Die Entwicklung moderner medizinischer Technologien geht uns alle an. Wir tun allerdings so, als sei das nicht so. Wir verdrängen und überlassen die Diskussion weltanschaulich gefestigten Kreisen. In der bioethischen Debatte hat die Freiheit organisierte Feinde, aber keine organisierten Freunde. Eine akademische Diskussion kann solche Organisationsfähigkeit weder ersetzen noch herbeiführen, sie kann aber womöglich die Gruppe derer vergrößern, die jenseits der ethischen Fachdebatten für Selbstbestimmung eintreten. Unter allen akademischen Disziplinen bietet sich insoweit vor allem die Ökonomik an. Sie hat ohnehin Grund, die Diskreditierung der Disziplin als moralische Irrlehre, die menschliche „Gier“ fördert, zu bekämpfen. Die Ökonomik ist der natürliche „disziplinäre Alliierte“ von Werten individueller Autonomie und Selbstbestimmung.
- Selbstbestimmung und externe Effekte
In westlichen Gesellschaften, können die Menschen heute im Bereich der persönlichen Lebensführung viele Dinge ohne Angst vor moralischer und rechtlicher Verfolgung tun, die sie früher – insbesondere vor der sogenannten sexuellen Revolution – nicht oder nur unter persönlichem Stress zu tun wagten. Insoweit sind wir ohne Zweifel freier geworden.
Mittlerweile wird eher derjenige, der bestimmte Praktiken kritisiert und nicht derjenige, der sie praktiziert, diskreditiert. Insoweit sind wir nicht freier geworden. Es stimmt zwar nicht, dass Meinungen, weil sie nur Worte sind, niemanden verletzen können. Aber physische Verletzungen im engeren Sinne gehen von ihnen gewiss nicht aus. Insgesamt sollte es jedem frei stehen, etwa religiöse oder sexuelle Praktiken zu kritisieren, solange es klar ist, dass die Freiheit, die Praktiken auszuüben, samt der von diesen ausgehenden externen Effekte geschützt bleibt.
Bei praktisch allem, was in der Welt geschieht, sind externe Effekte auf Dritte, deren Einverständnis nicht vorher eingeholt werden kann, möglich. Entscheidend ist nicht, dass bestimmte Arten von Akten überhaupt keine externen Effekte haben, sondern, dass wir normativ erwarten, dass diese externen Effekte toleriert werden. Es geht nicht darum, zu erlauben, was keine externen Effekte hat, sondern externe Effekte zuzulassen. In einer freien Gesellschaft erwarten wir, dass externe Effekte in weiten Bereichen hingenommen werden. Sie dürfen allenfalls zivilrechtlich bestimmte Ausgleichszahlungen, aber keine Verbote nach sich ziehen.
- Rechtliche Bestimmung
Der Bereich, in dem externe Effekte ohne Entschädigung und ohne Verbotsmöglichkeit toleriert werden müssen, wird in unserer Gesellschaft rechtlich zunehmend genauer bestimmt. Die rechtliche Bestimmung fördert einerseits die Freiheit. Sie ist aber andererseits nur dann ungefährlich, wenn die Rechtsprechung versteht, dass es eine Art impliziten Austausch gibt: Wir reden dem anderen nicht hinein, sofern er uns nicht hineinredet. Gewöhnlich ist es uns wichtiger, etwas selbst bestimmen zu können, als es für einen anderen bestimmen zu können. Soweit der Andere für sich Dinge in einer Weise bestimmt, die uns nicht gefällt, hat dies negative Effekte auf uns. Diese nehmen wir aber hin, um selbstbestimmen zu dürfen, auch was ihm nicht gefällt. (Die Meinungssphäre scheint insoweit anders, als wir tendenziell stärker daran interessiert sind, dass bestimmte Aussagen über uns nicht gemacht werden dürfen, als dass wir sie über andere machen dürfen.)
Die meisten Bürger haben durchaus ein Bewusstsein dafür, dass ihnen die Selbstbestimmung zumal in einer pluralen Gesellschaft wichtiger ist, als die Möglichkeit etwas für alle und damit für andere zu entscheiden. Besonders prinzipientreu sind die Bürger in dieser Hinsicht jedoch nicht. Sobald größere Gruppen überzeugt sind, für eine bestimmte Auffassung gute moralische Gründe zu haben, haben sie wenig Hemmungen, ihre Überzeugungen auch wenn es dafür keinen guten Grund gibt, für alle verbindlich durchzusetzen.
