Herr Dr. Wittenstein, wie würden Sie die vierte industrielle Revolution in Worte packen?
Manfred Wittenstein: Die Definition von Industrie 4.0 ist sehr lebendig, da sie sich im Laufe der Zeit verändert. Dabei wird häufig vieles in einen Topf geworfen: Digitalisierung, Internet der Dinge, Virtualität. Da muss man aufpassen. Industrie 4.0 bedient sich zwar der Digitalisierung und der Vernetzung als Werkzeuge, ist aber im Kern auf industrielle Wertschöpfung ausgerichtet. Letztlich geht es darum, reale und virtuelle Welt innerhalb, aber auch zwischen Firmen und Kunden miteinander zu verschmelzen – und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Somit verändern sich Geschäftsmodelle.
Das klingt gar nicht so revolutionär.
Manfred Wittenstein: Industrie 4.0 ist tatsächlich nicht schlagartig aufgetreten. Sie ist vielmehr ein schleichender, techno-ökonomischer Prozess. Digitalisierte CNC-Maschinen gibt es bei uns schon seit 40 Jahren. Die Entwicklungen in der letzten Zeit beschleunigen den Prozess allerdings enorm und eröffnen unerwartete Chancen. Der revolutionäre Charakter ist die synchron-echtzeitfähige Interaktivität zwischen Menschen und ihren Werkzeugen für die Wertschöpfung. Daher wird Industrie 4.0 auch unsere Arbeitswelt so stark verändern wie jede andere industrielle Revolution vorher.
Welche gesicherten Grundprinzipien stehen hinter Industrie 4.0?
Manfred Wittenstein: Da gibt es leider noch nicht allzu viele, die auch wissenschaftlich fundiert sind. Es fängt ja schon bei den Begrifflichkeiten an, unter denen sich viele etwas anderes vorstellen. Wir können zwar die meisten Abläufe beschreiben, wissen aber noch nicht wirklich, welche allgemein verwendbaren Zusammenhänge dahinterstecken. Erst wenn wir das herausgefunden haben, werden Umset- zungsstrategien rasant an Fahrt gewinnen. Nehmen Sie als Analogie das Wetter. Wir merken zwar seit jeher, wann die Sonne scheint und wann es regnet. Doch welche klimatischen Grundprinzipien dafür verantwortlich sind, bedurfte langjähriger Forschungsarbeit und ist bis heute noch nicht bis ins letzte Detail durchleuchtet. Dennoch können wir beim Wetter schon ziemlich exakte Prognosen abgeben. Bei Industrie 4.0 sind wir noch nicht soweit.
Ist die Unsicherheit deshalb so groß?
Manfred Wittenstein: Ja, auch weil oftmals Bodenhaftung und Tiefe fehlen. Gleichzeitig ist das Thema unglaublich breit. Es gibt kein rezeptartiges Vorgehen, auch wenn sich über gute Leitfäden einige Einstiegskorridore finden lassen. Man muss das Rad nicht an jeder Stelle neu erfinden, sondern sollte vielmehr bestehende Allianzen nutzen. Wichtig ist, dass man sich in der Unternehmensführung rechtzeitig mit solchen Fragen geistig auseinandersetzt. Die bewährten Produktionsprozesse müssen dabei in den meisten Fällen gar nicht abrupt aufgegeben werden. Industrie 4.0 lässt sich vielmehr behutsam an zahlreichen Stellen integrieren – beispielsweise in der Logistik, bei der Beschaffung, der Wartung von Maschinen, der Produktionsplanung bis hin zur Synchronisation kompletter Produktionsprozesse und den After-Sales-Dienstleistungen.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Manfred Wittenstein: Anschauliche Beispiele gibt es in der Intralogistik zuhauf. Sie ist weniger komplex als eine industrielle Wertschöpfung. Dort hat die intelligente Vernetzung durch den Barcode schon sehr früh Einzug gehalten – genau wie durch immer günstigere Lesegeräte zur Erfassung von Daten und deren intelligenten Aufbereitung durch Algorithmen. In der Intralogistik sind die deutschen Unternehmen führend, nicht zuletzt dank der Digitalisierung.
