Gastbeitrag
Migration statt fiskalischer Konsolidierung?

Warum die zukünftige Migration theoretisch 5 Billionen Euro kostet, weshalb das auch am deutschen Sozialsystem liegt und warum Migration im demografischen Wandel trotzdem helfen könnte.

Der demografische Wandel wirkt schon heute

Mittlerweile haben Sie die Geschichte vom demografischen Wandel und seinen fiskalischen Auswirkungen vermutlich schon oft gehört. Viele PolitikerInnen haben sie schon so oft gehört, dass sie beginnen, sie für die Mär vom demografischen Wandel zu halten. Werfen wir dennoch einen Blick auf die sich in den kommenden Jahren verändernde Belastung des Fiskus und insbesondere der Sozialsysteme.

Das Kapital umlagefinanzierter Sicherungssysteme sind Menschen. Zum großen Glück der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland wurden in den 1960er-Jahren sehr viele Kinder geboren. Etwa seit der Jahrtausendwende befinden sich diese in einer äußerst produktiven Lebensphase und bezahlen hohe Beiträge und Steuern. Deshalb verfügen das umlagefinanzierte Sozialsystem und der Fiskus derzeit insgesamt über außergewöhnlich hohe Mittel. Wenn die Babyboomer alt werden, entfallen diese Mittel. Das Kapital der Sozialversicherungen schrumpft, während die zu bedienenden Ansprüche steigen. Denn während die Babyboomer in den vergangenen Jahrzehnten arbeiteten und die Sozialversicherungen finanzierten, werden sie in Zukunft vermehrt Ansprüche beziehen. Die Sozialversicherungen sind in den letzten Jahrzehnten auf dem Berg der Geburtenwelle der 1960er-Jahre geritten und stehen nun unweigerlich davor in das folgende Wellental zu fallen. Aufgrund dieser demografischen Ausgangslage könnte man sagen, in den vergangenen Jahrzehnten ging es den Sozialversicherungen nicht nur gut, sondern sogar zu gut. Der demografische Wandel ist längst in unserer Fiskalstruktur angekommen. Nur führt er aktuell eben nicht zu einer Be- sondern zu einer Entlastung.

Zuwanderung statt Geburten

Wenn uns Menschen fehlen, könnte man meinen, wir könnten die Geburtenwelle durch Migration replizieren. Das funktioniert aus mehreren Gründen nicht. Der wichtigste ist, dass wir das in Zukunft immer wieder machen müssten. Der Migrationswelle zum Ausgleich der Geburtenwelle müssten immer weitere Migrationswellen (oder Geburtenwellen) folgen. Das Sozialversicherungssystem wäre auf ein massives, dauerhaftes Bevölkerungswachstum angewiesen und hinge sozusagen am Tropf der Demografie, am Tropf der Zuwanderung. Das ist nicht zuletzt aus ökologischer Sicht nicht als nachhaltig zu betrachten. Es ist schlicht ein gigantisches Schneeballsystem. Jede Generation kann mehr Leistungen vom Staat beziehen, als sie selbst einbringt, solange die folgenden Generationen immer größer und größer werden.

Betrachtet man die direkten empirischen Auswirkungen der Migration auf die Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherungen, zeigt sich der zweite Grund, aus dem Migration nicht geeignet ist, die demografischen Probleme des Fiskus und insbesondere der Sozialversicherungen dauerhaft zu lösen. Denn in ihrer aktuellen Form weisen Ausländer über ihren Lebenszyklus hinweg eine noch größere Differenz zwischen bezahlten Abgaben und erhaltenen Leistungen auf als deutsche Staatsbürger. Das benötigte Bevölkerungswachstum zur Befriedigung des Schneeballsystems würde bei Migration in der aktuellen Form folglich ansteigen. Anders formuliert: die auf zukünftige Generationen verschobene Belastung würde weiter ansteigen.

Migration in der Generationenbilanzierung

In unserer medial vielbeachteten Publikation[1] habe ich mir gemeinsam mit meinem Doktorvater Prof. Raffelhüschen und meinem Kollegen Florian Wimmesberger angeschaut, in welchem Ausmaß optimistische Migrationsszenarien dazu geeignet wären, die fiskalische Belastung zukünftiger Generationen durch Zuwanderung zu mindern.

Beachtet wurden medial dabei wie immer insbesondere die absoluten Zahlen – und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die leider auch für Beifall von der falschen Seite sorgten. Und auf einmal war die größte Frage, wie wir auf die gigantische Zahl von 5 Billionen Euro kommen. Der Betrag von 5 Billionen Euro ist in diesem Zusammenhang nur leider geradeso gigantisch groß wie gigantisch irrelevant. Vielleicht lesen auch Sie diesen Beitrag gerade, um herauszufinden, wo diese ominöse Zahl bloß herkommt. Wenn dem so ist, hat die Zahl ihren einzigen Zweck erfüllt. Sie hat Ihre Aufmerksamkeit dafür gewonnen.

