Widerspruchslösung in der Organentnahme
„Für und Wider“

Die Bundesratsinitiave zur Einführung der sogenannten „Widerspruchslösung“ für die Leichenorganspende ist sachlich begrüßenswert. Dass der angestrebte Erfolg eintreten wird, ist jedoch unwahrscheinlich und das Spannungsverhältnis zu anderen Rechtsprinzipien unübersehbar.

Der für die anhängige Bundesratsinitiative verantwortliche, durchaus geschätzte NRW-Gesundheitsminister Laumann überschätzt vermutlich die positiven Auswirkungen der Widerspruchslösung auf die Verfügbarkeit von Organen. Empirisch ist unter den jetzigen Rahmenbedingungen des deutschen Gesundheitssystems vermutlich nur eine verhältnismäßig geringe Wirkung zu erwarten (vgl. etwa nach wie vor (Breyer et al., 2006)). Insoweit steht bei der Güterabwägung das Hauptargument des Ministers für die Widerspruchslösung, dass sie nämlich eine Verbesserung der Verfügbarkeit von postmortalen Spenderorganen in Deutschland kausal bewirken würde, auf wackeligen Füssen.

Dennoch spricht auch abgesehen von einer möglichen Erhöhung der Verfügbarkeit postmortaler Spenderorgane einiges für die Widerspruchslösung. Insbesondere könnte sie Abläufe im Vorfeld der Organentnahme von einigen der damit einhergehenden Belastungen befreien: Die Hinterbliebenen müssten sich neben ihrer Trauer nicht auch noch mit einer für sie komplexen Entscheidungsfrage auseinandersetzen. Dem ohnehin tendenziell überlasteten Klinikpersonal würden zusätzliche Belastungen erspart.

In der Praxis gibt es bereits ein Widerspruchsrecht der Hinterbliebenen

Solange allerdings die Hinterbliebenen im Prozess der Organentnahme weiter nach dem vermuteten Willen des oder der Verstorbenen gefragt werden, wie die Initiative des Ministers es vorsieht (https://www.land.nrw/pressemitteilung/bundesratsinitiative-aus-nordrhein-westfalen-zur-einfuehrung-der), würde durch die Widerspruchslösung zementiert werden, dass bereits heute de facto eine Widerspruchslösung für Hinterbliebene praktiziert wird. Zwar sind die Hinterbliebenen offiziell nur als Informationsquelle über den Spenderwillen zu fragen, aber das ist im Falle des Fehlens einer ausdrücklichen Erklärung des potentiellen Spenders ohne Wert. Die Regel läuft in der Rechtswirklichkeit dennoch darauf hinaus, dass die Hinterbliebenen ein Veto besitzen.

Ob Hinterbliebene davon gegen den Geist des Gesetzes verbreitet Gebrauch machen würden, würde man nach Einführung der Widerspruchslösung erfahren. Man könnte ohne Gefahr die Antwort auf diese empirische Frage der Praxis überantworten. Denn eine Änderung zur Widerspruchslösung würde das Organaufkommen gegenüber dem jetzigen Stand gewiss nicht signifikant zum Schlechteren verändern.

Die Widerspruchslösung ist verhaltensöknomisch problematisch

Gegen die Widerspruchslösung, die nun erneut in Berlin diskutiert wird, spricht aber ein anderer rechtssystematisch durchaus gewichtiger Einwand:

Der Staat nutzt mit der Einführung der Widerspruchslösung eine Schwäche des menschlichen Entscheidungsverhaltens aus, die er in anderen Kontexten mit guten Gründen gerade zu mildern versucht. Denn Menschen neigen systematisch dazu, durch Unterlassung von (Widerspruchs-)Handlungen den jeweiligen Status quo auch dann fortzuschreiben, wenn dessen Beendigung an sich von ihnen längerfristig gewünscht wird, aus ihrer eigenen Sicht in ihrem Interesse liegen würde und ohne gravierende unmittelbare Kosten realisiert werden könnte.