Der Endkunde dürfte in diesem Zusammenhang an Amazon und Zalando denken.
Manfred Wittenstein: Auch deren Geschäftsmodelle funktionieren nur deshalb so gut, weil die Logistikprozesse heute digital abgebildet werden können. Die Wettbewerbsvorteile sind Schnelligkeit und Präzision der Vorhersage. Weil am Produkt ein Sensor aufgetragen ist, kann jeder Schritt zudem genauestens nachvollzogen werden. Mit einem Barcodeleser können die Daten bequem ausgewertet werden. Via Tracking lassen sich dann die einzelnen Versandschritte exakt nachvollziehen. Dank der Vernetzung von realem und virtuellem System können die Logistikprozesse also digital abgebildet und gesteuert werden.
Weil auch die Paketdienstleister angebunden sind.
Manfred Wittenstein: Ja, durch die Verbindung mit Dienstleistern wie DHL oder UPS lassen sich komplette Warenströme überblicken. Der Kunde bestellt etwas – und Amazon oder Zalando können zuverlässig Auskunft darüber geben, wann die Bestellung beim Kunden eintrifft. Darauf kann er sich entsprechend einstellen. Die Smartphones taten das ihre, um jederzeit auf dem Laufenden zu sein.
Worin liegt hier das neue Geschäftsmodell begründet?
Manfred Wittenstein: Es liegt darin begründet, dass der Online-Händler dem Kunden den Anlieferungszeitpunkt exakt voraussagen und die Logistikkette permanent überprüfen kann. Wenn ein LKW ausfällt, merkt er es rechtzeitig und kann reagieren. Im Hintergrund laufen Algorithmen, die sogar die Zustellzeit recht genau prognostizieren können. Und wenn dem Kunden das Produkt nicht passt, schickt er das Paket einfach wieder zurück. Der Online-Händler macht es ihm eben so bequem wie möglich. Auch das ist Teil des Geschäftsmodells. Nun kann man sogar noch einen Schritt weitergehen und verschiedene Daten über einen Kunden zusammentragen. So lassen sich seine Vorlieben herausfinden und dann die entsprechenden Produkte zur Auswahl stellen – und zwar genau dann, wenn er gerade online ist. Im ersten Schritt wurde die Wertschöpfungskette nach vorne gesteuert, im zweiten Schritt dann eben rückwärts.
Das gab es früher auch schon.
Manfred Wittenstein: Aber eben nicht in dieser digitalen Geschwindigkeit mit der Beherrschung einer Unmenge von Daten. Früher hat sich der Einzelhändler bei seinem Zulieferer telefonisch gemeldet, wenn beispielsweise der Absatz von Cola-Flaschen aufgrund von regionalen Partys sprunghaft angestiegen ist. Dieser hat wiederum seinen Großhändler informiert – und dann ging diese Kette weiter bis zum Hersteller und dessen Zulieferern. Jeder hat seine eigene Hochrechnung aufgemacht. Ein steter Fluss kam nie in Gang. Stattdessen hat sich das Wertschöpfungssystem unkontrolliert aufgeschaukelt – mit vielen negativen Folgen für die Beteiligten. Wenn dann der Absatz bei den Endkunden schlagartig wieder zurückgegangen ist, blieb – etwas übertrieben ausgedrückt – ein Berg an Cola-Flaschen zurück, weil die Rückmeldung mit Zeitverzögerung passiert ist.
Heute kann die Rückkopplung aufgrund der Sensoren an den Produkten und den datenverarbeitenden Geräten in Echtzeit erfolgen.
Manfred Wittenstein: So ist es. Das, was der Kunde will, wird optimal konfiguriert und dann sofort in die Wertschöpfungskette eingespeist. Der Glasbläser, der leere Cola-Flaschen an den Hersteller liefert, weiß sofort nach der Großbestellung des Endkunden, dass er mehr Glas produzieren muss. Dadurch können Prozessketten verkürzt werden. Die abnehmenden Totzeiten führen zu schnelleren Prozessen. Doch diese muss man beherrschen können, indem man das gesamte Geschäftsmodell im Blick behält. Damit das Gesamtsystem nicht stehen bleibt, sollte man die durchgängigen Prozessketten ohne Latenzzeiten optimieren. In jedem Fall würde uns ohne Intralogistik 4.0 ein wichtiger Baustein für Industrie 4.0 fehlen.
