Ordnungspolitischer Kommentar
Das Gesundheitswesen im Fokus

Ein großer Teil der aktuellen politischen Debatte ist dem Gesundheitswesen gewidmet. Das ist nicht überraschend: Zwar weisen verschiedene Studien auf eine gar nicht so geringe Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem deutschen Gesundheitssystem hin, es bestehen jedoch zweifellos Ineffizienzen in diesem System und verschiedene Entwicklungen werden es vor weitere Herausforderungen stellen.

Mehrere Reformvorschläge stehen momentan im Raum. Der zuletzt vermutlich meist beachtete, die Einführung einer Bürgerversicherung, wird wahrscheinlich nicht umgesetzt. Statt das Gesundheitssystem ganz umzustellen, wird die nächste Bundesregierung voraussichtlich eher an Stellschrauben des bestehenden Systems drehen, das maßgeblich durch die Zweiteilung in die gesetzliche und private Krankenversicherung gekennzeichnet ist. Zu den aktuell diskutierten Vorschlägen gehören unter anderem die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der GKV-Beiträge, die Einführung von kostendeckenden GKV-Beiträgen für ALG II-Bezieher und die Angleichung der Ärzte-Honorare zwischen GKV und PKV.

Paritätische Finanzierung reduziert wahrscheinlich nicht die Belastung der Arbeitnehmer, sondern den Wettbewerb

Die ursprünglich vollständig paritätische Finanzierung der Beiträge zur GKV wurde im Zuge der Agenda 2010 aufgeweicht: Während die Beiträge zuvor jeweils zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt wurden, zahlen die Arbeitnehmer seitdem einen größeren Anteil der Gesamtbeiträge. Die diesbezüglich geltenden Regelungen wurden mehrfach geändert. Aktuell erheben die Krankenkassen von den Versicherten zu zahlende einkommensabhängige Zusatzbeiträge. Diese Regelung soll nun zugunsten der Rückkehr zur vollständig paritätischen Finanzierung verändert werden. Die Arbeitnehmer sollen also entlastet und die Arbeitgeber stärker belastet werden.

Das ist jedoch nicht ohne weiteres realisierbar. Der Beitrag zur GKV wirkt aufgrund der Einkommensabhängigkeit ähnlich wie eine Steuer. Es ist essentiell, zwischen der Zahllast und der Traglast einer Steuer zu differenzieren. Die Zahllast lässt sich politisch festlegen, während sich die Traglast, also die tatsächliche Belastung der Beteiligten, nicht so einfach steuern lässt. Auf einem flexiblen Markt hängt die Verteilung der Traglast davon ab, wie elastisch die Marktteilnehmer auf eine Steuer reagieren, wie stark sie ihr also ausweichen. Das Verhältnis der Elastizitäten bestimmt, inwieweit eine Steuer auf die jeweils andere Marktseite abgewälzt werden kann. Für die Traglast ist es theoretisch völlig irrelevant, bei welcher Marktseite die Zahllast liegt.

Praktisch ist das natürlich nicht ganz so einfach. Die Flexi­bili­tät des Arbeitsmarktes ist in vielerlei Hinsicht eingeschränkt, vor allem wird ein sehr großer Anteil der Arbeitsverhältnisse durch Tarifverträge geregelt. Würden die Zusatzbeiträge zur GKV abgeschafft oder die paritätische Finanzierung anderweitig auf dem Papier wiederhergestellt, hinge die Verteilungswirkung dieser Maßnahme also vor allem davon ab, inwieweit diese Entlastung der Arbeitnehmer im Zuge der folgenden Tarifverhandlungen verpufft. Vermutlich könnten die Gewerkschaften nicht die gleichen Lohnsteigerungen durchsetzen, wenn die Arbeitgeber höhere Sozialabgaben zahlen müssten.

