Seit Mitte des vergangenen Jahres, in dem der Preis für Rohöl über 100 US-Dollar pro Barrel lag, hat ein dramatischer Preisverfall (siehe Abbildung 1) stattgefunden. Mitte Januar 2015, also nach nur etwa einem halben Jahr, ist er auf weniger als die Hälfte dieses Ausgangswertes gesunken. Einen derartigen Preiseinbruch gab es zuvor nur in der großen Finanz- und Wirtschaftskrise, allerdings lag in 2014 keine derartig einschneidende Krise vor.
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Diese äußerst ungewöhnliche und für den Verbraucher unzweifelhaft sehr erfreuliche Entwicklung hat in der Zwischenzeit zu vielen Diskussionen Anlass gegeben und – überraschenderweise – auch die Frage aufgeworfen, ob ein solcher Preistrend nicht gar schädlich sei. Deshalb wollen auch wir uns im Folgenden den Fragen stellen, wie diese Preisentwicklung zu erklären ist, welche Auswirkungen sie für die deutsche (europäische) Volkswirtschaft hat und ob die niedrigen Ölpreise von Dauer sein können?
Ursachen des Verfalls der Erdölpreise
Die Entwicklung von Preisen lässt sich allgemein durch Veränderungen in Angebot und Nachfrage rekonstruieren. Angebotserhöhungen und Nachfragesenkungen führen jeweils zu Preissenkungen, Angebotseinbrüche und Nachfragesteigerungen bewirken Preiserhöhungen. Im vorliegenden Fall liegt eine signifikante Zunahme des Angebots bei einer nur moderaten Zunahme der Nachfrage vor. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der Angebotsseite.
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Die Ursachen für die Angebotserhöhung liegen in der Zunahme der Rohölgewinnung aus unkonventionellen Lagern („Fracking“), Haushaltsproblemen diverser ölexportierender Länder und politischen Einflüssen.
Im Hinblick auf das Fracking ist vor allem die Rolle der USA hervorzuheben, die sich von einem Ölimporteur zu einem Nettoexporteur gewandelt hat. Abbildung 3 zeigt die US-amerikanische Entwicklung der Ölgewinnung und verdeutlicht, wie die neuen Technologien zu einer Trendwende in den USA geführt haben.
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Diese Entwicklung – darauf sollte schon an dieser Stelle hingewiesen werden – wurde allerdings erst durch die zuvor erfolgten Erdölpreiserhöhungen ermöglicht, da die Technologie des Frackings mit höheren Kosten verbunden ist.
Die sinkenden Erdölpreise setzen außerdem einige Länder im Hinblick auf ihren Staatshaushalt unter nicht unerheblichen Druck. Iran, Russland und Venezuela benötigen die Devisen aus den Erdölverkäufen dringend, um ihre Ausgaben zu finanzieren. Aus diesem Grund können sie die Produktionsquoten nicht einseitig senken. Darüber hinaus öffnete im Juli das vom Bürgerkrieg geschüttelte Libyen zwei zuvor gesperrte Exportterminals, was ebenfalls zu einer Erhöhung des Weltölangebots beitrug.
Schließlich fand im November 2014 in Wien ein Treffen der OPEC-Nationen statt, in dem es insbesondere darum ging, eine abgestimmte Verringerung der Produktionsmengen zu vereinbaren. Zur Überraschung vieler konnte sich die OPEC nicht zu entsprechenden Kürzungen im Angebot durchringen, was nicht nur den Druck auf die Preise aufrecht erhielt, sondern zugleich ein Signal dafür war, dass Saudi-Arabien sich dem Preistrend nicht entgegenstellen würde. Unklar bleibt, warum dies so ist. Dazu kursieren verschiedene Gerüchte: Eines davon behauptet, Saudi-Arabien versuche, im Verbund mit den Vereinigten Staaten, Russland wirtschaftlich unter Druck zu setzen, um nicht-ökonomische Ziele im Ukraine-Konflikt durchsetzen zu können. Ein anderes Gerücht besagt, Saudi-Arabien versuche, über den niedrigen Ölpreis den Fracking-Boom in den USA zu zerstören. Langfristig ist die Ölförderung aus unkonventionellen Lagern vermutlich nur mit Ölpreisen über 60 US-Dollar pro Barrel wirtschaftlich. Wenn der Ölpreis jedoch über längere Zeit unter diesen Wert fiele, wäre nicht auszuschließen, dass viele Fracking-Projekte aus dem Markt gedrängt werden. Auf diese Weise könnten die OPEC-Nationen wieder an Bedeutung gewinnen und später die Preise erneut erhöhen. Inwieweit diese beiden, ein wenig verschwörungstheoretisch anmutenden Gerüchte zutreffen könnten, kann hier nicht geklärt werden. Völlig unplausibel sind sie jedoch nicht.