Also sollte man digitalisieren, was das Zeug hält.
Manfred Wittenstein: Moment. Man darf nicht vergessen, dass auch ohne Digitalisierung schnellere Abläufe möglich sind. Man sollte digitale Prozesse nur dort einsetzen, wo sie nötig sind – zumal wir häufig in komplexen Systemen nicht die Wechselwirkungen durchschauen. Die IT-Welt behauptet zwar: Nur mit ihr ist alles möglich. Das stimmt aber nicht. Die IT-Welt schmeißt uns oft angebliche Diamanten hin und lässt sich feiern. Dabei sind es bisweilen nur Glasperlen. Deswegen ist es wichtig, immer wieder etwas Wasser in den Wein zu schütten. Bei aller Euphorie ist die kritische Begleitung wichtig. In jedem Fall darf der Mensch zu keinem Zeitpunkt ausgeblendet werden; stattdessen muss er weiterhin im Mittelpunkt stehen.
Können Sie uns ein Beispiel aus der Firma WITTENSTEIN nennen?
Manfred Wittenstein: Den Active Stick. Der Grundgedanke ist, dass jeder Pilot zu jedem Zeitpunkt die Führung eines Flugzeuges übernehmen kann. Früher hat der Pilot über den Steuerungsknüppel elektrische Signale ausgelöst, welche die Außenflächen am Flugzeug mechanisch gesteuert haben. Mit unserem aktiven Steuerknüppel wurde dieser Vorgang erstmals elektromechanisch gelöst.
Was bedeutet das?
Manfred Wittenstein: Zunächst hat sich der Pilot einem Draht-Datenaustausch zwischen zwei Steuerknüppeln bedient, um seine Signale elektrisch weiterzugeben. Im nächsten Schritt wurden diese Drähte durch Federn ersetzt, über die der Pilot dann seine Rückmeldung bekommen hat. Doch die einzelnen Wirkungskanäle musste er alle im Kopf haben, was aufgrund der großen Zahl praktisch unmöglich war. Außerdem ist die Rückkopplung verzögert erfolgt.
Was haben Sie dann gemacht?
Manfred Wittenstein: Wir haben in diesen Steuerungs- knüppel ein elektromechanisches Antriebssystem eingebaut, das solche Kräfte aufbringt. Wenn ich dieses mit einem aerodynamischen Modell verbinde, bin ich in der Lage, dem Piloten in seinem Steuerungsknüppel die korrekten Reaktionskräfte bereitzustellen. Da man nun keine Feder mehr braucht, konnte der große zu einem kleineren Kasten gemacht werden. Dadurch spart man sich weiteren Platz und Gewicht. Die Herangehensweise ist bis zu diesem Punkt noch relativ traditionell. Denn bislang sind nur die Prozesse für den Piloten optimiert worden; er bekommt präzisere Daten bereitgestellt.
Und jetzt kommt sicher der Auftritt einer Industrie 4.0-Lösung.
Manfred Wittenstein: Genau. Der nächste Sprung ist, die reale mit der virtuellen Welt zu verbinden. Dann lassen sich verlässliche Prognosen abgeben. Der Pilot bekommt von „außen“ ein Signal und kann entsprechend reagieren. Das funktioniert wie eine digitale Rückkopplung. Das kann man mit einem rein mechanischen System nicht darstellen. Dank der Digitalisierung habe ich erstmals die Möglichkeit, vorauszuschauen und dem Piloten eine schnelle und stetige Rückmeldung zu geben. Das hat das Flugverhalten enorm zum Positiven verändert.
Der Pilot und die Fluggesellschaften dürften von dieser Lösung sehr angetan sein. Doch wie bekommt man bei der Industrie 4.0 die eigenen Mitarbeiter mit ins Boot?
Manfred Wittenstein: Letztlich braucht man eine Idee und muss die Betroffenen zu Beteiligten machen. Dann fällt es leichter, solche Dinge zu überwinden. Jeder Unternehmer und Mitarbeiter will am Ende des Tages wissen: Was bedeutet Industrie 4.0 konkret für mich?
