahren gegenüber der Aufsichtsbehörde nachgewiesen werden. Daneben steht die Festlegung des allgemeinen Beitragssatzes im Gesundheitsfonds auf 14,6 %, verbunden mit dem Ziel, dass Beitragssatzsteigerungen künftig von den Kassen individuell festgelegt und nur von den Arbeitnehmern getragen werden sollen. Wenn nun eine Aufsichtsbehörde Qualität und Wirtschaftlichkeit ausreichend nachgewiesen sieht – die Frage nach der geeigneten Referenz bleibt hier““dann würden diese Versorgungsformen wieder in die kollektivvertragliche Regelversorgung überführt. Der Wettbewerb hat somit eine unmittelbar instrumentelle Wirkung, er soll kontrolliert der Fortentwicklung der kollektiven(!) Regelversorgung dienen. In die gleiche Richtung greift ein Innovationsfonds mit Höhe von 300 Mio. EUR, der zur Förderung von innovativen, sektorübergreifenden Versorgungsformen beitragen sollen, die über die Regelversorgung hinausgehen. Darüber hinaus sollen Daten zur Erforschung der Anwendungspraxis ermittelt werden. Die Mittel des Fonds werden nach den Kriterien des Gemeinsamen Bundesausschuss in einem jährlichen Ausschreibungsverfahren vergeben.

Darüber hinaus ist vorgesehen, ein Qualitätsinstitut zu gründen, das sektorübergreifend Routinedaten sammeln und evaluieren soll, um beispielsweise die Weiterentwicklung von Vergütungsansätzen nach den Kriterien eines „Pay for Performance“ voran zu treiben. Das Ziel sind dabei insbesondere Krankenhäuser, die bislang bei Fallzahlentwicklungen, die über die vereinbarte Budgetvereinbarung hinausgingen, Mehrleistungsabschläge hinnehmen mussten. Mit Hilfe der vom Qualitätsinstitut gesammelten Daten können nun bei „guter Qualität“ beispielsweise diese Mehrleistungsabschläge reduziert werden. Darüber hinaus sollen Krankenkassen ab 2015 bis 2018 bei vier vom Gemeinsamen Bundesausschuss  ausgewählten Krankheiten Qualitätsverträge mit einen einzelnen Krankenhäusern schließen, wobei die Qualitätskriterien auf Landesebene festgelegt werden sollen.

Auf dem ersten Blick ließe sich nun einwenden, der Koalitionsvertrag versuche nun endlich an den Qualitätsdefiziten zwischen den Schnittstellen ambulante und stationäre Versorgung anzusetzen und dabei insbesondere einen Impuls für die nötige Qualitätssicherung durch Routinedaten zu geben. Diese Einschätzung wäre dann richtig, wenn ordnungspolitisch ein Steuerungsziel zugrunde gelegt wird, nach dem wettbewerbliche Lösungen lediglich dazu dienen soll, die kollektivvertragliche Versorgung besser zu machen, d. h. ein „kontrolliertes Experimentieren“ zu induzieren, die Bewertung über ein „besser oder schlechter“ der kollektivvertraglichen Einschätzung der Spitzenverbandsebene zu überlassen.

Jedoch ist diese Steuerungsidee mit einem Wettbewerbsbild im Sinne eines „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahrens schwer zu vereinbaren. Denn auch im Bild der „Solidarischen Wettbewerbsordnung“ sind kollektiv- und selektivvertragliche Vereinbarungen gleichzeitig Teil der Regelversorgung. Selektivverträge sind daher nicht ein Experimentierfeld sondern eigenständiges Steuerungsinstrument zwischen Kassen und Leistungserbringern. Die Idee des Koalitionsvertrages ist ordnungspolitisch daher im Grunde die Aufrechterhaltung des Bestandskartells auf kollektivvertraglicher Ebene. Es ist zwar richtig, dass von den im Rahmen von Selektivverträgen gesammelten Erfahrungen auch Rückwirkungen auf das Gesamtsystem ausgehen, und zwar sowohl im Hinblick auf das solidarisch finanzierte Regelleistungsversprechen der GKV (Leistungskatalog) als auch auf die  Ausgestaltung von Kollektivverträgen zur konkreten Realisierung dieses Versprechens. Jedoch wäre es ordnungspolitisch kaum zu begründen, wenn es einen Automatismus geben sollte, die Ergebnisse der Selektivverträge wieder automatisch in die Regelversorgung zu integrieren. Allein schon wegen des Stellenwerts unterschiedlicher Versicherten- und Patientenpräferenzen wäre dies nicht zweckmäßig, darüber hinaus ist ein Automatismus ein hemmender Anreiz für Akteure in dezentralen Kontexten zu investieren, wenn die Ergebnisse dann wieder „automatisch“ in die Regelversorgung überführt werden.