Vor allem die sogenannte Bioehtik ist ein Exerzierfeld für die weltanschauliche Kavallerie der billig und gerecht Denkenden. Gesellschaftliche Bevormundungsgelüste können hier besonders hemmungslos ausgelebt werden. Rechtlich wurde und wird insoweit eher auf- als abgerüstet. Man wähnt sich auf dem hohem ethischen Ross des Gemeinwohls, obwohl man eigentlich nur persönliche weltanschauliche Steckenpferde reiten will.
Um davon abzulenken, dass man nur persönliche Vorlieben anderen aufdrängen will, erweist es sich als besonders hilfreich, Geld und Gewerbe als Wurzeln moralischer Korruption zu bemühen. Die Debatten um Selbsttötung und deren sogenannte gewerbsmäßige Förderung, um das Verbot eines Verkaufs menschlicher Organe, die Prostitution, die Leihmutterschaft, die Eizellenspende gegen Geld etc. sind hier alle einschlägig. Wo ernst zu nehmende Argumente fehlen, lässt man das Ressentiment gegen den niederen Kommerz die Arbeit machen. Wenn es um Geld dabei geht, dann hört der Spaß auf. Aber selbst, wenn wir für uns etwas dagegen haben, unseren Samen oder unsere Eizellen, überhaupt oder gegen Geld herzugeben, wenn wir weltanschaulich etwas dagegen haben, uns selbst das Leben zu nehmen, niemand will uns das aufdrängen. Geht es uns etwas an, wenn jemand Samen oder Eizellen spendet und dafür – Oh Horror! – Geld nimmt? Wenn jemand aus dem Leben scheiden will und dafür zahlen will, dass ihm jemand dabei hilft, warum sollte er das nicht dürfen? Kommerzialisierung ist eher Ausdruck derjenigen gesellschaftlichen Mechanismen, die die Optionen schaffen, die Selbstbestimmung ermöglichen und nicht das Gegenteil.
- Haarsträubendes von Kant
Der Unfug, der über die Subversion von moralischen Werte durch den „Kommerz“ geredet wird, ist historisch und weltweit endemisch. Er wird uns angeboten, weil die biologische Entwicklungsgeschichte unserer Art uns zwar die Schaffung von Großgesellschaften ermöglichte, uns aber schlecht auf das Leben unter deren allgemeinen Regeln vorbereitete. Der Mensch ist von seiner Natur als Kleingruppenwesen einfach nicht eingerichtet auf das Leben in großen Gruppen, die von formalen insbesondere vertraglichen Beziehungen gesteuert und geprägt werden. Er möchte gern seine eigene Entfremdung überhöhen. Dafür eignet sich nichts besser, als kantische Stelzen unterzubinden:
„Sich eines integrierenden Teils als Organ berauben (verstümmeln), z. B. einen Zahn zu verschenken, oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines andern zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, u. dgl. gehört zum partialen Selbstmorde; aber nicht, ein abgestorbenes oder die Absterbung drohendes, und hiemit dem Leben nachteiliges Organ durch Amputation, oder, was zwar ein Teil, aber kein Organ des Körpers ist, z. E. die Haare, sich abnehmen zu lassen, kann zum Verbrechen an seiner eigenen Person nicht gerechnet werden; wiewohl der letztere Fall nicht ganz schuldfrei ist, wenn er zum äußeren Erwerb beabsichtigt wird.“
Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten., in: ders., „Werke in zwölf Bänden“, Bd. 8, Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, S. 555.
In Kants Bemerkung, es sei nicht ganz schuldfrei, wenn man Haar zum Zwecke des „äußeren Erwerbs“ veräußert, drückt sich der allgemeine Kommerz-Schmerz aus. Im Hintergrund steht die sogenannte Zweckformel des kategorischen Imperativs. Selbstbestimmung ist nicht einfach Selbstbestimmung. Selbstbestimmung setzt Freiheit voraus und ist damit gebunden an den kategorischen Imperativ. Freiheit hat man nur, wenn man nach allgemeinen Gesetzen handelt (als ob nach ein “Naturgesetz“ laut der Naturgesetzformel des Imperativs).
