Gastbeitrag:
Rationalität auf dem Markt, Irrationalität in der Politik ?

Wenn man von den durchaus vorhandenen fachinternen Unterschieden mal absieht, dann gehen die meisten Wirtschaftswissenschaftler von der Rationalitätsprämisse aus, wonach Menschen versuchen, die Handlungsfolgen abzuschätzen und sich zumindest um Nutzenmaximierung bemühen. Ob sich die verhaltenstheoretische Psychologie mehr im Jargon oder auch in der Substanz von diesem Menschenbild unterscheidet, darüber kann man streiten. Klinische oder Tiefenpsychologen begegnen diesem Menschenbild mit einer Mischung aus Skepsis und Entsetzen über die Realitätsferne der Prämisse. Soziologen neigen dazu, die Einflüsse von sozialen Normen und Mitmenschen auf Handlungen hervorzuheben. Seit den späten 1950er Jahren kann man beobachten, dass das ökonomische Menschenbild vor allem in Amerika auf die benachbarten Sozialwissenschaften übergreift, zunächst mit der ökonomischen Demokratietheorie auf die Politikwissenschaft, später auch auf die Soziologie. Der immer noch anhaltende Siegeszug des ökonomischen Menschenbildes wird von der Merkwürdigkeit begleitet, dass experimentelle Studien Evidenz dafür geliefert haben, dass dieses Menschenbild nicht ganz stimmt und der Modifikation bedarf. Bisher sieht es allerdings so aus, als ob man einigermaßen unfassende sozialwissenschaftliche Theorien nur auf einem stark vereinfachten Menschenbild aufbauen kann. Der ,homo oeconomicus’ besticht durch die Einfachheit des Menschenbildes, das auf  Eigennutz und Maximierungsversuch aufbaut.

Zentralbegriff der ,alten’ ökonomischen Demokratietheorie ist die rationale Ignoranz. Weil die eigene Stimme in der Massendemokratie fast gar keinen Einfluss auf das Wahlergebnis und die daraus folgende Politik hat, lohnt es sich für den ,homo oeconomicus’ nicht, Informationskosten auf sich zu nehmen. Was an Informationen aufgenommen wird, das hängt eher vom Unterhaltungswert der Nachricht als von deren Bedeutung ab. Im amerikanischen Wahlkampf wussten viele Wähler zwar, wie Bushs Hund heißt, aber kaum etwas über das Programm des Kandidaten. Wenn die eigene Stimme in einem Millionenmeer von anderen Stimmen versinkt, dann ist Ignoranz auch vernünftig.

Nur bei Partikularinteressenten wird die Ignoranz überwunden. Bauern wissen über Agrarsubventionen, Bergarbeiter über Steinkohlesubventionen, Unternehmer über steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten und Studenten über Studiengebühren viel besser als der Rest der Wählerschaft Bescheid. Wenn nur Partikularinteressenten halbwegs informiert sind, die Masse der nur indirekt als Steuerzahler oder Konsumenten betroffenen Bürger aber fast gar nicht, dann lohnt es sich für Politiker, die ja gewählt werden wollen, bei jeder spezifischen Politik, sich weitgehend den Wünschen der betroffenen und informierten Minderheiten zu unterwerfen, für diese spürbare und möglichst große Vorteile durchzusetzen – auch und gerade zulasten schlecht oder gar nicht informierter Mehrheiten. Wer nichts weiß, kann nicht intelligent wählen. Die Kosten der Umverteilung können für viele wenig Belastete zwar einzeln gering, aber in der Summe doch sehr hoch werden. Ineffizienz ist in dem Sinne möglich, dass die Summe der Verluste die Summe der Vergünstigungen weit übertrifft. Rationale Ignoranz bei den Wählern erzwingt also eine schlechte Wirtschaftspolitik.

Diese jedenfalls innerhalb der ökonomischen Theorie der Politik ,klassische’ Auffassung stellt ein amerikanischer Ökonom mit seinem Buch über den Mythos des vernünftigen – und deshalb rational ignoranten – Wählers infrage. Die Wirklichkeit ist viel schlimmer: Menschen sind Schafsköpfe, wie auf dem Umschlag plastisch illustriert wird. Wie die alte ökonomische Theorie der Politik stellt Caplan nicht infrage, dass Menschen sich auf dem Markt viel vernünftiger als in der Politik verhalten. Aber die menschliche Unvernunft in der Politik beruht nicht nur auf Informationskosten und unserer Scheu diese zu tragen und den daraus resultierenden Durchsetzungschancen von Interessengruppen, sondern auf einer weit verbreiteten Neigung, gefühlsmäßig Meinungen zu wirtschaftspolitischen Sachverhalten zu entwickeln (z.B. eine Präferenz für gerechte statt für Knappheitspreise) und kritische Auseinandersetzungen mit diesen zu vermeiden.