Auf der Nachfrageseite lässt sich anführen, dass das weltwirtschaftliche Wachstum in 2014 als eher moderat anzusehen ist. Insbesondere China und der Euro-Raum wuchsen weniger stark als erhofft, was tendenziell preisdämpfend wirkte.
Schließlich ist noch die Bedeutung der geringen Preiselastizität von Angebot und Nachfrage hervorzuheben. Sie haben zur Folge, dass selbst moderate Mengeneffekte auf der Angebots- oder Nachfrageseite erheblich Preiseffekte nach sich ziehen können.
Die Wirkung des Preisverfalls
Derzeit wird oftmals diskutiert, inwieweit die sinkenden Ölpreise einen Einfluss auf die Inflationsrate ausüben und damit die Gefahr einer Deflationsspirale hervorrufen könnten. An anderer Stelle habe ich bereits ausgeführt, dass die „Gefahren der Deflation“ m.E. dramatisch überschätzt werden. Darüber hinaus muss jedoch festgestellt werden, dass die sinkenden Erdölpreise auch aus konjunkturtheoretischer Sicht einen positiven Angebotsschock darstellen. Sinkende Faktorpreise wirken kostensenkend und damit angebotsausweitend, beschäftigungs- und wachstumsfördernd. Außerdem müssen die Haushalte nur einen geringeren Teil ihres Einkommens für die importierten Energieträger Öl (und Gas) ausgeben, sodass sie ihre Nachfrage nach anderen Konsumgütern ausdehnen und damit die Konjunktur beleben können. Da die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank darüber hinaus die Anreize zum privaten Sparen deutlich verringert, ist davon auszugehen, dass dieses zusätzliche Potential zur Stärkung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage auch realisiert wird.
Einschränkend muss allerdings festgestellt werden, dass der expansive Effekt sinkender (in US-Dollar gehandelter) Ölpreise durch die Abwertung des Euros abgeschwächt wird, da diese die Importe verteuert. Je stärker der Euro abgewertet wird, desto geringer fällt der konjunkturelle Impuls sinkender Ölpreise aus. Gleichzeitig werden jedoch auch deutsche Exporte für das Ausland günstiger, was die Wettbewerbsfähigkeit exportierender Unternehmen erhöht und damit einen expansiven Impuls zur Folge hat. Welcher dieser beiden Effekte dominiert, ist nicht eindeutig.
Niedrige Ölpreise als Dauerzustand?
Wie oben gezeigt wurde, gibt es gute ökonomische und politische Gründe für das Sinken der Erdölpreise. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass es sich bei Öl um eine nicht erneuerbare Ressource handelt und nicht erneuerbare Ressourcen eine etwas komplexere Preisbildung aufweisen als Standardprodukte. Dies sei im Folgenden kurz erläutert.
Kauft man auf einem ganz normalen Gütermarkt ein Produkt, sagen wir einen Laib Brot, so hat diese Kaufhandlung keinerlei Auswirkung auf den möglichen Kauf eines weiteren Laibes Brot in 10 Jahren. Selbst wenn der komplette Bestand einer Volkswirtschaft an Brot in einem Jahr verspeist wird, hindert dies nicht daran, im nächsten Jahr erneut Brot zu konsumieren. Außerdem wird ein Laib Brot, der im laufenden Jahr nicht konsumiert wird, in zehn Jahren keinen wirklichen Konsumnutzen mehr erzeugen können. Aus diesem Grund orientiert sich ein wettbewerblicher Preis ausschließlich an den Grenzkosten der Brotproduktion der laufenden Periode.