In den Blick genommen werden sollte auch der Wettbewerb, der dadurch zustande kommt, dass die Zusatzbeiträge zwischen den Krankenkassen variieren. Effizienzunterschiede zwischen den Kassen können sich so widerspiegeln und von den Versicherten bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine Kasse berücksichtigt werden. Es ist zwar davon auszugehen, dass dieser Effekt heute schon klein ist, weil die Zusatzbeiträge einkommensabhängig und sehr gering sind. Würden die kassenindividuellen Zusatzbeiträge nun abgeschafft, wäre damit der Preiswettbewerb jedoch ganz aufgehoben.

Falls die paritätische Finanzierung zukünftig dadurch gewährleistet werden soll, dass der zwischen den Kassen variierende Zusatzbeitrag jeweils hälftig von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt wird, würde der Preiswettbewerb zumindest geschwächt. Das würde auch dann gelten, wenn die durchschnittliche Traglast unverändert bliebe: Da die Löhne in Tarifverhandlungen nicht individuell, sondern durchschnittlich angepasst würden, wäre die Kassenwahl für den Einzelnen weniger relevant.

Kostendeckende Beiträge für ALG II-Bezieher entsprechen dem Leistungsfähigkeitsprinzip

Schon heute werden für ALG II-Bezieher Beiträge zur GKV vom Träger der Grundsicherung gezahlt und damit aus Steuermitteln finanziert. Allerdings decken diese Beiträge einem vom BMG in Auftrag gegebenen IGES-Gutachten zufolge nicht die Ausgaben für die betreffenden Versicherten – selbst dann nicht, wenn der Bundeszuschuss zur GKV aus Steuermitteln berücksichtigt wird. Die entstehenden Defizite tragen bislang die anderen GKV-Versicherten.

Würden die Kosten vollständig durch Steuermittel gedeckt, wie es nun in der Diskussion steht, würden alle Steuerzahler entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an ihnen beteiligt, auch die PKV-Versicherten. Das entspräche dem Konzept einer steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitssuchende, zu der auch die Vorsorge für den Krankheitsfall bzw. die Versorgung im Krankheitsfall gehören.

Es erschließt sich tatsächlich nicht, warum die Beitragszahler der GKV in stärkerem Maße an der Finanzierung der Gesundheitsversorgung von ALG II-Beziehern beteiligt sein sollten als andere Steuerzahler. Eine Anpassung der GKV-Beiträge für ALG II-Bezieher erscheint daher angemessen.

Wirkungen einer Angleichung der Ärzte-Honorare sind weitgehend unklar

Ein Anliegen, das einem Teil der aktuellen Gesundheitspolitischen Vorschläge zugrunde liegt, ist die Abschaffung der sogenannten „Zwei-Klassen-Medizin“. Mit dieser Forderung wird der Beobachtung begegnet, dass Privatversicherte häufig bevorzugt behandelt würden. Die vermutete Ursache dafür ist, dass ärztliche Leistungen für Privatversicherte höher vergütet werden. Gefordert wird deshalb eine Angleichung der PKV- und GKV-Honorare.

Die Wirkungen einer Honorarangleichung hängen von verschiedenen Faktoren ab. Würden vor allem die PKV-Honorare gesenkt, würde dies die Niederlassung für Ärzte weniger attraktiv machen. Denkbar wäre zwar, dass einzelne Ärzte mehr Leistungen anbieten würden, um den Einkommensverlust auszugleichen, aber insgesamt würde das ärztliche Angebot vermutlich zurückgehen. Abzuwarten wäre, wie sich das auf die flächendecke Versorgung auswirken würde: Gäbe es ein geringes Gesamtangebot, wäre sie einerseits schwieriger aufrechtzuerhalten. Andererseits gehen viele Befürworter der Angleichung davon aus, dass Versorgungslücken dort entstehen, wo wenige Privatversicherte leben, während Regionen mit hohem PKV-Anteil oft überversorgt sind. In diesem Fall könnte eine Angleichung der Honorare dieses Verteilungsproblem abschwächen, indem es die Niederlassung in unterversorgten Regionen relativ attraktiver machen würde. Der Gesamteffekt auf die Versorgung bliebe also zunächst unklar.

