Der Chefvolkswirt
Das deutsche Geschäftsmodell und die globalen Ungleichgewichte

Die internationale wirtschaftspolitische Debatte über die deutsche Volkswirtschaft pendelt zwischen Anerkennung und Bewunderung für den wirtschaftlichen Erfolg des deutschen Geschäftsmodells einerseits und harscher Kritik an den damit einhergehenden hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüssen andererseits. Wie ist überhaupt der Zusammenhang zwischen deutschem Geschäftsmodell und den globalen Ungleichgewichten und welche Ansätze gibt es zur Überwindung des Dilemmas?

Einführung

Bereits auf dem G20-Gipfel in Pittsburgh im Spätsommer 2009 wurde festgestellt, dass die globalen Handelsungleichgewichte ganz maßgeblich zur Entstehung und Ausbreitung der krisenhaften Entwicklung beigetragen haben. Im März 2010 warf die damalige französische Wirtschafts- und Finanzministerin Lagarde den Deutschen Lohndumping und Importschwäche vor. Als der deutsche Exportüberschuss dann im September 2013 ein Rekordniveau erreichte, nahm Deutschland erneut auf der globalen Anklagebank Platz. Das US-amerikanische Finanzministerium warf Deutschland anämisches Wachstum der Binnennachfrage und exzessive Exportüberschüsse zulasten der Handelspartner vor. Der Internationale Währungsfonds (IWF) forderte eine Obergrenze für Handelsüberschüsse und die Europäische Kommission leitete ein gesamtwirtschaftliches Ungleichgewichtsverfahren (MIP) gegen Deutschland ein.

Was ist überhaupt das deutsche Geschäftsmodell?

Schon vor der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise zeigte die deutsche Volkswirtschaft eine für ihre Verhältnisse beachtliche Performance. Mit jahresdurchschnittlich 2,7 Prozent lag das BIP-Wachstum in den drei Vorkrisenjahren 2006 bis 2008 deutlich über der auf etwa 1,3 Prozent zu veranschlagenden Potenzialwachstumsrate. Angetrieben durch einschneidende Strukturreformen im Rahmen der Agenda 2010 und eine produktivitäts- und beschäftigungsorientierte Lohnpolitik konnte die deutsche Wirtschaft mit ihrem auf innovative Vorleistungs- und Investitionsgüter fokussierten Spezialisierungsmuster von der rasant steigenden Weltnachfrage und dem sich intensivierenden Welthandel profitieren. In der Krise brach dann die deutsche Wirtschaftsleistung zwar mit einem BIP-Rückgang von 5,1 Prozent 2009 in historischer Dimension ein, innerhalb von nur zwei Jahren wurde dieser Einbruch jedoch wieder wettgemacht.

Vom ehemals „kranken Mann“ Europas hatte sich Deutschland innerhalb weniger Jahre zur europäischen Wachstumslokomotive entwickelt. Die Frage, wie Deutschland dieses „zweite Wirtschaftswunder“ generiert hatte, wurde intensiv diskutiert. Plötzlich avancierten die industriebasierten Exporterfolge Deutschlands zum internationalen Modell, dem es nachzueifern galt. Doch was sind eigentlich die Erfolgsfaktoren des deutschen Geschäftsmodells? Fünf eng miteinander verwobene Determinanten lassen sich identifizieren. Erstens die starke industrielle Basis mit einem im internationalen Vergleich hohen und im Zeitablauf stabilen Industrieanteil an Wertschöpfung und Beschäftigung. Zweitens eine hochproduktive und eng verzahnte Mischung aus Großkonzernen und kleinen und mittleren, häufig familiengeführten Unternehmen, von denen viele in ihren Marktsegmenten Weltmarktführer sind. Drittens die immer noch geschlossenen, alle wichtigen Branchen aus Industrie und industrienahen Dienstleistungen umfassenden und durch enge Kooperationsbeziehungen verbundenen Wertschöpfungsketten. Viertens die konsequente Hinwendung zur Globalisierung und intensive Einbindung der deutschen Industrie in die Weltwirtschaft. Und fünftens die ausgeprägte Fokussierung der auf den internationalen Märkten agierenden deutschen Unternehmen auf Forschung, Entwicklung und daraus resultierende Produkt- und Verfahrensinnovationen. Diese fünf Faktoren erklären zu einem guten Teil die Erfolge der deutschen Wirtschaft auf den globalen Märkten.

Gehören Exportüberschüsse zum deutschen Geschäftsmodell?