Für Caplan ist Irrationalität der Normalfall der ,conditio humana’ und das Auftauchen von rationalen Handlungen bei Menschen an spezifische Bedingungen gebunden. Ohne Anreize gibt es keine Rationalität. Nach Caplan handeln wir nur dann rational, wenn die negativen Auswirkungen unserer Entscheidungen für uns selbst uns zum Aufbau eines realistischen Weltbildes zwingen. Auch wer die marktübliche Entlohnung als ungerecht empfindet, wird sich bei Verhandlungen mit potenziellen Arbeitgebern an marktüblichen Löhnen orientieren müssen, also an der Realität von Knappheitsverhältnissen. In der Wirtschaft ist Anpassungszwang an die Realitäten der Normalfall. Anders in der Politik und vor allem bei Wahlen. Die Folgen der eigenen Stimmabgabe eines Wählers sind in der Massendemokratie erstens kaum nachweisbar und betreffen zweitens vorwiegend andere. Die Kosten irrationaler Entscheidungen werden verteilt. Selbst wenn man leidet, dann doch mehr an der Irrationalität der Wahlen entscheidenden Anderen als an den Folgen der eigenen Irrationalität. Unter diesen Bedingungen bleibt man irrational. Caplan etikettiert seine Perspektive als ,rationale Irrationalität’, weil es vernünftig ist, irrational zu bleiben statt die Rationalitätskosten (an Wohlbefinden) zu tragen, wenn man nichts davon hat. 

Caplans Menschenbild zeichnet sich durch noch eine andere Abweichung vom üblichen ökonomischen Menschenbild aus. Er unterstellt uns Menschen nicht durchgängig Eigennutz-Orientierung, allerdings einen Zusammenhang von Eigennutz-Orientierung und Rationalität. Nur dann, wenn das Handeln nach Weltbildern, mit denen wir uns wohl fühlen, negative Rückwirkungen auf uns selbst hat, bemühen wir uns um rationalistischer Weltbilder und rationales Handeln. In der kapitalistischen Wirtschaft ist das der Regelfall, in der demokratischen Politik eher selten. Mangels Rationalitätsdruck entwickelt der Durchschnittswähler nach Caplan noch nicht einmal eine Eigennutz-Orientierung! Hier leisten wir Menschen uns eine gedankenlose Gemeinwohlorientierung, ein oberflächliches Gutmenschentum. Wo ein Umlageverfahren der Rentenfinanzierung vorherrscht, ist die politische Unterstützung der Altersrenten fast unabhängig vom Alter. Wo es sozialstaatliche Umverteilung gibt, bleibt (immer nach Caplan) die Wahlentscheidung fast unabhängig vom Einkommen, also davon ob man eher zu den Gewinnern oder Verlierern der Umverteilung gehört. Zumindest mit amerikanischen Umfragedaten wird das recht gut belegt.

Mit Umfragen unter amerikanischen Ökonomen und sonstigen Wahlberechtigten lassen sich auch systematische Unterschiede in der Beurteilung wirtschaftspolitischer Fragen nachweisen. Wenn man Caplan darin folgt, die Fachleute als Rationalitätsstandard zu akzeptieren, dann neigen die Wähler systematisch dazu, die Leistungsfähigkeit von Märkten und Preisen, die Vorteile des freien Handels mit Ausländern und des technologischen Wandels, wenn dieser Arbeitsplätze zu kosten scheint (die aber– wie die Fachleute wissen – anderswo neu entstehen), zu unterschätzen. Die Wähler neigen auch mehr als die Fachleute zur Zukunftsangst. 

Unter dem Druck der irrational-altruistischen Wähler müssen die Politiker nach Caplan eine interventionistische, protektionistische und unrentable Arbeitsplätze konservierende Wirtschaftspolitik betreiben. Rationalität im Sinne von Offenheit für ökonomische Beratung wird nur dann möglich, wenn die Wähler ihre Stimme nicht nur nach Konformität der Politiker mit ihren eigenen unrealistischen Vorstellungen abgeben, sondern wenn die Wähler die Politiker auch nach dem Wohlstandsgewinn oder Wohlstandsverlust beurteilen. Dann stecken die Politiker in der Klemme: Wenn sie den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Wähler folgen, dann wird das Wohlstandsziel verfehlt und die Politiker werden deshalb abgestraft. Wenn die Politiker dagegen versuchen, das Wohlstandsziel mit nach Meinung der Fachleute geeigneten Mitteln zu erreichen, dann riskieren sie, dass die Wähler ihre Politik als ,ungerecht’ einstufen. Politiker müssen diese Risiken abwägen. Versuchungen zur Heuchelei entstehen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Glaubwürdigkeit von Politikern möglicherweise steigt, wenn ihnen die Distanz zu den Einsichten der Fachleute besonders leicht fäll. In diesem Zusammenhang weist Caplan darauf hin, dass es im amerikanischen Kongress sehr viel mehr Juristen als Ökonomen gibt.

