Viele EU-Politiker preisen den freien Personenverkehr als Wohlstandstreiber Europas. Weshalb aber wollen ihn Länder mit hoher EU-Immigration wie Großbritannien und die Schweiz nach Volksentscheiden einschränken?
Freiheits- und Überfüllungseffekte
Die Arbeits- und Kapitalproduktivität ist in Ländern mit guten politischen Institutionen und guter Politik höher. Dank freiem Personenverkehr können Menschen in Länder mit guten Institutionen wandern, wo für sie das Leben besser ist. Freier Personenverkehr hat somit für die Migranten einen großartigen positiven Freiheitseffekt. Für die Einwohner der Zuwanderungsländer kann die Immigration negativ sein. Denn grundsätzlich drückt sie auf die Löhne. Weil aber dadurch die Lohnkosten der Unternehmen sinken, werden die Länder attraktiver für neue Investitionen in Arbeitsplätze, was – wenn Arbeits-, Kapital- und Bodenmärkte flexibel sind – die negativen Lohneffekte ganz aufheben kann. Die Zuwanderung besonders Hochqualifizierter kann einem Land sogar weitere Vorteile bringen, denn sie beschert dem Staat zumeist positive Nettoeinnahmen und steigert das Qualifikationsniveau, was die Gesamtproduktivität erhöht.
Das mit starker Zuwanderung einhergehende Bevölkerungswachstum bringt allerdings Überfüllungseffekte, insbesondere in Ballungszentren. Natürlich oder politisch begrenzte Faktoren wie Boden, Infrastruktur und Umweltgüter werden knapper, wodurch die Immobilienpreise und Mieten, aber auch die Verkehrs-, Umwelt- und Energiekosten steigen.
Die Gewinner des freien Personenverkehrs sind die Migranten selbst und die Besitzer der knapper werdenden Faktoren – primär diejenigen mit großem Immobilienbesitz. Zu den Verlierern gehören jene, die im Arbeits- und Wohnraummarkt mit den Neuzuwanderern konkurrieren, insbesondere frühere Zuwanderer und einheimische Junge. Eigentlich könnten die Verlierer der Zuwanderung aus den riesigen Gewinnen entschädigt werden. Doch das Prinzip des freien Personenverkehrs verbietet dies: Gezielte Entschädigungen der bisherigen Einwohner durch Abschöpfung und Umverteilung etwa der Immobiliengewinne gälten als diskriminierend.
Symmetrie von Wanderungsströmen stärken
Die Gesamtwirkung der Personenfreizügigkeit folgt aus dem Freiheitseffekt einerseits und den Überfüllungseffekten andererseits. Letztere sind umso größer, je asymmetrischer die Wanderungsströme sind und so manchen Ländern ein hohes Bevölkerungswachstum bringen. Sind die Wanderungsströme hingegen symmetrisch, überwiegt der Freiheitseffekt.
Die Symmetrie von Wanderungsbewegungen kann nicht verordnet werden. Migration hängt von den Unterschieden in der Lebensqualität ab, die wiederum stark von der Qualität der politischen Institutionen abhängen. Zur Schaffung symmetrischer Wanderungsströme muss deshalb die Qualität der politischen Institutionen angeglichen werden. Nur wenn die EU-Länder auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene äquivalent funktionsfähige Institutionen haben, werden die Lebensqualität ähnlich und damit die Wanderungsströme symmetrisch. Dazu brauchen manche EU-Länder tiefgreifende Reformen.
Personenfreizügigkeit mit Zuwanderungsabgaben
Was kann getan werden, bis die politischen Institutionen äquivalent sind? Der freie Personenverkehr darf keinesfalls durch Kontingente eingeschränkt werden. Viel effektiver ist es, asymmetrische Wanderungsströme mit Zuwanderungspreisen zu steuern. Die Einnahmen aus diesen Abgaben kompensieren die Einwohner der Zuwanderungsländer und geben ihnen so Anreize, für Zuwanderung offener zu sein. Zuwanderungspreise können explizit mit einer zeitweiligen finanziellen Abgabe für Neuzuwanderer oder implizit mit einem Ausschluss der Zuwanderer von gewissen Staatsleistungen realisiert werden. Zuwanderung ist eher positiv, wenn sie nicht aufgrund von Sozialleistungen stattfindet sondern auf Basis individueller Produktivitätsunterschiede.
Auf einen ersten Blick erscheint dieser Vorschlag diskriminierend. Wichtig aber ist, dass er viel EU-kompatibler als Kontingente ist. Der große Freiheitseffekt des freien Personenverkehrs – dass Menschen frei und ohne bürokratische Behinderungen an dem von ihnen bevorzugten Ort ziehen können – bliebe erhalten. Ein Teil der Einnahmen aus den Zuwanderungsabgaben könnte auch in das EU-Budget fließen. Ein solcher Budgetbeitrag würde die EU-Entscheidungsträger motivieren, die Vorteile von Zuwanderungsabgaben schnell zu verstehen. Die EU könnte mit den zusätzlichen Mitteln die Auswanderungsländer beim Aufbau äquivalenter Institutionen unterstützen, wovon langfristig alle Beteiligten profitierten.
Hinweis: Dieser Leitartikel ist in der Ausgabe 11/2016 der Fachzeitschrift WiSt erschienen.
Blog-Beiträge zur Personenfreizügigkeit:
Norbert Berthold: Hände weg von der Personenfreizügigkeit. Das wäre der Anfang vom Ende des „Europäischen Binnenmarktes“.
- Freier Personenverkehr mit Zuwanderungsabgaben - 16. Januar 2017
„Nur wenn die EU-Länder auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene äquivalent funktionsfähige Institutionen haben, werden die Lebensqualität ähnlich und damit die Wanderungsströme symmetrisch. Dazu brauchen manche EU-Länder tiefgreifende Reformen.“
Lebensqualität (oder wie im Artikel auch genannt „politische Qualität“ müsste dazu erst einmal unmittelbar und objektiv messbar und fühlbar sein. Aber gefühlte Lebensqualität ist mehr als politische Qualität (was immer das auch ist).