Überschüsse und Defizite in den Handelsbeziehungen sind kein neues weltwirtschaftliches Phänomen, das erst in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise aufgetreten wäre. Im Grunde war der internationale Austausch von Waren und Dienstleistungen noch nie gleichgewichtig, immer hat es Überschuss- und im Gegenzug Defizitländer gegeben. Im Zuge der aktuellen Krise und ihrer Aufarbeitung und Bewältigung sind diese Ungleichgewichte jedoch in den politischen Fokus gerückt. Das deutsche Geschäftsmodell wird in diesem Zusammenhang zunehmend kritisch gesehen. Indem dieses Modell gigantische Exportüberschüsse produziere, trage Deutschland entscheidend zu den globalen Ungleichgewichten und letztlich zu daraus folgenden Finanz- und Wirtschaftskrisen bei, so die gängige These. Dabei wird suggeriert, dass es in Deutschland gewissermaßen eine gesamtwirtschaftliche Strategie von Politik und Wirtschaft geben würde, die auf eine Maximierung von Exportüberschüssen zielt. Eine solche Strategie gibt es in Deutschland jedoch nicht und sie kann es angesichts der Verfasstheit des Landes als freiheitliche soziale Marktwirtschaft mit weitreichender Entscheidungsunabhängigkeit von Politik und Wirtschaft auch gar nicht geben. In Deutschland wird keine Wirtschaftspolitik betrieben, die auf möglichst hohe Außenhandelsüberschüsse abzielt. Nach wie vor gilt in Deutschland das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 mit seinem „magischen Viereck“ wirtschaftspolitischer Ziele, bei denen das außenwirtschaftliche Gleichgewicht gleichrangig neben dem Stabilitäts-, dem Wachstums- und dem Beschäftigungsziel steht.

Und auch die deutsche Wirtschaft mit ihren Tausenden von Unternehmen verfolgt keine einheitliche Exportstrategie, die in Summe auf exorbitante Exportüberschüsse abzielen würde. Richtig ist, dass deutsche Industrieunternehmen intensiv in die internationale Arbeitsteilung eingebunden sind. In vielen Bereichen haben diese Unternehmen Positionen als Weltmarktführer erreicht. Da der ökonomische Sinn des Welthandels in der Nutzbarmachung von Spezialisierungsvorteilen besteht, hat sich im Laufe der Zeit im Außenhandel ein Spezialisierungsmuster der deutschen Industrie herausgebildet, das auf hoch innovative, forschungs- und entwicklungsintensive Produktions- und vor allem Investitionsgüter fokussiert. Auch die Verknüpfung leistungsfähiger Industrieprodukte mit begleitenden Dienstleistungen zu kompletten Systemlösungsangeboten hat sich als ein komparativer Wettbewerbsvorteil etabliert und begründet die deutschen Exporterfolge.

Aber diese Exporterfolge sind nicht Ergebnis eines von Politik und Wirtschaft strategisch verfolgten Exportmodells. Sie sind nicht politisch herbeigelenkt, sie sind Ergebnis dezentraler Marktprozesse. Die deutsche Exportindustrie hat an Exportüberschüssen keinerlei strategisches Interesse, ihr Interesse fokussiert allein auf die Exportchancen auf offenen Weltmärkten. Ohne die Abnehmer deutscher Produkte auf all den Märkten der Welt wären die deutschen Exporterfolge nicht denkbar. Diese Kunden sind der eigentliche Treiber hinter den deutschen Exporten. Dass bei all diesem ungesteuerten Marktgeschehen Überschüsse und Defizite im Außenhandel entstehen, ist bei freiem Welthandel und offenen Märkten unvermeidlich. Nur planwirtschaftliche Organisationsformen des Welthandels, wie sie etwa in Vorschlägen zur Einführung von Obergrenzen für Exportüberschüsse zum Ausdruck kommen, könnten dies vermeiden.

Betreibt Deutschland Lohndumping?

Einer der härtesten Vorwürfe, die Deutschland in der Debatte um die globalen Ungleichgewichte gemacht wurde, ist der, dass die Exporterfolge einer Art Lohndumping zu Lasten der Handelspartner geschuldet seien. Die Absurdität dieser Behauptung sticht vor allem im wirtschaftshistorischen Kontext ins Auge, denn noch vor nicht allzu langer Zeit galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“, der insbesondere wegen seiner hohen Lohn- und Sozialkosten international nicht mehr wettbewerbsfähig war. Ist Deutschland binnen Kurzem vom kranken Mann zum Lohndrücker mutiert? Keinesfalls, wenn man bereit ist, nüchterne Fakten zur Kenntnis zu nehmen.

