Vermeintliche Königswege
Industrie oder Dienstleistungen?

Es gibt verschiedene Wege zum Wohlstand. Länder mit einem vergleichsweise hohen Dienstleistungsanteil haben keinen Wohlstandsvorsprung. Auch beim Strukturwandel ist kein eindeutiges Vorteilsmuster für Dienstleistungs- oder Industrieökonomien zu erkennen. Politisch gewünschter Strukturwandel – egal in welche Richtung – birgt die Gefahr einer leeren Versprechung.

Im Nachgang zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die vor sieben Jahren ihren Höhepunkt durchlebte, haben sich auch die politischen Orientierungen in vielen Bereichen erheblich verschoben. Dies gilt zum Teil auch für Fragen des Strukturwandels. Vor der Krise war der Weg in die Dienstleistungsökonomie für viele Ökonomen und Politiker nahezu alternativlos. Die Entzauberung einiger Dienstleistungsmärkte durch die Finanzmarktkrise hat offensichtlich eine Neuorientierung ausgelöst. So soll es auch nach den Vorstellungen der EU-Kommission in der EU zu einer Reindustrialisierung kommen und der Industrieanteil soll auf 20 Prozent ansteigen. Während dies wenige Länder (z. B. Deutschland, die Tschechische und Slowakisch Republik, Ungarn und Slowenien) mit Blick auf den Anteil des Verarbeitenden Gewerbes bereits heute schaffen, sind andere Länder (z.B. Griechenland, Luxemburg, Frankreich) davon weit entfernt.

Wie sinnvoll ist so ein Ziel? Normative Empfehlungen in Richtung einer bestimmten Wirtschaftsstruktur müssen zumindest den Beweis führen, dass es den entsprechenden Volkswirtschaften langfristig besser geht. Damit stellt sich die Frage, ob in den letzten beiden Dekaden die Dienstleistungs- oder Industrieökonomien eine bessere Wohlstandsposition oder im Zeitverlauf höhere Wohlstandsgewinne aufweisen konnten. Im Folgenden werden kurz vier Indikatoren und deren Zusammenhang mit dem Dienstleistungsanteil und dessen Veränderung vorgestellt.

Einkommen: Mit diesem Indikator kann die These überprüft werden, ob Dienstleistungsökonomien ein höheres Wohlstandsniveau aufweisen – oder ob sie im Gefolge der Tertiarisierung stärkere Einkommenszuwächse verbuchen konnten. In der zugrundeliegenden Untersuchungsgruppe von 22 Ländern gibt es keinen klar erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Tertiarisierungsgrad und der Einkommenshöhe. Außerdem konnten die Länder mit der stärksten Tertiarisierung in den letzten beiden Dekaden keine signifikant höheren Einkommenszuwächse realisieren.

Arbeitslosigkeit: Damit kann gezeigt werden, ob die Arbeitsmarktmobilität in den Dienstleistungsländern höher ist und diese im Gegensatz zu den Ländern, die stärker von der Industrie geprägt sind, weniger unter struktureller Arbeitslosigkeit leiden. Zudem kann unter Wachstumsgesichtspunkten konstatiert werden, dass bei niedrigerer Arbeitslosigkeit das Produktionspotenzial infolge eines stärkeren Beschäftigungswachstums stärker expandiert. Anhand der harmonisierten Arbeitslosenquote zeigt sich ebenfalls kein Vorteil der Dienstleistungsökonomien. Mit Blick auf die Arbeitslosigkeit ergibt sich ebenfalls kein Befund, der für einen bestimmten Verlauf des Strukturwandels spricht: Einerseits konnten Länder mit einem vergleichsweise niedrigen Dienstleistungsanteil – und einem spiegelbildlich höheren Industrieanteil – ihre Arbeitslosigkeit zurückführen. Das gilt zum Beispiel für Deutschland und Norwegen. Andererseits hat ein überdurchschnittlicher Bedeutungsgewinn der Dienstleistungsbereiche das Entstehen zusätzlicher Arbeitslosigkeit in einigen Ländern, zu denen auch Luxemburg gehört, nicht verhindert.

Investitionen: Mit dem Anteil der Bruttoanlageinvestitionen am nominalen Bruttoinlandsprodukt kann eine Bewertung vorgenommen werden, wie stark die einzelnen Länder Vorsorge für das zukünftige Wachstumspotenzial, die Produktivität und schließlich den künftigen Wohlstand treffen. Zudem kann hier unterstellt werden, dass stärker industriebasierte Volkswirtschaften eine höhere Kapitalintensität aufweisen – weil die Industrieproduktion im Vergleich zur Dienstleistungswirtschaft einen höheren Sachkapitaleinsatz erwarten lässt. Dementsprechend dürften die Abschreibungen und somit auch die Bruttoinvestitionen in den industriestarken Ländern höher sein. Der Zusammenhang zwischen der Höhe des Dienstleistungsanteils und der Höhe der Investitionsquote fällt stärker aus als bei den ersten beiden Indikatoren. Dies kann neben dem Strukturwandel an einer Reihe von Faktoren – wie zum Beispiel den Beeinträchtigungen durch die globale Finanzmark- und Staatsschuldenkrise – liegen. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob und wie stark die Unterschiede im Strukturwandel die Veränderungen der Investitionsquote erklären können. Diese war in Österreich, Deutschland, im Vereinigten Königreich, den Niederlanden sowie in Irland ähnlich hoch zurückgegangen – obwohl diese Länder beim Strukturwandel deutlich unterschiedliche Wege aufweisen.

