Weshalb Freiheit (einen Rest) Anarchie erfordert

Für viele Menschen ist Freiheit dasselbe wie Anarchie. Sie nennen die Marktwirtschaft eine „Ellenbogengesellschaft“. Sie werden in dieser Auffassung bestärkt von Politikern und Gewerkschaftsführern, die daran ein Interesse haben.


Eine Ellenbogengesellschaft ist eine Welt, in der jeder jedem Gewalt antun kann. Es gilt das „Recht des Stärkeren“ oder das „Gesetz des Dschungels“. Das ist der mythische Urzustand des Thomas Hobbes, in dem jeder jedes anderen Feind ist. Die Anarchie erzeugt ein Gleichgewicht, aber es ist ein Gleichgewicht des Schreckens. Bei Thomas Hobbes und John Locke wird dieser wilde Urzustand durch den Gesellschaftsvertrag beendet. Es wird ein Staat gegründet, der das Gewaltmonopol erhält und jeden einzelnen vor Übergriffen der Anderen schützt. Das ist für alle vorteilhaft, denn damit wird der Rüstungswettlauf beendet und ein Kooperationsgewinn – eine „Friedensdividende“ – erzielt.
  
Ergebnis des Gesellschaftsvertrages ist – jedenfalls bei John Locke – der freiheitliche Rechtsstaat. Zu den Schutzrechten gehört auch das Recht auf Eigentum. Zum Recht auf Eigentum gehört das Recht, Güter, die einem gehören, zu tauschen oder zu verkaufen. Darüber werden Verträge geschlossen. Wenn der Staat Vertragsfreiheit gewährt und die von den Bürgern geschlossenen Verträge durchsetzt, ist die Marktwirtschaft geboren.
  
Da die Marktwirtschaft auf freiwillig geschlossenen Verträgen, d.h. auf gegenseitiger Zustimmung, beruht, ist sie das Gegenteil einer Ellenbogengesellschaft. Sie ist eine Zustimmungsgesellschaft, ein herrschaftsfreier Koordinationsmechanismus. Deshalb haben Liberale aller Zeiten Freiheit und Anarchie als Gegensätze betrachtet: die freiheitliche Ordnung ist die Überwindung der Anarchie.
  
Leider kommt die Freiheit jedoch nicht ohne einen Rest Anarchie aus. Ich meine damit nicht, dass sich in jedem Staat – auch dem demokratischen – Elemente der Anarchie einschleichen. Denn wenn der Gesellschaftsvertrag – die Verfassung – aus praktischen Gründen in weiten Bereichen Mehrheitsentscheidungen zulässt, wird die Mehrheit versuchen, sich zu Lasten der Minderheit zu bereichern. Auch gut organisierte Interessengruppen sind eine Gefahr für die Eigentumsrechte der Anderen. Das ist „das Neue Hobbessche Dilemma“ (Buchanan und Tullock). Der Kampf ist aufs neue entbrannt, und der Rüstungswettlauf eskaliert. Jetzt kämpfen nicht mehr einzelne Horden gegeneinander, sondern alle um die Wohltaten aus dem Füllhorn des Staates.
  
Diese Elemente der Anarchie sind kaum zu verhindern. Aus der Sicht des Liberalen sind sie zweifellos unerwünscht. Aber kann ein Rest Anarchie vielleicht auch wünschenswert sein?
  
Die Existenz des Neuen Hobbesschen Dilemmas deutet bereits an, dass der Gewaltmonopolist Staat nicht unbedingt das tut, was der Gesellschaftsvertrag ihm aufgibt. Deshalb stellt sich die Frage, wie die von den Bürgern beauftragten Entscheidungsträger dazu veranlasst werden können, die Freiheitsrechte des Einzelnen tatsächlich zu respektieren und zu schützen. Qui custodiet ipsos custodes?
  
Die einschlägigen Mittel sind bekannt: die Möglichkeit, die Regierung abzuwählen (Demokratie); die Gewaltenteilung einschließlich einer unabhängigen Gerichtsbarkeit; die Option abzuwandern oder zumindest einen Großteil des Eigentums ins Ausland zu verlagern. Die Schwächen der ersten beiden Lösungen sind ebenfalls bekannt: sie schützen bestenfalls die Mehrheit der Bürger vor dem Staat, aber nicht die Minderheit. Auch die obersten Richter – die Richter des Verfassungsgerichts – werden ja von der Politik (den Parteien) ausgewählt und entscheiden mit Mehrheit. Die Freiheit der Minderheit kann daher letztlich nur durch die Abwanderungsoption geschützt werden. Schon Montesquieu, Adam Smith, Immanuel Kant und vor allem Lord Acton haben darauf hingewiesen. Es ist nicht nötig, dass tatsächlich in großem Umfang Wanderungen stattfinden. Schon die Möglichkeit reicht aus, die Übergriffe der Herrschenden oder der Mehrheit zu begrenzen. Die Geschichte Europas ist dafür das beste Beispiel.
  
Der Schutzmechanismus funktioniert jedoch nur, wenn sich die Regierungen der verschiedenen Staaten nicht miteinander absprechen. Wenn sie die Steuern und Regulierungen im Rahmen einer internationalen Organisation „harmonisieren“ oder wenn gar die Mehrheit der hoch besteuerten und hoch regulierten Länder den anderen ihre Steuersätze und Regulierungen aufzwingen kann, um diese ihres Wettbewerbsvorteils zu berauben, hat der Einzelne keine Wahl und verliert seine Freiheit. Am geringsten ist die Freiheit in einem Weltstaat, der das Gewaltmonopol besitzt und daher auch Steuern erheben und Regulierungen erzwingen kann (und wird). Ihm kann niemand entkommen.
  