Es gilt festzuhalten, dass die wesentliche Herausforderung für die sozialen Gesundheitssysteme in postindustriellen Gesellschaften darin liegt, durch das Setzen adäquater Rahmenbedingen hinreichenden medizinisch-technischen und organisatorischen Fortschritt zu generieren. Einerseits gewährleistet das Solidarprinzip den freien und gleichen Zugang zur aktuellen medizinischen Versorgung, andererseits sollen gerade im dynamischen Wettbewerbsprozess zwischen Krankenkassen, Leistungserbringern und letztlich den Patienten adäquate, vor allem aber fortschrittliche Versorgungskonzepte gefunden werden. Ein regulierter Wettbewerb in der GKV braucht daher eine Strategie für eine Innovationsumgebung, dies setzt eine Orientierung an einem eindeutigen ordnungspolitischen Voraus. Gerade Ansätze, die eine Risikoteilung zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern vorsehen, sind daher notwendig um Produkt- und Prozessinnovationen zu induzieren. Vor diesem Hintergrund können Kollektiv- und Selektivvertragslösungen parallel nebeneinander stehen bzw. Selektivverträge zusehends die Steuerungsnormalität werden. Ein Widerspruch zu einem Regelleistungsanspruch besteht nicht, solange dieser nicht als Leistungsstandard sondern nur als Definition der Mindestqualität für Kollektiv- und Selektivvertrag definiert wird.  Es läge somit kein Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip vor, wenn der Patient in seiner Rolle als Versicherter die Wahlfreiheit hat, zum Beispiel Einschränkungen der Arztwahlfreiheit in Kauf zu nehmen. Eine solche Einschränkung könnte etwa die Folge von selektiven Verträgen sein, die Einschränkungen von Wahlfreiheit mit einem vom Patienten wahrgenommenen Spezialisierungs- und Qualitätsvorteil verknüpfen. Jedoch kann ein Selektivvertrag nur funktionieren, wenn der potenzielle Vorteil des Selektivvertrags auch im Wettbewerb der Krankenversicherung funktioniert. Dieser greift aus Sicht einer Krankenversicherung nicht unmittelbar, sondern muss einfließen in deren Möglichkeiten ein Qualitätssignal am Versicherungsmarkt zu setzen. Hierzu sind verschiedene  Aktionsparameter aus Prämien-, Leistungs- und Qualitätssignalen notwendig. An dieser Stelle lockert der Koalitionsvertrag etwa mit der Festsetzung des Beitragssatzes auf 14,6 % im Gesundheitsfonds und der Möglichkeit die Zusatzbeiträge kassenindividuell festsetzen zu können, etwas die Bindungen. Gleichwohl bleibt eine hybride Steuerungsphilosophie bestehen, nach der entweder durch den Gesetzgeber oder kollektiv festgelegt wird, nach welchen Bedingungen ein Wettbewerbsprozess vonstattengeht.

Wettbewerbliches Handeln bedeutet aber, hier den Akteuren Gestaltungsspielraum, aber auch Verantwortung zu übertragen. Natürlich ist eine Rückkoppelung in einen Mindeststandard der Regelversorgung notwendig, hier bleibt und gestaltet sich künftig ein notwendiger Regulierungsspielraum. So könnte die Etablierung eines Qualitätsinstituts zur Beförderung der Qualität einer Mindestqualität der Regelversorgung beitragen. Ein gutes Miteinander von regulierenden Bedingungen und Gestaltungsoptionen der Vertragspartner wäre aber nur zu erwarten, wenn die Formulierungen des gesundheitspolitischen Vorhabens vom Geist einer wettbewerblichen Steuerung in einer regulierten solidarischen Wettbewerbsordnung durchzogen wären. Die Ergebnisse der Koalitionsvereinbarungen sind aber auch in diesem Sinne eher ernüchternd und weniger von Lichte einer Solidarischen Wettbewerbsordnung durchzogen. Der Hinweis auf eine stringente ordnungspolitische Orientierung im Gesundheitswesen bleibt somit so aktuell wie auch in der Vergangenheit.

Literatur:

Jacobs, K.: Vorfahrt für Selektivverträge. Erforderlich ist ein konsistenter Ordnungsrahmen – und mehr Mut. In: IMPLICONplus – Gesundheitspolitische Analysen,11/2012, S. 1-12.

Koalitionsvertrag CDU, CSU und SPD. Deutschlands Zukunft gestalten, Berlin 2013.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen: Wettbewerb an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung. Sondergutachten 2012. Bonn 2012.

Zerth, J: Dimensionen von Innovationen: ökonomische Aspekte im Kassenwettbewerb. In: Rebscher, H.; Kaufmann, S. (Hrsg.): Innovationsmanagement in Gesundheitssystemen. Heidelberg 2010, S. 3–18.

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