Zukünftige staatliche Einnahmen und Ausgaben

Lassen Sie mich Ihnen das Konzept der Generationenbilanzierung in aller Kürze erläutern. Wenn wir wissen, in welchem Alter der durchschnittliche Bürger welche staatlichen Leistungen empfängt und welche staatlichen Abgaben bezahlt und wir außerdem wissen, wie sich die Bevölkerung in den einzelnen Altersjahren entwickelt, dann wissen wir auch, wie sich die Staatsausgaben insgesamt entwickeln. Die Bevölkerung lässt sich aber noch weiter aufteilen. Typischerweise unterscheidet man neben dem Alter in der Generationenbilanzierung auch das Geschlecht. Für unsere Studie haben wir darüber hinaus auch nach der Staatsangehörigkeit unterschieden. Die untenstehende Abbildung zeigt die altersspezifischen Nettoabgabenzahlungen für Menschen in Deutschland im Basisjahr mit bzw. ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Diesen Nettoabgabenzahlungen liegen 185 altersspezifisch zugeordnete Einnahmen- und Ausgabenposten des deutschen Gesamtstaates zugrunde.

Generationenkonten – Maß intergenerativer Umverteilung

Wenn man – vereinfacht gesprochen – den Lebensverlauf eines hypothetischen durchschnittlichen Nulljährigen an all diese altersspezifischen Zahlungen anmultipliziert und die einzelnen Werte aufsummiert, erhält man die Zahlungen, die ein durchschnittlicher Nulljähriger über den Rest seines Lebens hinweg an den Staat abtreten würde, wenn das staatliche Leistungs- und Abgabenniveau dauerhaft auf dem derzeitigen Stand verbliebe. Diesen Barwert der Nettoabgaben – also der Abgaben abzüglich der empfangenen Leistungen – über den restlichen Lebensverlauf bezeichnet man auch als Generationenkonto. Das Generationenkonto der Nulljährigen ist negativ – und zwar unabhängig davon, ob man die Werte der Inländer oder der Ausländer betrachtet.

In einer nachhaltigen staatlichen Refinanzierungsstruktur würde jede Generation über ihren Lebensverlauf gerade so viel an den Staat bezahlen, wie sie Leistungen vom Staat bezieht. Das Generationenkonto der Nulljährigen wäre also gerade null. In einer solchen Situation gäbe es keine intergenerative Umverteilung. Das ist nicht zu verwechseln mit der Abwesenheit von Umverteilung. Der durchschnittliche Nulljährige ist gleichzeitig ein bisschen arm, ein bisschen reich, ein bisschen männlich, ein bisschen weiblich, ein bisschen gesund und ein bisschen krank, ein bisschen ausländisch und ein bisschen inländisch. Die Umverteilung zwischen verschiedenen Individuen würde weiterhin stattfinden. Ein negatives Generationenkonto bedeutet aber, dass an die Generation mehr verteilt wird, als sie über alle Gruppen und Schichten hinweg selbst einbringt.

Mangelnde fiskalische Nachhaltigkeit und Migration

Wenn aber die Generationenkonten der inländischen Nulljährigen negativ sind, wenn selbst inländische Kinder den Staat über ihren Lebenszyklus hinweg mehr kosten, als sie an ihn bezahlen, wird der Fiskus durch mehr Personen nicht konsolidiert. Im Gegenteil: ohne Anhebung des Abgabenniveaus oder Reduktion des Leistungsniveaus, steigen die zukünftigen Defizite im Barwert sogar an.

Nun wandern Migrierende selten im Alter von null Jahren ein und sind selten gerade einem durchschnittlichen Inländer entsprechend qualifiziert und weisen auch bezüglich des Transferleistungsbezugs selten gerade das durchschnittliche inländische Verhalten auf. Außerdem zeigen empirische Studien wie bspw. jene von Brell et al. (2020), dass Migrierende eine Phase der Integration benötigen, bis ihr Erwerbseinkommen das endgültige Niveau erreicht. Deshalb haben wir in unserer Studie verschiedene Szenarien betrachtet, in denen wir verschiedene Annahmen bezüglich der Integrationsdauer, des Qualifikationsniveaus und des Umfangs der zukünftigen Migration unterstellt haben.[2]

Migration kann dabei helfen die Staatsfinanzen zu konsolidieren

Wir kommen zu dem Ergebnis, dass eine dauerhafte Anhebung der durchschnittlichen Qualifikation der Zuwandernden gepaart mit einer dauerhaften Steigerung der jährlichen Nettomigration um ein gutes Drittel, die fiskalische Belastung zukünftiger Generationen um ein knappes Drittel reduzieren könnte. Oder allgemeiner ausgedrückt: Unter optimistischen Annahmen kann zukünftige Migration einen nennenswerten Teil der Lasten des demografischen Wandels zukünftiger Generationen tragen und so die Belastung pro Kopf reduzieren. Sie ist aber weit davon entfernt diese Lasten aufzuwiegen und fiskalpolitische Reformen zu ersetzen. Zukünftige Migration erhöht sowohl den Reformbedarf als auch die Wirkung konsolidierender Reformen. Denn durch die Migration in ein nicht nachhaltiges Steuer- und Sozialsystem, entstehen zwar zusätzliche Defizite, gleichzeitig entsteht aber zusätzliches Potenzial zur Tilgung dieser Defizite. Wenn also das Leistungsniveau reduziert oder das Abgabenniveau erhöht wird, erlaubt qualifizierte Migration geringere relative Anpassungsraten. Grundvoraussetzung ist dabei aber die Anpassung des Leistungs- bzw. Abgabenniveaus.