Und was bedeutet es konkret?
Manfred Wittenstein: Man muss sich darüber im Klaren werden, dass Industrie 4.0 die kompletten Unternehmens- prozesse betrifft. Sie verändert tiefgreifend Arbeitsbeziehungen und die Arbeitsmethodik, Führungsverhältnisse und die Unternehmensorganisation. Schließlich entstehen völlig neue Geschäftsmodelle. Industrie 4.0 bedeutet mehr Flexibilität und Kreativität, aber weniger Routine. Man braucht mehr Weitblick und Zusammenarbeit, aber weniger Engstirnigkeit. Und schließlich ist mehr delegierte Verantwortung und Entscheidung am Ort des unmittelbaren Wertschöpfungsprozesses notwendig. In jedem Fall muss Industrie 4.0 zur Chefsache und Teil der Unternehmensstrategie werden.
Google ist ein Vorreiter in puncto Digitalisierung: Würden Sie dem zustimmen?
Manfred Wittenstein: Ja, aber definitiv nicht im Kontext von Industrie 4.0. Diese unterscheidet sich deutlich von der Digitalisierung in der Software- oder Konsumgüterbranche. Google handelt mit persönlichen Daten, eine industrielle Wertschöpfung habe ich dort noch nicht gesehen. Denn die Welt der Wertschöpfung ist komplizierter, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Da geht es um eine Vielzahl von unterschiedlichen Fähigkeiten und Technologien, die man miteinander kombinieren muss. In Europa haben wir an dieser Stelle hervorragende Bedingungen. Deshalb brauchen wir uns nicht einschüchtern lassen.
Wie wird man den dunklen Mächten im Internet letztlich Herr?
Manfred Wittenstein: Jede Umbruchsituation spült gewisse Monopolisten hervor, die einfach schneller sind und oft auch von externen Faktoren profitieren. Das gibt es heute, das gab es aber auch schon früher, etwa die US-amerikanische Standard Oil Company. Sie war seinerzeit das größte Erdölraffinerie-Unternehmen der Welt. Im Jahr 1911 wurde es höchstrichterlich vom Staat zerschlagen. Dieser Vorgang war letztlich der Beginn des Kartellwesens, der bis heute die Entstehung von Monopolisten verhindern soll. Davon abgesehen gibt es in einer freien Wirtschaft wirksame Marktkräfte, die in der Regel für einen gesunden Wettbewerb sorgen. Vergleichen Sie einfach mal die 500 größten Unternehmen von vor 30 Jahren mit denen von heute. Da gibt es weniger Überschneidungen, als man vielleicht denkt. In einer Marktwirtschaft kann es genauso schnell wie es nach oben gegangen ist, auch wieder abwärts gehen.
Doch Google hat sich bereits eine Marktstellung gesichert, an die auf absehbare Zeit wohl niemand rankommt?
Manfred Wittenstein: Abwarten, das hat man bei manch anderem Unternehmen auch schon gedacht. Gegen die Positionierung von Google gibt es zudem extreme Widerstände – in der Gesellschaft, aber auch von Seiten der Politik. Das Unternehmen bedient in erster Linie Informationsbedürfnisse und will unser Handeln beeinflussen. Die Industrie erzeugt dagegen trotz Digitalisierung am Ende des Tages immer noch ein reales Produkt, auf das wir uns verlassen müssen, von dem möglicherweise unser Leben abhängt. In jedem Fall aber unsere Arbeitsplätze und unser Wohlstand. Es bietet also etwas wesentlich Substanzielleres. Wir sollten uns da nicht ins Bockshorn jagen lassen.
Inwiefern?
Manfred Wittenstein: Vielen Internetfirmen fühle ich mich ausgeliefert. Ich weiß nicht, was sie im Hinterzimmer mit meinen Daten machen. Über das Internet lässt sich viel schwieriger Vertrauen aufbauen. Viele glauben menschliche Kommunikation auf digitalen Austausch reduzieren zu können. Das ist ein Irrglaube. Wir brauchen menschliche Kommunikation – vor allem auch, um Industrie 4.0-Lösungen erfolgreich umzusetzen. Dabei darf man auch die bestehenden Pfadabhängigkeiten nicht außer Acht lassen.