Volatilität: Industrieländer gelten als anfälliger für Konjunkturkrisen. In der Tat ist die Wertschöpfung im Industriebereich deutlich volatiler als im Servicesektor. Industriewaren sind handelbare Produkte mit einem oftmals sehr hohen Exportanteil. Das macht sie für die Wechsellagen der Weltwirtschaft empfindlicher. Dagegen kennt ein Teil der Dienstleistungen – etwa im Staats-, Gesundheits- und Bildungsbereich – keine oder kaum Konjunktur. Gleichwohl darf nicht ignoriert werden, dass die letzte große Rezession im Kern eine Dienstleistungskrise war. Die Krise der Jahre 2008 und 2009 nahm ihren Anfang im Banken- und Immobilienbereich. Diese Probleme – vor allem die Kreditklemmen in vielen Ländern – beeinträchtigten schließlich den globalen Investitionszyklus und infizierten auf diesem Weg die Industrieunternehmen. Mit Blick auf die Entwicklung in 22 fortgeschrittenen Volkswirtschaften zeigt sich zum einen kein Vorteil der Dienstleistungsökonomien hinsichtlich einer geringeren konjunkturellen Schwankungsanfälligkeit. Auch hier gibt es sowohl in der Gruppe der Dienstleistungsländer als auch dort, wo die Industrie eine höhere Bedeutung einnimmt, jeweils Länder mit einer höheren und niedrigeren Volatilität. Zum anderen gibt es ebenfalls keinen klaren Zusammenhang zwischen der Richtung des Strukturwandels und der Schwankungshöhe des realen Bruttoinlandsprodukts. Dienstleistungen schützen nicht vor Schwankungen und Industrieländer sind nicht per se volatiler.

Diese Fakten zeigen, dass Länder mit einem vergleichsweise hohen Dienstleistungs- oder Industrieanteil offensichtlich keinen Wohlstandsvorsprung haben. Auch beim Strukturwandel ist kein eindeutiges Vorteilsmuster für Dienstleistungs- oder Industrieökonomien zu erkennen. Die vorliegenden Befunde machen deutlich, dass es offensichtlich verschiedene Wege zum Wohlstand gibt – und nicht den alleine seelig machenden Königsweg. „Tertiarisierung für alle“ war früher eine falsche Orientierung für die einzelnen Länder. Ebenso kann heute eine „Re-Industrialisierung für alle“ eine leere Versprechung sein. Diese staatlich initiierten Entwicklungsmuster übersehen, wie stark die historisch geprägten Wirtschaftsstrukturen – wie sie zum Beispiel die stark im Banken- und Versicherungsbereich aufgestellten Länder Luxemburg und das Vereinigte Königreich, die vergleichsweise stark auf die Industrie ausgerichtete Wirtschaft in Deutschland, der Schweiz und Österreich oder das ressourcenbasierte Norwegen aufweisen – die Wettbewerbsfähigkeit und den Wohlstand mitbestimmen. Unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen spiegeln auch die gewachsene internationale Spezialisierung und Arbeitsteilung und die Faktorausstattungen der jeweiligen Volkswirtschaften wider. Die wirtschaftliche Entwicklung einer Volkswirtschaft hängt davon ab, ob sie ihr Produktportfolio den Gegebenheiten des Marktes anpassen kann und damit im Strukturwandel erfolgreich ist. Das gilt unabhängig davon, in welche Richtung dieser geht. So trivial es auch klingen mag, die Produktionsfaktoren eines Landes müssen sowohl in der Dienstleistungs- als auch in der Industrieökonomie immer wieder in effiziente Verwendungen gelenkt werden. Das spricht für staatliche Rahmenbedingungen, die länderspezifische Unterschiede berücksichtigen und nicht einebnen.

Vielmehr steht zu befürchten, dass bei der Verfolgung von politisch gewünschten Königswegen schnell der Ruf nach industriepolitischen Füllhörnern laut wird. Die Liste der ordnungspolitischen Einwände ist alt: Anmaßung von Wissen seitens derer, die wissen müssen oder wollen, wohin sich die Wirtschaft zu entwickeln hat; Verschwendung von Steuergeldern bei gleichzeitiger Diskriminierung der nicht begünstigten Wirtschaftsbereiche, die letztlich dafür mit Steuergeldern zahlen müssen; mögliche Fehlallokationen von Produktionsfaktoren bei gleichzeitigen Überkapazitäten und Versorgungsengpässen an anderer Stelle.

Der Beitrag basiert auf folgenden Artikeln:
Grömling, Michael, 2015, Viele Wege zum Wohlstand, in: FAZ, Nr. 211, S. 16
Grömling, Michael, 2014, Lässt sich der Aufstieg von Nationen mit dem sektoralen Strukturwandel erklären?, in: ifo Schnelldienst, 67. Jg., Nr. 14, S. 3–7

 

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