Bei den industriellen Arbeitskosten je Stunde liegt Deutschland im europäischen Vergleich nach wie vor in der Spitzengruppe (vgl. Abb. 1). Nur in Norwegen, Schweden, Dänemark, Belgien und der Schweiz liegen die Arbeitskosten noch höher als in Westdeutschland. Der deutsche Vorsprung gegenüber europäischen Defizitländern wie etwa Italien, Spanien oder Griechenland ist deutlich. Richtig ist aber auch, dass sich die langjährigen komparativen Wettbewerbsnachteile der deutschen Industrie bei den Arbeitskosten im Verlauf der letzten Dekade deutlich zurückgebildet haben. Im Zeitraum 2000 bis 2011 war in keinem anderen Land der Europäischen Union der jahresdurchschnittliche Anstieg der Arbeitskosten so niedrig wie in Deutschland. Deutet diese Entwicklung nicht doch auf ein Lohndumping hin?

Arbeitskosten

– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

In Deutschland betrieben die Tarifvertragsparteien im zurück liegenden Jahrzehnt kein Lohndumping, sondern vielmehr eine vernünftige, an der Produktivitätsentwicklung orientierte Lohnpolitik. Während andere europäische Länder, was die Lohnentwicklung anbelangt, deutlich über ihre Verhältnisse gelebt haben, wurde in Deutschland der von der Produktivitätsentwicklung bestimmte Verteilungsspielraum nicht überstrapaziert. Eine deutliche Verbesserung der relativen Lohnstückkostenposition war die Folge. Die deutschen Tarifvertragsparteien haben damit genau die Ratschläge befolgt, die ihnen im Rahmen der Debatte um den kranken Mann Europas nahegelegt wurden. Im Übrigen sind die deutschen Lohnstückkosten in der jüngsten Vergangenheit wieder überproportional gestiegen.

Auch die Importseite betrachten

Nahezu ebenso beliebt wie der Vorwurf des Lohndumpings ist das Argument einer vermeintlichen deutschen Importschwäche. Auch hier lohnt ein Blick auf die Fakten. 2012 lag das deutsche Importvolumen mit über 1200 Mrd. Euro fast doppelt so hoch wie das in Frankreich oder Großbritannien. Deutschland weist mit fast 52 Prozent nicht nur eine deutlich höhere Exportquote auf als die allermeisten seiner europäischen Nachbarn, sondern mit 46 Prozent auch eine deutlich höhere Importquote. Die deutsche Volkswirtschaft ist also deutlich importintensiver als ihre europäischen Handelspartnerländer. Hinzu kommt, dass unter den zehn größten Importländern nach Deutschland immerhin acht europäische Staaten zu finden sind.

Im Übrigen sind im Falle Deutschlands Warenaus- und -einfuhren aufs Engste miteinander verknüpft. Dieser Zusammenhang kommt im Importgehalt der deutschen Exporte zum Ausdruck. 2009 lag der Anteil ausländischer Wertschöpfung an den deutschen Ausfuhren bei 27 Prozent, 1995 waren dies erst 19 Prozent. Dies bedeutet, dass mehr als ein Viertel der mit den Exporten verbundenen Produktions- und Wertschöpfungsaktivitäten nicht in Deutschland, sondern in den Handelspartnerländern stattfindet. Zum überwiegenden Teil sind dies andere europäische Volkswirtschaften, die auf diese Weise direkt über den Export von Vorleistungen nach Deutschland von den deutschen Exporten profitieren.

Kapitalexport als Kehrseite von Exportüberschüssen

Von mindestens ebensolcher Bedeutung wie die Salden im direkten Waren- und Leistungsaustausch sind die Ungleichgewichte in den korrespondierenden Kapitalbilanzen. Vermutlich haben sie bei der Krisenentstehung und -ausbreitung sogar die größere Rolle gespielt, denn die in den Kapitalbilanzen abgebildeten internationalen Finanzströme haben das Entstehen der Turbulenzen an den Weltfinanzmärkten wahrscheinlich stärker befeuert, als der reine Austausch von Gütern und Dienstleistungen.

Leistungs- und Kapitalbilanz eines Landes gehören untrennbar zusammen, sie bilden letztlich zwei Seiten einer Medaille. Die Zahlungsbilanz eines Landes ist definitionsgemäß immer ausgeglichen. Dies bedeutet, dass ein Saldo in der Leistungsbilanz – ob Defizit oder Überschuss – stets durch einen entsprechenden Saldo in der Kapitalbilanz ausgeglichen wird. Ein Land wie Deutschland, das hohe Überschüsse in der Leistungsbilanz erwirtschaftet, wird somit zwangsläufig zum Kapitalexporteur. Deutschland ist nicht nur der drittgrößte Warenexporteur der Welt, sondern gleichzeitig der größte Kapitalexporteur der Welt.