Was ist die Konsequenz daraus?
Manfred Wittenstein: Gerade in einer unübersichtlichen, neu zu ordnenden Welt muss immer wieder Vertrauen gebildet werden. Ich muss das Gefühl entwickeln, wer auf meiner Seite ist und wer zu dem steht, was er sagt. Das ist auch die Chance für kleine Familienunternehmen. Ein angestellter Manager bei einem Großkonzern, der mir etwas verspricht, kann nächstes Jahr schon weg vom Fenster sein. Die Zusage eines Familienunternehmers kann dagegen ein Maximum an Verlässlichkeit bieten. Wir müssen Signale der Sicherheit empfangen – gerade wegen der Digitalisierung. Wir haben nicht die Fähigkeit, andere Menschen über das Internet zu beurteilen. Wir können darüber sicherlich die ersten Schritte tätigen, aber wenn es darum geht, wichtige Entscheidungen zu fällen, sollte man einander gegenübersitzen.
Viele Unternehmen haben Bedenken, dass die Datensicherheit bei Industrie 4.0 nicht gewährleistet ist. Sind diese Ängste berechtigt?
Manfred Wittenstein: In gewisser Weise schon. Man darf nicht vergessen, dass die ganze Software-Industrie noch in den Kinderschuhen steckt. Ein normaler Mensch würde sich im wirklichen Leben nicht so verhalten, wie er es trotz Vernetzung tut. Wenn heute Flugzeuge so konstruiert würden wie Software auf den Weg gebracht wird, würde sich niemand mehr ins Flugzeug setzen. Das sagen jedenfalls Experten. Nach dem Motto: In 70 Prozent der Fälle passiert schon nichts. Auch über Hardware wie Chips lassen sich Daten herauslesen, manipulieren und wieder einschleusen. Über einen Cyber-Angriff können aus einem Unternehmen viele Daten herausgeholt werden.
Ist das nicht beunruhigend?
Manfred Wittenstein: Hundertprozentige Sicherheit kann es nun mal im digitalen Zeitalter nicht geben. Sie gab es im Übrigen in der gesamten Menschheitsgeschichte nicht. Man sollte sich stets vor Augen halten, dass oft nicht das IT-System oder die Maschine als solches das größte Risiko sind, sondern immer noch der Faktor Mensch. Manchmal sind wir ein Stück weit naiv. Wir lassen uns von der schönen Welt der IT bezirzen – und in die Irre führen. Dabei sind wir nicht in der Lage, die Prozesse zu durchschauen. Wir verfügen nicht über die digitale Souveränität. Deshalb müssen wir vorsichtig sein.
Inwiefern?
Manfred Wittenstein: Mit zunehmendem Vernetzungsgrad wird es immer gefährlicher. Man darf nicht alles autonom ablaufen lassen und das ganze System übers Internet mit der Außenwelt in Verbindung setzen. Denn das Internet kann zum Einfallstor werden. Erst muss man kompetent sein, um souverän zu werden. Das gilt gerade für die mittelständische Industrie. Aber der Mittelständler kann auf gute Studien zurückgreifen und ist nicht alleine. Er darf nur in der Euphorie nicht die falschen Wege einschlagen. Jede Technologie ist am Anfang unsicher. Man sollte sich mit ihr mit Augenmaß auseinandersetzen. Und wenn man Sicherheit neu definiert, findet man auch Lösungen.
Was sollte den Unternehmen noch Mut machen?
Manfred Wittenstein: Wem es gelingt, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen, dem eröffnet sich eine Welt voller Chancen. Wenn wir Dinge miteinander vernetzen, dann entstehen Möglichkeiten. Das Entscheidende ist, dass man dann für sein Geschäftsmodell das Richtige heraussucht, um seinen Pfad weiterzugehen. Dafür gibt es Hilfestellungen und Beispiele. Mut machen sollte auch, dass Partner und Allianzen nur darauf warten, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Diese kurzen Wege wie in Europa haben die Amerikaner nicht – genauso wenig wie so viele innovative Branchen auf so engem Raum. Diese wertvollen Cluster-Effekte, die auf räumliche Nähe abzielen, sind auch im Bereich von Industrie 4.0 sehr stark, auch wenn sie etwas in Vergessenheit geraten sind.