Diese Logik gilt nicht für erschöpfbare Ressourcen wie Öl oder Gas. Hier ist neben den Extraktions- und Aufbereitungskosten zu berücksichtigen, dass ein Barrel Öl, das im laufenden Jahr verbraucht wurde, nie wieder (zumindest nach menschlichen Zeithorizonten) zur Verfügung steht. Das Verbrennen eines Liters Benzin hat somit nicht nur verhindert, dass die Faktoren, die bei der Produktion des Benzins eingesetzt wurden, an anderer Stelle der Volkswirtschaft zur Verfügung standen, sondern es verringert auch das Potential des zukünftigen Benzinverbrauchs. Diese zweite Form von Opportunitätskosten wird bei der wettbewerblichen Preisbildung einen Preisaufschlag – eine Knappheitsprämie – bewirken (vgl. Erlei 2008a, Erlei 2008b und Neumann/Erlei 2014)). Je geringer der verbleibende Ressourcenbestand, desto größer wird die Knappheitsprämie ausfallen. Die Knappheitsprämie wird somit im Zeitverlauf steigen, was gleichzeitig zu einem Steigen des Ressourcenpreises führt.
Der Anstieg des Erdölpreises in den vergangenen fünf Jahrzehnten kann zu einem erheblichen Teil als Folge des Anstiegs dieser Knappheitsprämie verstanden werden. Natürlich wird dieser Prozess durch kurzfristige Einflussfaktoren überlagert, was zu Schwankungen um den langfristigen Preispfad führt. Auch Entdeckungen neuer Ölfelder oder die Einführung neuer Technologien ändern nichts an diesem Grundprinzip: Sie verschieben nur den Verlaufspfad der weiterhin langfristig steigenden Knappheitsprämie.
Dies gilt auch für die oben beschriebenen Einflussfaktoren der Preissenkungen in den vergangenen sechs Monaten. Die politischen Sondereinflüsse, wie etwa der Ukraine-Konflikt, werden nicht endlos andauern, sodass derzeit dominierende politische Faktoren wieder den wirtschaftlichen Gesichtspunkten weichen werden. Auch die Fracking-Technologie wird nur einen temporären Einfluss haben. Zum einen ist das Volumen an unkonventionellen Ölfeldern im Vergleich zu den konventionellen als eher klein anzusehen. Zum anderen unterliegen auch diese Lager dem Knappheitsprämien-Argument, sodass mittel- bis langfristig wieder von Preisen über 100 US-Dollar pro Barrel auszugehen ist.
Es ist allerdings äußerst schwierig zu prognostizieren, welcher konkrete Zeithorizont dieser mittleren bzw. langen Frist entspricht. Ein – wenn auch nur unvollkommenes – Signal dafür, dass die Preise auch schon in einigen Monaten wieder zunehmen werden, besteht darin, dass an den Terminmärkten die Future-Preise für Erdöl nach wie vor höher sind als die Spotpreise. Während der aktuelle (Spotmarkt-) Ölpreis am 15 Januar bei 48,3 US-Dollar pro Barrel lag, wurden am selben Tag Termingeschäfte für Dezember 2015 mit einem Preis von 57,6 US-Dollar pro Barrel gehandelt. Die Börsenhändler gehen somit ebenfalls von (moderat) steigenden Erdölpreisen aus.
Wenn also ein zukünftiger Wiederanstieg der Ölpreise wahrscheinlich ist, welche Konsequenzen folgen daraus? Zunächst sind die aktuellen Preise ein Grund zur Freude. Man genieße sie, solange dies möglich ist. In der Folge wird die Konjunktur belebt und der Konsumspielraum der Haushalte erweitert. Wir alle profitieren davon. Gleichzeitig sollte man sich nicht auf zukünftig niedrige Preise verlassen. Investitionen, die sich nur bei den aktuell niedrigen Preisen rechnen, dürften sehr riskant sein und der konjunkturelle Anschub sinkender Ölpreise könnte sich schnell in eine konjunkturelle Bremse steigender Preise verwandeln.
Literatur
Erlei, M. (2008a): „Ökonomik nicht-erneuerbarer Ressourcen I: Grundlagen“, in: Das Wirtschaftsstudium (WISU), Jg. 37, Heft 11, S. 1548 – 1554.
Erlei, M. (2008b): „Ökonomik nicht-erneuerbarer Ressourcen II: weiterführende Ansätze“, in: Das Wirtschaftsstudium (WISU), Jg. 37, 2008, Heft 12, S. 1693-1699.
Neumann, C. und Erlei, M. (2014): „Price Formation of Exhaustible Resources: An Experimental Investigation of the Hotelling Rule“, Working Paper, TU Clausthal.
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3 Antworten auf „Ölpreise im Sinkflug“