Wie gefährlich ist Deflation?

Unter den meisten Fachleuten herrscht Einigkeit: Deflation – verstanden als sinkende Preise bzw. negative Inflationsrate – stellt eine große Gefahr für die Entwicklung des Euro-Raums dar. Die Angst ist so groß, dass selbst eine positive Inflationsrate von 0,7 Prozent als Alarmsignal und Anlass zu geldpolitischen Maßnahmen verstanden wird.

Gleichzeitig wird beklagt, dass die europäischen Schuldenländer, hier ist natürlich vor allem Griechenland zu nennen, einen Ausweg aus der Krise nur durch eine „interne Abwertung“, also durch Lohn- und Preissenkungen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu anderen Nationen wieder herstellen, erreichen können. Dies entspricht natürlich schlicht und einfach einer Deflation!

Diese Einschätzung der Deflation als größtmöglicher Gefahr steht außerdem im Gegensatz zu den Wahrnehmungen der Konsumenten, die sich regelmäßig freuen, wenn die Preise für Mobiltelefone, Tablets oder Fernsehgeräte fallen. Doch wie kann es sein, dass sich eigentlich alle über sinkende Preise freuen, sie aber zugleich die größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung sein sollen? Im Folgenden wird versucht, die wichtigsten Argumentationen der Konsequenzen einer deflationären Entwicklung zu skizzieren und anhand einiger Statistiken einzuschätzen.

Die Auswirkungen einer Deflation

Das gängigste Argument gegen die Deflation besteht in der Vorstellung, sinkende Preise veranlassten die Konsumenten, ihren Konsum in die Zukunft zu verlagern. Auf diese Weise könnten sie sich später deutlich mehr (insb. dauerhafte) Konsumgüter leisten. Problematisch an dieser Sicht ist, dass die relative Günstigkeit der zeitlichen Verlagerung des Konsums nicht nur von den Preisen und ihrer Entwicklung, sondern auch vom Zinssatz abhängt. Denn auch ohne Deflation kann sich ein Konsument, der heute spart und dadurch Zinsen einnimmt, zukünftig mehr Güter leisten. Letztendlich ist es der Realzins, also der Nominalzins abzüglich der Inflationsrate (bzw. zuzüglich der Deflationsrate), die die Opportunitätskosten des sofortigen Konsums abbildet. Der Realzins ist in den vergangenen zwanzig Jahren durch geldpolitische Maßnahmen jedoch deutlich gesunken, sodass das Konsumverlagerungsargument keine allzu große Bedeutung haben dürfte. Dies lässt sich auch häufig mehr als deutlich erkennen, wenn eine neue Generation von Elektronikgeräten auf den Markt gebracht wird: Die Schlangen vor den Geschäften sind nicht selten sehr lang, obwohl alle wissen, dass die Preise schon in sechs Monaten deutlich geringer sein werden!

Ein zweites wichtiges Argument bezieht sich auf die Umverteilungswirkung einer Deflation, in der die Gläubiger gewinnen und die Schuldner real Verluste erleiden. Da Unternehmen typischerweise Netto-Schuldner sind, werden die durch Deflation erlittenen Verluste als Gefahr für die Wirtschaftlichkeit der Betriebe gesehen. Das Grundargument ist natürlich völlig korrekt, allerdings gilt auch für Unternehmen, dass Zinsänderungen zu berücksichtigen sind. In dem Umfang, in dem die Nominalzinsen bei Deflation sinken, wird der Netto-Verlust wieder ausgeglichen. Letztendlich werden vor allem Finanzierungen mit langfristig festgelegten Zinssätzen zu einem Problem. Darüber hinaus ist allerdings zu berücksichtigen, dass die im Rahmen einer Deflation zu erwartenden Lohnsenkungen (oder geringeren Lohnsteigerungen) die Unternehmen ebenfalls entlasten. Last but not least erhöht sich die Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten, was die Unternehmen ein weiteres Mal stärkt.

