„Man muss sich doch fragen: Machen wir Mathematik oder Politik für die Emotionen der Menschen?“ (Klaus Wowereit am 28.9. 2009)
Klaus Wowereit erklärte am Tag nach der Wahl den Niedergang der SPD und seine Gegnerschaft zu Franz Müntefering am Beispiel der (von Müntefering durchgesetzten) Rente mit 67. Es ging ihm nicht um die Sache selbst (was sachlich, „mathematisch“ dafür oder dagegen spricht), sondern um politische Rhetorik (ob oder wie man „emotional“ über eine Sache spricht). Mir geht es hier auch nicht um die Sache (Rentenreform) selbst, sondern um „Rhetorik“ – das absichtsvolle, auf ein Überzeugen des als relevant erachteten Gegenüber zielende Sprechen; im Englischen unüberbietbar kurz: „wordcraft“.
Da das relevante Gegenüber von „craft“ zu „craft“ ein Anderes ist und dasselbe Gegenüber in anderen Diskurszusammenhängen auf eine andere Rhetorik anspricht, gibt es auch eine in monopolitischer Konkurrenz befindliche Vielfalt „relevanter Märkte“ für rhetorisch erfolgversprechende Überzeugungsarten. Jeweils geht es um einen „Marktplatz der Ideen und Meinungen“ – und jeweils habe ich den Verdacht (oder: die – in meinem beruflichen „Diskurskontext“ durchaus marginalisierte oder gar bemitleidete – „Meinung“), dass „Rhetorik“ oder „Emotion“ erst das definiert, was relevante „Sache“ ist: In der Politik, aber auch in der Wirtschaft – und in der Ökonomik, die – im Prinzip zu Recht – die „Meinung“ vertritt, beide (ja: alle) sozialen Phänomene sachlich erklären zu können.
Die Beobachtung, dass „man“ (zwischen, aber auch innerhalb, etablierter Arenen für politische und ökonomische Praxis und sozialwissenschaftliche Theorie) häufig „aneinander vorbei“ redet, mag bedauerlich sein. Der Umstand, dass man eine im „relevanten“ Kontext durchaus „eigene“ Sprache spricht oder Rhetorik wählt, sollte aber wissenschaftlich erklärlich sein. Die spannende Frage nach dem „weshalb?“ und „wie sehr“? lese man überaus ausführlich gestellt, illustriert und beantwortet bei D. McCloskey nach.
Dieser Beitrag entstand am 30.9. 2009. Schade, dass er nicht vor dem 12. Oktober veröffentlicht wurde. Denn ich schrieb (ehrlich)!: Am Rande: ich wäre nicht überrascht, ginge dieses Jahr der Nobelpreis erstmals an eine Frau, da sowohl Salzwasser- noch Süßwasser- Technokraten patschnass dastehen. Ich denke da an Elinor Ostrom –als Ordnungsökonomin „sans la lettre“. Hätte die Akademie noch mehr Mut, gäbe sie den Preis an D. McCloskey – das wäre ein echter Schock für die Ökonomik, aber vielleicht auch ein kreativer, heilsamer…?
Zurück zur Aussage von Klaus Wowereit (das ist keine SPD-Bashing; in allen Parteien wird ähnlich gedacht und gehandelt): Die „Sache selbst“ (Rente mit 67) sei ein schwerer politischer Fehler gewesen, denn hier würde man mit „Mathematik“ argumentieren, nicht aber „die Emotionen der Menschen“ respektieren. Diese Aussage kann man recht unterschiedlich interpretieren:
1)Â Â Â Politiker wie Wowereit sind irrationale Zyniker. Mit „Mathematik“ sind wohl die demographischen Fakten gemeint, die versicherungsmathematisch emotionslose Zwänge auferlegen. Zynische, verantwortungslose Politik ignoriert oder verdrängt selbst die Gesetze der Mathematik – und nennt das eine „Politik für die Menschen“.
2)Â Â Â Politiker wie Wowereit sind rationale Realisten. Politiker, die (zumal als Regierende) unangenehme Realitäten ansprechen oder gar durch unangenehme Reformen ändern wollen, gehen ein hohes Risiko ein, nicht (wieder-) gewählt zu werden. Es ist für sie rational, statt dessen Emotionen anzusprechen. Es muss ihnen gelingen, den Eindruck zu erwecken, „für die Menschen“ da zu sein, während sie für ihren Machterhalt eine Politik für die Interessen des Median- und Wechselwählers betreiben.