Nicht nur wegen der unklaren Auswirkungen auf die ärztliche Versorgung, sondern auch, weil sich eine Angleichung politisch wohl nicht vollständig zulasten der Ärzte durchsetzen ließe, ist davon auszugehen, dass die Angleichung zu einem wesentlichen Teil über eine Erhöhung der Auszahlungen für gesetzlich Versicherte erfolgen würde. Eine Erhöhung der GKV-Honorare würde sich sowohl positiv auf die Angebotsmenge als auch auf die Attraktivität von Regionen mit geringerem PKV-Anteil auswirken und erscheint damit attraktiv. Allerdings wäre diese Variante langfristig wohl nicht ohne Beitragserhöhungen in der GKV realisierbar.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass sich das Vergütungsmodell der GKV nicht nur hinsichtlich der Vergütungshöhe für einzelne Leistungen von dem der PKV unterscheidet. Ein großer Teil der GKV-Vergütung beruht auf Pauschalen, die pro Patient und Quartal ausgezahlt werden. Entscheidend ist, dass das nicht unbegrenzt gilt: Nur in gewissem Umfang wird abschlagsfrei vergütet. Sowohl die Pauschalität als auch die Begrenzung machen die Behandlung von GKV-Versicherten bei hoher Auslastung weniger attraktiv. Natürlich ließe sich auch an diesen Stellschrauben drehen. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings der Grund für die Beschränkung: Der Anreiz, Leistungen zu erbringen und abzurechnen, die nicht notwendig sind, soll begrenzt werden.

Eine vollständige Gleichbehandlung aller Versicherten erscheint angesichts zweier völlig unterschiedlicher Versicherungssysteme kaum realisierbar. Sie ist ohnehin nicht umfassend zu gewährleisten. Bei entsprechender Zahlungsbereitschaft wird es immer möglich sein, Zusatzversicherungen beziehungsweise eine bessere medizinische Versorgung hinzuzukaufen, als sie für alle durch das System abgedeckt wird.

Fazit

Bisher liegen zu den hier betrachteten groben Vorschlägen keine ausgearbeiteten Pläne vor. Die nächste Bundesregierung sollte sich aber nicht nur der Konkretisierung der bisherigen Pläne widmen, sondern vor allem auch die Chancen und Herausforderungen nicht vernachlässigen, die in den Verhandlungen bislang nur wenig Berücksichtigung zu finden scheinen. Beachtung verdienen neben den Chancen der Digitalisierung vor allem die Herausforderungen, vor die der demographische Wandel und der medizinisch-technische Fortschritt die Finanzierung des Gesundheitssystems stellen.

Blog-Beiträge zum Thema:

Jürgen Zerth: Bürgerversicherung „reloaded“. Sinnvolle Idee oder nur eine „aufgewärmte“ Debatte?

Björn Kuchinke: Die deutsche Gesundheitspolitik. Eine ordnungsökonomische Einschätzung

Norbert Berthold: Die (linke) Bürgerversicherung ist tot. Es lebe die (liberale) Bürgerversicherung! Private Krankenversicherung für Alle

Jochen Pimpertz: Bürgerversicherung: Kernprobleme ungelöst

Eine Antwort auf „Ordnungspolitischer Kommentar
Das Gesundheitswesen im Fokus“

  1. Für den Wettbewerb der Kassen wäre es am besten, die Arbeitgeberbeiträge abzuschaffen und die Arbeitnehmerbeiträge entsprechend zu erhöhen. Bei der Umstellung wären die Arbeitnehmer durch eine einkommensneutrale Bruttolohnerhöhung zu entschädigen. Dann würden sie auch sehen, was das System kostet, was auf Dauer den Ruf nach höheren Leistungen eindämmen könnte.

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