Das dritte zentrale Argument gegen die Deflation bezieht sich auf den Umstand, dass Löhne i.A. nur stark verzögert auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren. Sinkende Preise bedeuten dann Reallohnerhöhungen, was zu einer Verringerung der Arbeitsnachfrage und gegebenenfalls zu Arbeitslosigkeit führen wird. Entscheidend bei dieser Argumentation ist, dass die Deflation in dem Sinn überraschend kommt, dass sie in den Tarifverhandlungen nicht berücksichtigt wird. Zumindest in der gegenwärtigen Situation scheint die Entwicklung der Preise jedoch wenige Überraschungselemente aufzuweisen, sodass auch hier allenfalls moderate Effekte zu erwarten wären.

Damit bleibt also unklar, ob bzw. in welchem Ausmaß eine mögliche Deflation für die Entwicklung der Volkswirtschaften bedrohlich ist oder nicht. Um zumindest einen groben Anhaltspunkt zu bekommen, wird im Folgenden der Zusammenhang zwischen Inflation/Deflation und Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum betrachtet.

Deflation und Wirtschaftswachstum in den vergangenen 150 Jahren

Beginnen wir mit drei Graphiken über das Zusammentreffen von Inflation/Deflation und Wirtschaftswachstum für die USA, das Vereinigte Königreich (UK) und Deutschland (D).
Auf den vertikalen Achsen wird das Wirtschaftswachstum (reales Bruttoinlandsprodukt), auf der horizontalen Achse die Inflationsrate abgebildet. Jeder Punkt in den drei Graphiken stellt die Inflations-Wachstums-Kombination für ein bestimmtes Jahr dar. Die beiden roten Linien entsprechen der Nulllinie. Somit befinden sich alle Punkte links von der vertikalen Linie in einem Deflationsjahr.

Inflation 1
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Für alle betrachteten Länder lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen Wachstum und Inflation erkennen. Auch die Punkte im Deflationsbereich ergeben kein eindeutiges Muster. Allenfalls für die USA könnte man den vagen Eindruck gewinnen, dass der Anteil der Perioden mit schrumpfendem Inlandsprodukt in Deflationsjahren größer sein könnte als in Inflationsjahren. In keinem Fall ist festzustellen, dass negative Inflationsraten regelmäßig zu einem Einbruch der Wirtschaft führen.
Die Vielfältigkeit des Zusammenhangs zwischen Deflation und Wachstum lässt sich besonders gut an zwei Perioden illustrieren: Vergleicht man die Jahre 1870 und 1900, so ergibt sich folgendes Bild:

Wachstum 1
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Es wird deutlich, dass über die betrachteten 30 Jahre ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum mit deutlich gesunkenen Preisen einhergeht. Wenn überhaupt, dann kann Deflation über diesen Zeitraum allenfalls ein Motor des Wachstums, nicht aber als Hemmnis verstanden werden.

Anders verhält es sich mit der Großen Depression (hier die Jahre 1929 bis 1938).

Wachstum 2
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Insbesondere in den USA lässt sich ein gleichgerichteter Zusammenhang zwischen sinkendem Einkommen und sinkenden Preisen feststellen. Die Ursache hierfür liegt allerdings darin begründet, dass die amerikanische Wirtschaft in dieser Zeit einem extrem kontraktiven geldpolitischen Schock ausgesetzt war: die amerikanische Zentralbank ließ die Geldmenge mitten in der Krise noch absinken. Vermutlich ist es diese doch eigentlich relativ kurze Periode, die im Zusammenspiel mit dem Erfolgszug des Keynsianismus zu dem sehr negativen Image der Deflation geführt hat.

Die Daten für Deutschland müssen hier mit großer Vorsicht verwendet werden, da die Wirtschaftspolitik seit 1933 sehr stark zentralistisch gelenkt war.

Als Letztes soll nun das Wirtschaftswachstum in Perioden mit Deflation von den Perioden mit Inflation unterschieden werden. Tabelle 3 zeigt die Mittelwerte des Wirtschaftswachstums für acht Zeitintervalle (die unterschiedlichen Zeilen), getrennt nach Perioden mit Deflation und Perioden mit steigenden Preisen.