Beides (1 und 2) ist letztlich kein Widerspruch. Es kommt auf den „frame“ an. Nach dem Maßstab „wissenschaftlicher“, „ökonomischer“ Rationalität mag (1) gelten. Mithilfe der ökonomischen Theorie der Politik (Public Choice) ist (2) als „politisch“ rational erklärbar. Rhetorik und Emotion triumphiert über „Mathematik“ oder ökonomische Vernunft – dies gilt zumindest in der Politik und da besonders in der Kommunikation zwischen Politiker und Bürger. Und in der Ökonomik? Auch hierzu zwei Meinungen:
3)Â Â Â In der Ökonomik triumphieren nicht „rhetorische Tricks“, sondern „Mathematik“, „Fakten“, emotionslose, positive Analyse. Und das ist auch gut so. Ökonomik ist objektive Wissenschaft und eine notwendige Gegenmacht zur Irrationalität und Emotionalität der Politik – oder der „Menschen“.
4)Â Â Â Ökonomik ist, auch in ihren formal-mathematischen Modellen, nichts Anderes als eine spezifische Art der „Rhetorik“ und „Metaphorik“ (McCloskey). Mehr noch: die wesentlichen „Fakten“ oder „Daten“ der Ökonomik als Sozial- und Verhaltenswissenschaften sind letztlich Erwartungen im Sinne von „Meinungen“ der „Menschen“ (Hume, Hayek). Und „die Menschen“ selbst, deren Zusammenwirken unseren Erkenntnisgegenstand ausmacht, sind keine zweckrationalen Nutzenrechner anhand „gegebener Präferenzen“; sie handeln nach subjektiven, auch inkonsistenten „Theorien“ (Caplan), die – gerade, wenn es „billig“ ist (Kirchgässner) – auch von wilden Emotionen und Wunschvorstellungen „kontaminiert“ sind.
Beides (3 und 4) ist, allem „Methodenstreit“ zum Trotze, letztlich kein Widerspruch. Man kann auch emotionslos über Emotionen, rational über Irrationalitäten, positiv über Normatives reden. Die moderne Ökonomik tut dies auch zunehmend. Besonders gilt das für die moderne Ökonomik der Politik (Public Choice). Hier hat man erkannt, dass Rhetorik und Emotionen auszublenden an den „Fakten“ und der eigenen „Rationalität“ des Gegenstands, den es illusions- und emotionslos zu analysieren gilt, vorbei zu modellieren hieße.
Die aktuelle Krise hat ähnliche Lektionen für die Marktökonomik parat. Nicht erst im künstlichen Laborexperiment, auch und gerade im realen Verlauf der Krise ist die Bedeutung von Meinungen, Erwartungen, Emotionen, Irrationalitäten, Herdenverhalten usw. wieder überdeutlich geworden. Nur im Modell, das immer noch vom mathematisch programmierbaren „homo oeconomicus“ beherrscht wird, ist diese Erkenntnis noch kaum angelangt. Colander et al. mussten feststellen: „as the crisis has unfolded, economists had no choice but to abandon their standard models and to produce hand-waving common-sense remedies“.
Bleibt also als letzter Schritt die „Ökonomik der Ökonomik“ selbst. Auch Ökonomen sind, ja: Menschen – mit ihren Erwartungen, Meinungen und Emotionen. Und auch hier gehört zu den Fakten, dass einer selbstkritischen Reform der eigenen Rhetorik die eigene Rationalität des pfadabhängig selbstreferentiell definierten „relevanten Marktes“ (Lehrstuhlbesetzungen, refereed journals …) entgegen steht.
Wowereit und wir: der Unterschied ist gar nicht so groß und erhebend, wenn man die jeweiligen Zweckrationalitäten und Zwänge kennt. Wowereit hat vielleicht mehr Ahnung von der menschlichen Natur und ihren „animal spirits“ (Keynes, Shiller) als „wir“ (naja, nicht wir „Austrians“, aber die „Chicago-Boys“) Ökonomen. Was sollen wir tun? „Wir“ können und sollen Wowereits Rhetorik (ich wiederhole 1-4):
5)Â Â Â als sachlich irrational und sozial schädlich entlarven (normative Konsequenz aus positiver Ökonomik), aber auch
6)Â Â Â als wahlpolitisch rational nachvollziehend erklären und berücksichtigen (positive Modelle politischer Ökonomik).