Bemerkenswert wegen der unorthodoxen Schlussfolgerung ist noch der Befund, dass der durchschnittliche Wähler formal gebildeter als der durchschnittliche Nichtwähler ist, dass formal Gebildete weniger stark als Ungebildete von der Meinung der Fachleute abweichen – nebenbei nicht nur in Wirtschaftsfragen, sondern auch in der Toxikologie. Wenn das so ist, dann bedeuten niedrigere Wahlbeteiligungen verbesserte Chancen für Vernunft in der Politik. Weil die Menschen als Wähler nach Caplan gedankenlose Altruisten und nicht etwa kühle Rechner sind, ist auch nicht zu befürchten, dass die besser gebildeten und besser verdienenden Wähler systematisch eine Politik zulasten der schlechter gebildeten und schlechter verdienenden Nichtwähler befürworten. 

Das Buch liefert eine neue Perspektive für die Demokratieforschung, für die Politische Ökonomie und sogar für die Sozialwissenschaften überhaupt. Die politische Stossrichtung ist nicht etwa die Befürwortung der Neutralität zwischen Demokratie und Autokratie, sondern – typisch ökonomisch – die Befürwortung eigennützigen Markthandelns als eine Art dritter Weg zwischen Demokratie und Autokratie. Sicher wird es massive Kritik an diesem Buch aus vielen Richtungen geben. Aber ich bin davon überzeugt, dass man bald viele sozialwissenschaftliche Probleme nicht mehr in Unkenntnis von Caplans Herausforderung wird diskutieren können. 
                                                                                                     

Bryan Caplan: The Myth of the Rational Voter. Why Democracies Choose Bad Policies. Princeton University Press, Princeton, NJ 2007, 276 S., 29,95 US-Dollar.

7 Antworten auf „Gastbeitrag:
Rationalität auf dem Markt, Irrationalität in der Politik ?“

  1. Ein großes Problem sehe ich darin, daß Ökonomie hierzulande (Österreich, aber ich denke daß es anderswo nicht wesentlich anders aussieht) ein schwarzer Fleck auf der Landkarte der Allgemeinbildung ist.

    Wenn überhaupt, erfolgt die Darstellung im Sinne von „es gibt mehrere, sich widersprechende Theorien – von Marx bis Keynes, welche Recht hat, ist eine rein politische Diskussion“. Grundlagen zum Thema Markt, werden bestenfalls knochentrocken („wir schneiden jetzt eine Angebots- und eine Nachfragekurve…“) heruntergebetet.

    Wäre der naturwissenschaftliche Unterricht in einem ähnlichen Zustand, würden wir noch immer den Äther als eine brauchbare Theorie und „Intelligent Design“ als plausible Erklärung der Entstehung der Arten kennenlernen.

    Es ist bezeichnend, daß irrationale politische Versprechungen hauptsächlich im ökonomischen, und nur äußerst selten im naturwissenschaftlichen Bereich gemacht werden. Eine Ausnhame bilden eventuell die „alternativen Energien“, doch das dafür relevante Wissen „Aufbau und Betrieb von Energienetzen“ ist auch nicht Bestandteil des allgemeinen Curriculums.

    Ich glaube, daß sich der Wähler sehr wohl bemüht, rational zu entscheiden, daß ihm jedoch die Information fehlt, auf die er seine Entscheidung gründen könnte.

  2. Das ökonomische Weltbild hat auch längst auf die Biologie übergegriffen, das nennt sich dann Soziobiologie.

  3. @ Burkhard Grafenstein

    Das würde ich eher andersherum sehen: Die Evolutions- und Soziobiologie wäre eine Chance für die Ökonomie, endlich naturwissenschaftlichen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Mensch ist kein rationaler Akteur, sondern ein über Jahrhunderttausende in Kleingruppen evolviertes, biologisches Wesen. Gerade auch an den Börsen lassen sich Effekte wie verkürzte Wahrnehmungen, Herdentrieb, Aberglauben etc. wunderbar studieren.

    Große Ökonomen wie Friedrich August von Hayek (der sich konstruktiv-kritisch mit biologischen und soziobiologischen Autoren auseinander setzte) waren durchaus schon auf dieser Spur und hätten die Ökonomie zu neuer Blüte führen können, leider sind große Teile der Zunft wieder hinter diesen Stand zurück gefallen und versuchen uns immer noch Menschenbilder zu verkaufen, die der Realität nicht einmal annähernd gerecht werden und zu grotesk falschen Vorannahmen führen.

  4. Mir kam es so vor, dass Richard Dawkins sich das „egoistische Gen“ wie einen kleinen homo oeconomicus vorstellt, der seinen Nutzen zu mehren bestrebt ist.

    Dass das Bild des Naturwissenschaftlers von der Natur von der Gesellschaft, in der er lebt, beeinflusst ist, ist natürlich eine irritierende These.

    Ansonsten Zustimmung.

  5. Hier einige Kapitelüberschriften und Stichworte aus einer deutschen Einführung in die Soziobiologie:

    „Kosten und Nutzen in der Bilanz“

    „Wettbewerb“

    „Spermienkonkurrenz“

    „Ausbeutung“

    „Elterninvestment“

    Die Soziobiologen scheinen so eine Art Soziobioökonomen zu sein.:-)

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