Denkt man das Hobbessche Argument bis zuende, so kann jedoch nur der Weltstaat die Anarchie restlos beseitigen. Solange es einzelstaatliche Gewaltmonopole gibt, geht der Rüstungswettlauf weiter, bleiben gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Staaten möglich, ja an der Tagesordnung. Auch die internationalen Eigentumsrechte der Privaten sind nur unvollkommen geschützt. Internationale Vereinbarungen über militärische Abrüstung und den Schutz der Eigentumsrechte können die Probleme entschärfen, aber ganz ausräumen können sie sie nicht. Verteidigungsbündnisse können helfen, ein internationales Machtgleichgewicht aufrecht zu erhalten, aber letztlich wird dies immer ein Gleichgewicht des Schreckens sein. Es bleibt also ein Rest Anarchie. Er ist in Kauf zu nehmen. Denn ohne ihn ist Freiheit nicht möglich.

5 Antworten auf „Weshalb Freiheit (einen Rest) Anarchie erfordert“

  1. Auch ein Weltstaat kann Anarchie nicht beseitigen. Denn sein(e) Herrscher selbst wäre(n) unbeherrscht und lebte(n) daher in Anarchie.

    Ein passender Lesetipp:
    Cuzan, Do we ever really get out of anarchy?
    http://mises.org/journals/jls/3_2/3_2_3.pdf

    Auch bin ich mit dem Grundton unzufrieden. Herr Vaubel weiß und schreibt ja, dass die Möglichkeit der Auswanderung den Zugriff der Herrschenden zu begrenzen. Der bestehende Rest an Anarchie ist vor diesem Hintergrund nicht „in Kauf zu nehmen“ (was man widerwillig tut), sondern zu begrüßen. Will man den Zugriff der Herrschenden besser beschränken, so bedarf es eines wesentlich größeren Umfangs an Anarchie als derzeit gegeben.

    Landläufig wird der Tod des Sozialismus für den empfundenen wirtschaftlichen Niedergang benannt: Angeblich hätten die sozialistischen Staaten den Kapitalismus an die Kette gelegt. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten sich die Kapitalisten ungeniert ausbeuterisch gerieren dürfen. Ist es in Wahrheit nicht viel eher die gleichzeitig einsetzende rechtliche Harmonisierung Europas mit ihrem Mehr an Herrschaft, der man nicht ausweichen kann, und ihrem Weniger an Anarchie?

  2. Ob die angebliche „Tyrannei der Mehrheit“ über die Minderheit oder vielmehr eher umgekehrt die „Tyrannei einer einflußreichen Minderheit“ über die Mehrheit das größere Übel darstellt, ist die Frage, die sich anarchistisch gesinnte Liberale vielleicht auch einmal stellen sollten. Und:

    „Nicht die Freiheit hat im Eigentum, sondern das Eigentum findet in der Freiheit seine Begründung und Begrenzung.“

  3. Homo homini lupus est!
    Das schließt doch die Staatsgewalt nicht aus! Auch ein Staatengebilde kann durchaus in den Hobbes’schen Urzustand zurückfallen. Ausbeutung und die Macht des Stärkeren wird dadurch nur anders kanalisiert. Es wird nicht mehr um Leben und Tod gekämpft, sondern um Wohlstand oder Armut.
    Die Knappheit der Ressourcen ist bei Hobbes und Locke der springende Punkt. Auch der Urzustand könnte für alle zufriedenstellend ausfallen, dies wird allerdings durch die Knappheit der Ressourcen eingeschränkt.
    Nun schafft es der Staat, Eigentum zu gewährleisten, jedoch ist der heutigen Zeit nicht abzusprechen, dass sich die Mehrheit dieses Eigentums sich auf immer weniger Schultern verteilt, zumindest in den westlichen Industriestaaten, wodurch sich nach obiger Argumentation auch die Fähigkeit (frei) zu handeln einschränkt.
    Dehnt man den Eigentumsbegriff aus und bezieht ihn auf das Eigentum an Rechten (hierzu zähle ich auch Währung), so könnte beispielsweise in einem Staat mit Arbeitslosigkeit, also einem Nachfrageüberhang am Arbeitsmarkt, die Herrschaftsmacht doch durchaus der Nachfrageseite zugesprochen werden. Sie diktiert die Kriterien für die Inanspruchnahme des Angebots.
    Damit würde ich also schon die Überwindung des Urzustandes in Zweifel ziehen.

    Nun ist der Schutz von Minderheiten durchaus erstrebenswert. Schutz ist hier jedoch nicht gleichzusetzen mit dem Recht zur Durchsetzung aller eigener Interessen. Ist es denn nicht essentieller Teil der Demokratie, der Mehrheit das Recht zuzusprechen, grundlegende Entscheidungen allgemeingültig zu treffen?
    Durch Abwanderung ist der Staat aus meiner Sicht auch nicht unter Druck zu setzen, denn das ändert die Mehrheitsverhältnisse nicht. Es kann erst dann Einfluss haben, wenn größere Mengen Eigentum abwandern. Dies schützt dann aber nur Großeigentümer, nicht die Masse der Minderheit. Außerdem stellt sich dadurch auch der Einzelne nicht besser, außer er wechselt in einen Staat, in dem seine Ansichten die Mehrheit bilden.
    Dass Mehrheitsentscheidungen zu Anarchie führen, liegt in der Annahme über die Grundeigenschaften des Menschen begründet und ist nicht ein Mangel am System! Wenn der Mensch grundsätzlich danach bestrebt ist, sich zu Lasten anderer zu bereichern, ändert eine Systemumstellung nichts am Problem, es verschiebt es nur. Dann wäre ein Zurück zur Anarchie die einzige Lösung, da diese Form des Zusamenlebens keine menschliche Kontrolle beinhaltete.

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