Es geht um Vernunftzwecke, ohne die “Würde“ für den Kantianer nicht zu verstehen ist. Das ist praktisch, denn wer die Interpretationsmacht hat, wenn es um „Würde“ geht, hat zumal in der deutschen Debatte viel gewonnen. Kant und die Kantianer legen mit Erkenntnisanspruch fest, worin Würde liegt. Darin gleichen sie den Verfassungsjuristen, die auf ihren Spuren wandelnd, über den Würde-Artikel ihre je eigenen politischen Vorlieben erst in die Verfassung projizieren, um sie dann als Interpretation wieder herauszulesen.
Da haben wir einfachen Anhänger der Selbstbestimmung nicht mitzubestimmen und schon gar nicht selbst zu bestimmen. Der Kantianer und er Verfassungsrichter lesen aus dem Kaffeesatz der Vernunft, was für das gute und richtige Leben zu halten ist. Und dann dürfen alle machen, was die großen Geister wollen!
Die denkerische Disziplin und Brillianz von Kant bei der Analyse einer fiktiven Welt vernünftiger Wesen muss man anerkennen und zugleich deren Anwendung auf die reale Welt ablehnen. Es handelt sich in der Tat um ebensolchen (Un-)Sinn, wie wir ihn von der Anwendung des strikten Homo oeconomicus Modells auf die reale Welt kennen. Beide Arten von eleganten Idealisierungen heben normative Vorstellungen auf theoretische Rechtfertigungsstelzen. Die Kantianer verstehen es aber im Gegensatz zu den Ökonomen, ihre irreführenden Fiktionen vollkommener Rationalität zu wirkmächtigen sozialen Meinungskräften werden zu lassen. Dem muss man mit handfestem Alltagsverstand entgegentreten.
- Handfestes gegen Kant und Vernunftkonsorten
Der vollkommen rationale Homo oeconomicus tut immer, was in seinem langfristigen eigenen Interesse ist. Er kann nicht in die Irre geleitet werden. Er ist manipulationsfest. Deshalb muss man sich keine Sorgen um seine Autonomie machen. Insbesondere steht nicht zu befürchten, dass er aufgrund von Augenblicksversuchungen sein Einverständnis zu etwas gibt, das nicht dem entspricht, was er in seinem langfristigen (egoistischen oder selbstlosen) Interesse für sich bestimmen würde.
Selbst wenn man ihre rationale Zielverfolgung nicht auf egoistische Ziele ausgerichtet sieht, ist es Unfug anzunehmen, Menschen verhielten sich auch nur annähernd so wie der Homo oeconomicus. Ebensolcher Unfug ist es jedoch, nur Entscheidungen, die mit dem Eigeninteresse nichts zu tun haben, als selbstbestimmt anzusehen. Egoismus ist weder hinreichend dafür, dass Entscheidungen wohlüberlegt und selbstbestimmt sind, noch notwendig.
Der Alltagsverstand sagt uns, dass Autonomie, nicht darin besteht, dass zu tun, was andere wollen bzw. für richtig halten, sondern was man selbst will. Alles, was man dazu sicherstellen muss, ist, dass die Entscheidungen mit kühlem Kopf – wohlüberlegt z.B. nach einer Abkühlungsphase bestätigt –Â zu treffen sind.
Wenn etwa jemand seine Organe postmortal spenden will und dafür Geld verlangt, warum sollte er das nicht tun dürfen? Warum soll nicht der Spender auch im Falle der Lebendspende festlegen dürfen, wem er spendet? Wenn er nur für schwarzhaarige, blonde oder deutsche Empfänger spenden will, was geht uns das an, solange wir selbst auch bestimmen dürfen, an wen unsere Organe gehen? Wenn jemand nur an die spenden will, die selbst spenden, um moralische Werte wechselseitiger Solidarität zu fördern und Freifahrerverhalten zu verhindern, welchen guten Grund gibt es eigentlich, das nicht zulassen zu wollen? Dies sind alles Akte der Selbstbestimmung. Wenn Selbstbestimmtheit ein Höchstwert ist, wie kann man ihn noch an andere als die selbstgesetzten Zwecke des verfügenden Individuums binden?