Wachstum 3
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Außerhalb der Weltkriegsperioden findet man sechs Fälle, in denen das Wachstum bei Deflation höher ausfällt als das bei Inflation und sechs Fällen, in denen es umgekehrt ist. Eine systematische Beeinträchtigung des Wachstums durch Deflation lässt sich daraus nicht ableiten. In der Nachkriegszeit sprechen sogar alle Vergleiche für eine positive Wirkung sinkender Preise. Abbildung 2 zeigt dies für die (west-)deutsche Volkswirtschaft im Zeitraum von 1948 und 1989, und es ist offensichtlich, dass die Wachstumsraten links von der vertikalen Linie (Deflationsjahre) nicht unterhalb der von Inflationsjahren liegen.

Inflation 2
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Natürlich kann man aus diesen Graphiken keine Wirkungsrichtung (Kausalität) ablesen. Ob Deflation überhaupt einen spürbaren Einfluss ausübt, bleibt ungeklärt. Aber falls es einen solchen Einfluss gibt, dann könnte er durchaus positiver Natur sein!

Fazit

Für das in Wissenschaft und Medien häufig gemalte Schreckensbild sinkender Preise lassen sich keine belastbaren Belege finden. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Atkeson und Kehoe (2004), die eine deutlich größere Anzahl von Nationen einer ökonometrischen Untersuchung unterzogen haben.

Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit zentralen geldtheoretischen Positionen der Österreichischen Schule (Selgin 1997 und Horwitz 2000), die erklären, warum Wachstum mit sinkenden Preisen durchaus natürlich ist. Die übersteigerte Angst vor einer Deflation, die als Rechtfertigung für die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank dient, ist dabei durchaus kontraproduktiv, denn Nationen wie Griechenland, Portugal und Spanien werden ihre Wettbewerbsfähigkeit nur schwierig ohne Preissenkungen wiederherstellen können. Die immer expansivere Geldpolitik bietet nur wenig Hoffnung auf Chancen, birgt jedoch mittel- bis langfristig beachtliche Risiken. So stellt sich schließlich die Frage, warum die Regierungen und diverse Geschäftsbanken die EZB-Politik so stark unterstützen? Ein Grund könnte darin bestehen, dass sie ihnen das Leben vereinfacht: Sinkende Zinslasten helfen Politikern, ein (unverdientes) Image für Solidität aufzubauen, und Banken können Risiken elegant bei der Zentralbank entsorgen. Zahlen müssen später andere.

Literatur

Atkeson, A. und P.J. Kahoe (2004), Deflation and Depression: Is There an Empirical Link?, in: American Economic Review, Bd. 94, 2, S. 99-103.

Clark, G. (2014), What Were the British Earnings and Prices Then? (New Series) MeasuringWorth.

Hoffmann, W.G. (1965), Das Wachstum der Deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Springer.

Horwitz, S. (2000), Microfoundations and Macroeconomics. An Austrian Perspective, London und New York.

Maddison, A. (2010), Statistics on World Population, GDP and Per Capita GDP.

Officer, L.H. und S.H. Williamson (2014), The Annual Consumer Price Index for the United States, 1774-2013, MeasuringWorth, 2014.

Selgin, G. (1997), Less Than Zero: The Case for a Falling Price Level in a Growing Economy, London.

Sensch, J. (2008), histat-Datenkompilation online: Preisindizes für die Lebenshaltung in Deutschland 1924 bis 2001; Verbraucherpreise seit 1881.

8 Antworten auf „Wie gefährlich ist Deflation?“

  1. Warnung vor Deflationsgefahr als Taktik
    Die Kerninflationsrate in der Eurozone lag 2012 bei 1,5% und heute liegt sie bei 0,9%. Es gab in der Eurozone keine Deflation und es wird sie auch nach Prognosen der EZB nicht geben.
    Die EZB benutzt m.E. eine erfundene Deflationsgefahr, um ihren „unkonventionellen“ Maßnahmen (jüngst Ankauf von ABSs und Covered Bonds) ein -allerdings sehr fadenscheiniges- Mäntelchen der Rechtmäßigkeit umhängen zu können. Nach Artikel 20 ihres Statuts darf sie solche „weiteren“ Maßnahmen beschließen, wenn sie der Ansicht ist, dass die Preisstabilität bedroht ist und diese Maßnahmen helfen könnten, die Gefahr abzuwenden.