Wie hängt ein Cluster mit Industrie 4.0 zusammen?
Manfred Wittenstein: Was in Zentraleuropa an industrieller Wertschöpfungskompetenz konzentriert ist, sucht seinesgleichen. Gerade wir haben hier in der Vergangenheit hohe Anpassungsfähigkeit bewiesen. Gleichzeitig steigen die Kommunikationskosten über die Entfernung erstaunlicherweise sehr stark an. Das merkt man, wenn man sich mal mit konkreten Beispielen auseinandersetzt. Da steigt der Aufwand exponentiell – gerade, wenn es ins Ausland geht. Die Vorteile räumlicher Nähe sind immens – vorausgesetzt die Unternehmen sind offen für Kooperationen. Man muss sich neue Allianzen im jeweiligen speziellen Problemfeld suchen und seine Möglichkeiten nutzen. Lassen wir uns also die Butter nicht vom Brot nehmen; sind wir vielmehr selbstbewusst und gehen weiterhin in kritischer Offenheit unseren Weg.
Der Industrie 4.0 eilt der Ruf des Arbeitsplatzzerstörers voraus.
Manfred Wittenstein: Auch in der Vergangenheit gab es stets Ängste, wenn bei industriellen Revolutionen neue Technologien eingeführt worden sind – und nie haben sie sich in der Form bewahrheitet. Diejenigen, die sich auf die neuen Technologien eingelassen haben, erlebten keinen arbeitsplatzsparenden technischen Fortschritt. Strukturelle Anpassungen sind natürlich notwendig. Aber nie ist aus Arbeitnehmersicht das große Desaster eingetreten. Schon in den 1980er Jahren ist die Idee einer mannlosen Fabrik aufgekommen, die nur von Computern gesteuert wird. Es gibt sie aus gutem Grund bis heute nicht – und es wird sie auch künftig nicht geben. Hochqualifizierte Mitarbeiter braucht es in jedem Fall weiterhin. Aber auch auf weniger stark spezialisierte Arbeitskräfte warten künftig teils neue Aufgaben.
Wie können sich die Beschäftigten auf das digitale Zeitalter einstellen?
Manfred Wittenstein: Sie müssen unbedingt digitale Souveränität erlangen. Das kann nicht zu Lasten eines Einzelnen gehen, sondern ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Dazu brauchen wir eine innovative Bildungslandschaft. Es müssen digitale Lernformen in Schulen und Hochschulen Einzug halten. Qualifikationsprofile verändern und verschieben sich. Da sind die Gesellschaft und die Unternehmen gefordert, dass diese Qualifikationen auch geschult und angepasst werden. Man darf nicht mit ungeschärften Werkzeugen in dieser neuen Welt herumstochern. Stattdessen muss man möglichst frühzeitig die Qualifikationsprofile entsprechend anpassen, um digitale Souveränität zu erlangen.
Welchen Beitrag kann die Politik leisten, um das Land noch stärker auf die vierte industrielle Revolution vorzubereiten?
Manfred Wittenstein:Â Ein wichtiger Bereich ist in jedem Fall die Bildung. Dazu zählt nicht zuletzt auch die duale Ausbildung. Bei uns in Baden-Württemberg gibt es viele interessante Modelle zwischen Hochschulen und Unternehmen, auch was neue Berufsbilder angeht. Im gesamten Land muss hier aber noch viel passieren. Die Politik hat sich schon recht früh Kooperationen gegenüber offen gezeigt und sie auch tatkräftig mitgetragen. Ein Vorzeigebeispiel ist die Plattform Industrie 4.0, bei der die Politik von Anfang an in angemessener Weise beteiligt war und ihre Rolle als Gestalter rechtlich-institutioneller Rahmenbedingungen wahrnimmt. Wo es sicher noch viel Nachholbedarf – insbesondere auch von staatlicher Seite gibt – ist beim Ausbau der digitalen Infrastruktur in der Breite und der Rechtssicherheit im Internet.
Auf welche Weise kann der Technologietransfer von der Wissenschaft in die Wirtschaft gelingen?