Weil man kein anderes Argument sieht, tut man so, als ob von Geldzahlungen als solchen ein die Autonomie untergrabender Zwang auf den Empfänger ausgeht. Das ist absurd, da man außerhalb von Notsituationen durch Geld allenfalls gelockt aber nicht gezwungen wird. Es führt zugleich zu Inkohärenzen.
Diese kann man mit besonderer Eindringlichkeit am Falle der posthumen Gewebespende studieren. Damit aus den Geweben hilfreiche medizinische Heilmittel werden, müssen sie aufbereitet werden. Daran müssen diejenigen, die das tun, verdienen dürfen. Nur so kann den Empfängern geholfen werden. Am Ende profitieren alle die helfenden Aufbereiter und die Empfänger. Warum dann aber nicht auch die Hinterbliebenen von den Verstorbenen durch entsprechende Verfügungen in die Lage versetzt werden dürfen, von der Gewebeentnahme zu profitieren, ist nicht ersichtlich. Warum man solche Akte jemandem untersagen soll, um seine Selbstbestimmung zu schützen, ist für den Alltagsverstand ein vollkommenes Geheimnis. Es erschließt sich wohl nur dem, der sich einem rationalen Mysterienkult wie der Kantischen Philosophie oder insoweit ehrlicher einer Religion anschließt.
Wenn es wirklich um Selbstbestimmung ginge, dann würde man sich damit befassen, den Informationsstand der Verfügenden zu verbessern und freie Vereinbarungen mit anderen erlauben, aber nicht damit, ihnen den Inhalt der Verfügungen vorzuschreiben. Die Menschenwürde, die in solchen Fragen gern herangezogen wird, um andere zu bevormunden, verlangt bei vernünftiger Interpretation, den Schutz der Selbstbestimmung. Sie zu schützen, heisst, die Bürger darin zu stärken, ihre eigenen langfristigen Ziele informiert verfolgen zu können.
Wir sollten sie davor schützen, manipuliert zu werden, aber die Bürger nicht im Namen des Schutzes der Menschenwürde manipulieren. Wir sollten die Bürger im Zweifel das tun lassen, was sie wollen, und nicht zwingen das zu tun, was wir wollen.
- Geht uns das vorangehende etwas an?
Diese Fragen gehen uns leider alle an, obschon wir es gern auf die lange Bank schieben, uns mit ihnen zu befassen. Wir leben in einer Welt, deren nur durch die Freiheit zur Innovation und die Möglichkeiten des Kommerzes ermöglichten Technologien uns zunehmend Aufschub gegenüber Tod und Krankheit gewährten. Aufgeschoben ist jedoch nicht aufgehoben.
Da jeder von uns betroffen ist, soweit es um den eigenen Tod geht, sollten wir uns beispielsweise klar machen, dass das, was sich wieder einmal als Kampf gegen kommerzielle Sterbehilfe getarnt hat, nur ein weiterer Vorwand ist, unsere persönliche Selbstbestimmung zu unterminieren. Kommerzielle Sterbehilfe ist gewiss besser als keine Sterbehilfe. Und kompetente Hilfe werden wir eher erhalten, wenn wir anständig dafür bezahlen, als wenn wir nichts dafür geben.
Es sollte uns mit tiefem Misstrauen erfüllen, wenn verboten wird, anderen eine Gegenleistung für Leistungen anzubieten, die wichtig und nicht gegen Dritte gerichtet sind. Das gilt bis hin zu so harmlosen Leistungen wie die Zustimmung zu einer postmortale Organ- oder Gewebeentnahme. Diejenigen, die die Zustimmungsbereitschaft fördern wollen, dürfen uns dafür nicht einmal anbieten, die Beerdigungskosten zu tragen.
Dass es sich dabei um pekuniäre Motive handelt, erweist sich als starke politische Waffe. Es ist als Begründung aber arg dünn. Die Marschmusik der Marktfundamentalisten ist zwar auch nicht viel überzeugender, aber unter dem Aspekt der Selbstbestimmung immer noch besser als das, womit sich unsere Priester und Philosophen dicketun.
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