  2. Ein paar Kommentare:
    1. Deflation ist schlecht für Schuldner. Steigender Geldwert sorgt für höhere Zinslast. Uninteressant bei Sachwerten, sehr interessant bei Zwischenfinanzierungen von eingekauften Gütern, Studienkrediten, etc. Nicht zu vergessen die Staatsschulden.
    2. Die Konsumentensicht lässt außer acht, dass das günstigere Handy auch mit weniger Geld bezahlt werden muss, da der Preis der Arbeit ebenfalls sinkt.
    3. Aus den Verbraucherpreisen der späten 40er und frühen 50er überhaupt etwas ableiten zu wollen, ist mMn sehr gewagt. Da könnte man ebenso postulieren „Totaler Krieg mit Zerstörung fördert Wirtschaftswachstum“. Von so Kleinigkeiten wie nicht frei konvertierbarer Währung, Währungsreform, etc. ganz abgesehen.
    4. Das Schreckensbild sinkender Preise kann man anhand der Datensätze aus den USA durchaus belegen. Man braucht ja nur die Gesamtzahl der Rezessionsjahre ins Verhältnis zu Deflation und Inflation setzen. Und das noch ins Verhältnis zur Anzahl der Deflations- und Inflationsjahre. Reicht als Schreckensszenario durchaus aus.
    5. Man kann auch nach Japan 1990 – heute blicken, um Bauchschmerzen bezüglich einer Deflation zu bekommen.
    6. Real GDP allein reicht nicht aus, man muss auch Arbeitslosigkeit mit betrachten. Wenn man nur Real GDP Growth betrachtet, ist in Spanien grad zwar nicht alles rosig, aber auch nicht katastrophal. Wenn man die Arbeitslosigkeit mit ins Bild nimmt, ist es katastrophal.

  3. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, insbesondere im Punkt:

    „[…] die als Rechtfertigung für die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank dient, […].“

    hinzu kommen die geplanten Aufkäufe von ABS und Pfandbriefe der Schuldenländer und deren Banken. Im Zusammenhang von Deflation wäre die Betrachtung von Japan sicherlich noch interessant, da diese erst jüngst in einem globalisierten Umfeld stattfand und eine Stagnation der Wirtschaft zur Folge hatte. Neben den Anpassungsbemühung der Schuldenländer spielen sicherlich auch die stark gesunkenden Energiepreise eine wichtige Rolle bei der Inflationsbetrachtung.
    Zum Thema Deflation: Die M1/M3 Geldmenge hat sich von 2000 bis 2014 mehr als verdoppelt.

  4. Im Jahr 2009 gab es Wirtschaftsbereiche mit schlimmer Deflation, insbesondere beim Weiterverkauf von Investitionsgütern – wg. Auslastungsproblemen.
    Der Einfluss unserer Staaten auf die Privatwirtschaft kann als total gelten. Monetär für Einkauf und Absatz über Niedrigstzins (EZB) und in der Preisfindung durch Sozialabgaben, Afa, Subvention etc.. das was in der großen Depression (1873-1896) anders.
    Sollte ein erneutes 2009 mangels Möglichkeiten ohne Hilfen geschehen, bleibt es nicht bei einer bereinigenden Deflation…dann fällt das Kartenhaus zusammen.
    (Ich finde gerade die umfassenden Hilfen („Ironie“) zeichnen sich in den gestiegenen Geldmengen und der allgemeinen Überschuldung wieder.)

  5. Sie verwechseln Ursache und Wirkung. In Zeiten von Wirtschaftswachstum istt Deflation kein Problem, bei stagnierender Wirtschaft und Geldsystem mit ZLB bricht sie Schuldnern systematisch das Genick, weil der Gleichgewichtszins dann tief negative wird.

    Mit anderen Worten: Ein Zins von 0% mag absolut gesehen niedrig sein, kann relativ zum Wirtschaftswachstum aber dennoch viel zuhoch sein.

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