Ganz allgemein, wenn wir etwas tun müssen, um unsere Interessen zu wahren, belassen wir es häufig aus „Unvernunft“ lieber beim Unterlassen. Der Geist ist sprichwörtlich willig, aber das Fleisch schwach (vgl. zum seriöseren Hintergund (Kahneman, 2012))

Wir bleiben nicht nur aus Vergesslichkeit bei einem bestehenden Telefonvertrag, sondern kündigen ihn nicht – auch aus einer ‚natürlichen‘ Scheu vor der Veränderung. Wir wissen, dass es in unserem Interesse liegen würde, bestimmte Versicherungen abzuschließen, verschieben eine entsprechende aktive Entscheidung jedoch. Wir bleiben bei den vom Internetanbieter vorgegebenen Einstellungen der Datensammlung, weil es uns ‚zu lästig‘ ist, einen Widerspruch zu erklären.

Der Gesetzgeber hat es aus guten Gründen für nötig gehalten, bestimmte Regeln zum manipulativen Gebrauch sogenannter ‚defaults‘ im Internet einzuführen (vgl. zum Hintergrund experimentell (Benndorf & Normann, 2018). Ungeachtet dieser Neuregelung versuchen Internetanbieter und Fernsehanbieter ärgerlicherweise immer noch, den Nutzern eine gezielte Ablehnung zu erschweren, indem sie die Optionen „verunklaren“.

Auch wenn der Staat gegen solche Tricks im Falle der Mediennutzung nicht vorgeht, dürfen die Bürger im Falle des deutschen Rechtsstaates darauf vertrauen, dass die Möglichkeit den Organspendewillen in einem zentralen Register zu hinterlegen, eindeutig gestaltet ist. Sie besteht nach langem Zuwarten nun endlich ohnehin, so dass der Widerspruch an einem zentralen Ort erklärt werden kann. Eine entsprechend gestaltete „Erklärungslösung“, bei der der Bürger der Notwendigkeit, sich zu erklären, praktisch nicht entgehen kann, wäre in Kombination mit dem Register möglicherweise tauglich, einen weithgehend gleichen Effekt wie die Widerspruchslösung herbeizuführen.

Debatte ohne Alarmismus und ethischen Exhibitionismus als Ziel

Zu Alarmismus besteht in jedem Falle kein Anlass. Dennoch ist es merkwürdig, wie wenig Aufmerksamkeit den involvierten rechtssystematischen und rechtsethischen Problemen gewidmet wird. Aus Sicht der evidenz-orientierten Politikberatung ist zudem nach den empirischen Indikatoren dafür zu fragen, dass die Einführung der Widerspruchslösung jedenfalls ohne weitere flankierende Maßnahmen das Aufkommen an postmortalen Spenderorganen unter deutschen Bedingungen signifikant steigern wird. Ebenso wäre nach wie vor zu eruieren, ob es nicht andere Wege geben könnte, das von der Einführung der Widerspruchslösung zu erwartende eher geringe Mehraufkommen durch andere Maßnahmen zu sichern (Keser et al., 2023).

Die Initiative von Herrn Laumann ist grundsätzlich auch wegen der Sachlichkeit des Ministers zu begrüßen. Eine Sachdiskussion ist in jedem Falle hilfreich. Und sie ist auch über das Spezialthema der Organspende hinaus wichtig. Denn das Thema der Organspende ist nicht nur deshalb so wichtig, weil es für Bürger  – zugegebenermaßen relativ kleine Zahlen – um’s Überleben geht, sondern gerade auch deshalb, weil es so viele Grundsatzfragen der Rechts- und Sozialpolitik in zugespitzter Form aufwirft.

Literatur

Benndorf, V., & Normann, H. (2018). The Willingness to Sell Personal Data. Scandinavian Journal of Economics, 120(4), 1260–1278. https://doi.org/10.1111/sjoe.12247

Breyer, F., van den Daele, W., Engelhard, M., Gubernatis, G., Kliemt, H., Kopetzki, C., Schlitt, H. J., & Taupitz, J. (2006). Organmangel. Ist der Tod auf der Warteliste unvermeidbar? Springer.

Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken (T. Schmidt, Übers.; 23. Aufl.). Siedler Verlag.

Keser, C., Kliemt, H., & Späth, M. (2023). Charitable giving: The role of framing and information. PLOS ONE, 18(7), e0288400. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0288400

Blog-Beiträge zum Thema:

Jan Schnellenbach (BTU, 2018): Die Entscheidung zur Organspende. Sollte sich etwas ändern?

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