Woher kommen sie denn nun, die 5 Billionen Euro? Wenn man den Barwert aller Nettoabgaben an zukünftige Migrierende in unserem Referenzszenario berechnet, ergibt sich ebenfalls ein negativer Wert mit einem Betrag von etwa 5 Billionen Euro. Wenn das staatliche Abgaben- und Leistungssystem unverändert bliebe, würden zukünftige Migrierende also bedeutend mehr Leistungen vom Staat beziehen, als sie Abgaben bezahlen. Das zeigt nicht in erster Linie ein Problem der Qualifikationsstruktur der Migrierenden auf, sondern ein Problem der Refinanzierungsstruktur. Anhand eines – und ich betone vollkommen hypothetischen – Szenarios, in dem keine Kinder mehr geboren würden, ergäbe sich, dass die zukünftig geborenen Kinder den Staat viele Billionen Euro kosten werden. Beide Szenarien sind gleichermaßen dystopisch und unrealistisch. Und doch verdeutlichen sie, vor welch gewaltigen demografisch induzierten Belastungen der deutsche Fiskus steht, wie viel mehr aktuelle Generationen vom Staat beziehen, als es zukünftigen Generationen möglich sein wird.

Fazit

Unsere Szenariorechnungen zeigen, dass Migration ein nicht nachhaltiges System staatlicher Einnahmen und Ausgaben nicht nachhaltig machen kann. Das liegt zum einen daran, dass die Migration als Äquivalent eines fossilen Treibstoffs des Sozialstaats zu betrachten wäre, der dem System dauerhaft zugeführt werden müsste. Und zum anderen daran, dass die benötigte Anzahl und Qualifikation der Migrierenden zur Beibehaltung des Sozialstaats in seiner derzeitigen Struktur schier unerreichbar weit von der aktuellen Situation entfernt ist.

Dauerhafte qualifizierte Erwerbsmigration kann die fiskalischen Auswirkungen des demografischen Wandels zwar durchaus lindern. Aber selbst unter optimistischen Annahmen, kann Migration uns nicht dauerhaft in die luxuriöse Situation zurückversetzen, in der sich der Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten befand. Eine Situation, in der wenige Alte versorgt werden mussten, viele Erwachsene sie versorgen konnten und gleichzeitig wenige zu versorgende und auszubildende Kinder nachkamen.

Wie utopisch der Versuch einer Verstetigung der Altersstruktur, wie sie infolge des Babybooms der 1960er Jahr vorlag, ist, zeigt sich nicht in erster Linie in der genauen Parametrisierung der Integrationsdauer sowie des Qualifikations- und Transferleistungsniveaus, sondern bereits schlicht in der unterstellten Altersstruktur bei gleichzeitig vorliegender beruflicher Qualifikation. Denn junge ausgebildete Personen sind nicht nur für das deutsche Sozialsystem wertvoll. Im Gegenteil, es stehen erstens alle westlichen Industrienationen im Wettbewerb um diese Arbeitskräfte und zweitens werden die Heimatländer dieser Migrierenden, die in ihre Versorgung und Ausbildung als Kinder und Jugendliche investiert haben, unsere Sozialsysteme nicht dauerhaft beliefern wollen. Die Suche nach ausgebildeten Arbeitskräften in wirtschaftlich weniger leistungsfähigen Ländern bedeutet eher das Wiederaufleben kolonialistischen Ressourcenentzugs als die Schaffung einer nachhaltigen Fiskalstruktur.

Literatur

Raffelhüschen, B., Seuffert, S., Wimmesberger, F. (2024). Ehrbarer Staat? Fokus Migration: Zur fiskalischen Bilanz der Zuwanderung, Argumente zu Marktwirtschaft und Politik, 173.

Raffelhüschen, B., Seuffert, S., Wimmesberger, F. (2023). Die fiskalischen Chancen und Risiken der Migration im Kontext des demografischen Wandels, Forschungsbericht im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Brell, C.; Dustmann, C.; Preston, I. (2020): The Labor Market Integration of Refugee Migrants in High-Income Countries, Journal of Economic Perspectives 34 (1), S. 94–121.


[1] Raffelhüschen, B., Seuffert, S., Wimmesberger, F. (2024).

[2] Eine ausführliche Erläuterung der Methodik und der unterstellten Annahmen findet sich in einer weiteren Studie, die wir im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung erstellt haben: Raffelhüschen, B., Seuffert, S., Wimmesberger, F. (2023).

Podcast zum Thema:

Fiskalische Nachhaltigkeitslücken des (Sozial)Staates: Kann Migrationspolitik die Staatskassen sanieren?

Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen (ALU)


Stefan Seuffert
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