Manfred Wittenstein: Wir haben eine sehr dichte Landschaft an Universitäten, Forschungsinstituten und Wissenszentren, mit denen vor allem die forschungsstarken Unternehmen eng zusammenarbeiten sollte. Es ist auch wichtig, dass es Start-ups und Spin-offs gibt, die industrielle Innovationen verfolgen und eben nicht nur Internet-Dienstleistungen. Dort winkt zwar möglicherweise das schnellere Geld, aber nachhaltiger sind meist industrielle Start-ups. Halten Sie sich das Bild vom Öltanker und den Schnellbooten vor Augen. Wenn die Start-up-Szene, also die kleinen Boote, nicht vorhanden ist, können die großen Konzerne, also die Öltanker, schnell in die falsche Richtung abdriften – mit verheerenden Folgen für eine Volkswirtschaft. Mittelständisch geprägte Unternehmen sind in der Regel auch sehr wendig und daher auch unabdingbar, was Innovation angeht. In jedem Fall steht uns eine spannende Zeit bevor.
Das Gespräch führte Jörg Rieger.
Hinweis: Das komplette Interview mit Dr. Manfred Wittenstein können Sie in der November-Ausgabe 2016 der Fachzeitschrift WiSt nachlesen.
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Vielen Dank für das sehr interessante Interview. Ich möchte bitte Eines ergänzen dürfen: Wenn ein grosses Passagierflugzeug mit ein paar Hundert Personen an Bord in Frankfurt abhebt, um nach Atlanta zu fliegen, dann genügt es eigentlich, wenn eine Person oder meinetwegen zwei Personen im Flieger wissen und trainiert haben, was unterwegs zu tun ist. Der Pilot fliegt, alle anderen Personen im Flieger können schlafen. Und: Gott sei Dank in den allermeisten Fällen geht auch alles gut.
So ähnlich wurden früher Unternehmen, auch sehr grosse Unternehmen geführt. Der Industriekapitän hatte den Plan und die Fähigkeiten, Grosses zu gestalten. Meinetwegen noch ein paar Offiziere bzw. Direktoren sollten auch wenigstens ungefähr wissen, wie der Hase läuft. Der Rest der Mannschaft half eben mit, war tatsächlich kaum mehr als Sachbearbeiter sowie Erfüllungsgehilfe und wurde dafür bezahlt.
Zugegeben, der Vergleich hinkt ein wenig. Aber er soll zeigen, mit welchem Paradigmenwechsel wir es zu tun haben, wenn wir auf die Herausforderungen von Führung und Weiterbildung im Kontext zunehmender Digitalisierung und Vernetzung – Stichwort „Industrie 4.0“ – zu sprechen kommen.
Ist die Organisation kein rein hierarchisches Gebilde mit einer zentralen Bündelung von Wissen und Intelligenz mehr, sondern ein Gedanken- und Wertschöpfungsnetzwerk mit der erforderlichen Fähigkeit, aus Vielfalt und dezentraler Autonomie Mehrwert zu schaffen, dann können Kenntnis und Weiterbildung keine Privilegien sein. Um im Bild zu bleiben: ein oder zwei Piloten reichen nicht! Das Flugzeug wird als Team geflogen, immer häufiger muss ausserhalb des Cockpits schnell und kompetent entschieden und gehandelt werden.
Nun ist es jedoch nach wie vor so, dass wir bei unseren Seminaren oft ausschliesslich Führungskräfte begrüssen dürfen, selbst wenn der Seminarinhalt weniger auf Führung im engeren Sinne abstellt, sondern es eher um Fachliches sowie das vernetzte Arbeiten im Team geht. Beileibe sind unsere Erfahrungen hier keine Ausnahme sondern flächendeckend die Regel. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Führung wird immer die wesentliche Kraft in einem Unternehmen sein, aber alleine kann auf Dauer niemand mehr erfolgreich sein. Soll der Mensch tatsächlich auch im Zeitalter von „Industrie 4.0“ im Mittelpunkt stehen, so muss man auch die Mitarbeiter in der Breite als wertvollste Ressource begreifen.
Herzliche Grüsse aus der Schweiz,
Dr. Christian Abegglen