Wenn demzufolge die hohen Exportüberschüsse eines Landes kritisiert werden, dann müssten logischerweise auch die aus diesen Exportüberschüssen resultierenden Kapitalexporte mit der gleichen Kritik belegt werden. Denn das Eine ist in der Zahlungsbilanzsystematik nichts anderes als die Gegenbuchung des Anderen. Die Debatte um die deutschen Exportüberschüsse hat in dieser Hinsicht jedoch eine Unwucht. Dass Deutschland beispielsweise mit seinem Kapitalexport Investitionen und Infrastrukturaufbau in anderen Teilen der Welt finanziert, hat sich bislang einer kritischen Betrachtung entzogen. Auch ist bislang nicht publik geworden, dass die USA sich beispielsweise gegen den Zustrom chinesischen Kapitals zur Finanzierung der amerikanischen Staatsverschuldung aufgelehnt hätten.

Im globalen Wettbewerb hilft nur Wettbewerbsfähigkeit

Heftig umstritten ist die Frage, auf welcher Seite die Hauptverantwortung für den Abbau der globalen Handelsungleichgewichte liegt: auf Seiten der Überschuss- oder auf Seiten der Defizitländer? Würden die Überschussländer ihre Überschüsse vorrangig durch unlautere Praktiken wie etwa Lohndumping erzielen, käme ihnen zwangsläufig ein hohes Maß an Verantwortlichkeit zu. Diese Länder müssten nur ihre unlauteren Praktiken einstellen und schon würden sich die Ungleichgewichte vermindern. Wenn es sich jedoch darum handelt, dass Länder ihre komparativen Wettbewerbsvorteile in den Handelsbeziehungen ausspielen, geht diese Argumentation an der Realität vorbei.

Die Forderung, die Überschussländer mögen ihre Exporte drosseln, indem sie weniger wettbewerbsfähig sind, stellt ökonomische Grundprinzipien auf den Kopf und führt die gesamte Logik des Welthandels ad absurdum. Das Streben nach höherer Produktivität ist eines der fundamentalen Grundprinzipien der Ökonomie schlechthin. Aus einem bestehenden Ressourcenportfolio einen höheren Output zu generieren, oder einen angestrebten Output mit möglichst geringem Ressourceneinsatz zu realisieren, das ist die ökonomische Art des Wirtschaftens. Nur sozialistische Planwirtschaften können oder konnten es sich vermeintlich leisten, unökonomisch zu wirtschaften. Marktwirtschaftliche Ökonomien hingegen streben gewissermaßen definitionsgemäß nach höherer Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit.

In dieser Logik liegt die primäre Verantwortung für die Beseitigung der globalen Handelsungleichgewichte bei den Defizitländern. Wenn ein Land in der globalen Konkurrenz mit seinen Produkten und Dienstleistungen nicht wettbewerbsfähig ist, dann hilft es diesem Land nicht, wenn konkurrenzfähigere Länder ihre Wettbewerbsfähigkeit gewissermaßen künstlich herunterschrauben würden. Der einzig erfolgversprechende Weg führt über die nachhaltige Steigerung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit.

Hinweis

Die vollständige Version dieses Beitrags finden Sie in Heft 3 / 2014 der WiSt.

 

Blogbeiträge zu Leistungbilanzsalden:

Juergen B. Donges: Deutsche Leistungsbilanzüberschüssse in der Kritik: worauf zu achten ist

Henning Klodt: Die deutschen Exportüberschüsse und die Lohnpolitik

Norbert Berthold: Deutschland auf der Anklagebank. Der Euro verzerrt die Leistungsbilanzsalden

Dieter Smeets: Der Euro begünstigt den deutschen Außenhandel in der Währungsunion

Gunter Schnabl: Deutschland ist stark. Und soll es auch bleiben. Die Leistungsbilanzüberschüsse als Achillesferse wirtschaftlicher Stabilität

Gunter Schnabl: Vier Generationen von Leistungsbilanzungleichgewichten

Norbert Berthold: Herakles und die Euro-Hydra. Banken-, Staatsschulden- und Zahlungsbilanzkrisen

Michael Grömling: Mythen und Fakten zur deutschen Exportdominanz

Norbert Berthold: Steht das “Geschäftsmodell Deutschland“ auf der Kippe? Euro-Rettungsschirme sind “struktureller Merkantilismus“

Michael Grömling: Nicht von ungefähr – zum Zusammenhang von Wirtschaftsstruktur und Leistungsbilanz

Wolf Schäfer: Erst Lagarde, nun auch Geithner: Deutschland exportiert zu viel!

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