Ziemlich Analoges gilt aber auch für uns (Ökonomen) selbst. Auch wir können und sollen uns
7)Â Â Â der eigenen verengten Rationalität und autistischen Rhetorik kritisch bewusst werden. Eine selbstkritische Ökonomik der Ökonomik selbst würde auch den Akzeptanz- und Nachfragerückgang auf vor- und nachgelagerten „Märkten“(Studierende, Medien, Politik …) als Signal wahrnehmen, das eigene Angebot zu verbessern und zu diversifizieren. Hierüber wird inzwischen ja immerhin diskutiert. Vielleicht gelingt es sogar, unsere Emotionen und Rhetorik so zu justieren, dass wir uns weniger untereinander wichtig machen und mehr versuchen, für andere … „die Menschen“ … wichtig zu werden.
Das ist viel verlangt. Aber es wäre schon gut so.
- Gastbeitrag
Macrons Europavision - 8. November 2017 - Gastbeitrag
Zur Zukunft der EU - 9. Mai 2017 - Warum der Europäische Fiskalpakt wichtig wäre … und warum er wohl grandios scheitert. - 30. April 2012
Sehr gut, dass Michael Wohlgemuth auf wichtige Zusammenhänge der normativen und positiven Analyse hingewiesen hat!
Oft folgen in der Praxis auf eine rein sachliche Erwägungen berücksichtigende Analyse wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen, die zumindest bei kurzfristiger Umsetzung für die adressierten Politiker „politischen Selbstmord“ bedeuten können. Setzen die angesprochenen Politiker das dann aber nicht relativ zügig um, argumentieren nicht wenige Volkswirte, dass hier eindeutig Politik- bzw. Politikerversagen vorliegen würde.
Noch bedenklicher erscheint es, nach einer sachgerechten ökonomischen Analyse eines Problemzusammenhangs eine polit-ökonomische Analyse der Akteursinteressenlage vorzunehmen, die nachweist, dass Politiker keinesfalls Anreize haben, die sachgerechten Lösungen unmittelbar durchzusetzen. Und dennoch wird dann in den wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen wie selbstverständlich deren (unmittelbare) Umsetzung gefordert. Letzteres geschieht häufig, ohne den Zielkonflikt aus Sicht des Politiker zwischen „Gemeinwohl“- und Eigeninteresse wirklich zu thematisieren.
Dass eine (trotz aller Mängel im Detail) in die richtige Richtung zielende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik tatsächlich in Widerspruch zu den Eigeninteressen von Politikern und ihren Parteien sein kann, zeigen sehr anschaulich die Erfahrungen von Bundeskanzler Schröder und seiner Partei seit der Agenda 2010 und Hartz IV (sowie später die auch im Artikel genannte natürlich sachlich völlig gerechtfertigte „Rente mit 67“). Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat dies am 4. Oktober folgendermaßen kommentiert: Indem die SPD „über die Interessen ihrer engeren Klientel hinausblickte, aufs Funktionieren des großen Ganzen achtete…entblößte die SPD ihren Markenkern und erodierte ihre Machtbasis. Das wird dem nächsten Politiker, der Ähnliches tun müsste, zu denken geben“ (vgl. Bertram Eisenhauer: Schröders späte Niederlage).
Vor einem solchen Hintergrund ist es meines Erachtens in wirtschaftspolitisch ausgerichteten wissenschaftlichen Beiträgen daher angemessener, sowohl eine ökonomische wie auch eine polit-ökonomische Analyse durchzuführen (wie auch Michael Wohlgemuth es tut) und auf die sich hieraus ergebenden Anreizprobleme aus Sicht der Politik(er) hinzuweisen (statt sie faktisch zu ignorieren oder gar unzureichend erscheinendes sachgerechtes Handeln immer nur als Politik(er)versagen zu brandmarken). Auch können dann systematischer in der Realität vorhandene Schnittmengen zwischen ökonomischer und politischer Rationalität herausgearbeitet werden, die es ermöglichen, zumindest in bestimmten Konstellationen rationale Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik mit den Eigeninteressen der politischen Akteure zu verbinden.
Mit freundlichen Grüßen und bestem Dank, lieber Michael,
Lothar Funk