Gastbeitrag
Brauchen wir mehr Europa?

Die GroKo will Europa vertiefen und eine gemeinsame Einlagensicherung vorantreiben. Doch damit gefährdet sie das, was sie retten will – und hilft einer populistischen Partei.

In Europa wartet man gespannt auf den erfolgreichen Abschluss der Berliner Koalitionsverhandlungen. In den Sondierungsgesprächen vereinbarten die drei Partner der sogenannten Großen Koalition, dass sie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) weiterentwickeln und die Vergemeinschaftung der Einlagensicherung in der Bankenunion vorantreiben wollen. Die konkrete Ausgestaltung beider Vorhaben ist nicht beschrieben. Naturgemäß weckt dieses Ergebnis hohe Erwartungen auf der einen Seite und starke Sorgen auf der anderen.

Viele Europapolitiker und Bürger halten die Vorhaben für sinnvoll, denn sie glauben, dass die europäische Einigung vertieft werden muss, damit die Spaltung überwunden werden kann. Insbesondere in Frankreich scheinen die Erwartungen hoch zu sein. Emmanuel Macron hat große Pläne geäußert – und sie mit Reformanstrengungen in Frankreich selbst untermauert.

Dazu kommt die auch hierzulande weit verbreitete Vorstellung, dass Deutschland als Hauptgewinner aus der Währungsunion einen besonderen Beitrag zur Finanzierung der Integration zu leisten habe.
Die Überlegungen können allerdings nicht überzeugen. Schließlich waren es gerade diese Punkte, die den Kritikern einer zu tiefen Union Nahrung gegeben haben. Und es waren diese Punkte, die einen wesentlichen Beitrag zur Spaltung der Europäischen Union (EU) sowie innerhalb der Mitgliedsländer beigetragen haben.

Zudem ist die Vorstellung, Deutschland sei der größte Gewinner der Währungsintegration, irrig. Die deutsche Exportwirtschaft hätte auch ohne die Eurozone auf den Weltmärkten Erfolg gehabt. Dafür spricht, dass der Anteil deutscher Exporte in die Eurozone an den Gesamtexporten seit 1999 schwach rückläufig ist. Trotz starker Aufwertung konnten sich die deutschen Exporteure außerhalb des Euroraums behaupten.

Als Argument für die besonderen deutschen Gewinne durch die Eurozone wird oft der Leistungsbilanzüberschuss herangezogen. Doch dieser ist nur das Ergebnis ausgeprägter Ersparnis und zu geringer Investitionen im Inland. Es mag stimmen, dass die Deutschen vor allem so viel sparen, weil ihr Vertrauen in die Geldpolitik so gering ist. Vor diesem Hintergrund wären die Deutschen aber eher Verlierer als Gewinner der Währungsintegration.

Diese Debatte ist dennoch müßig, denn es geht darin gar nicht so sehr um nationale Befindlichkeiten, selbst wenn Deutschland etwas mehr als andere zahlen sollte. Wenn die mit einer Vertiefung der EU und der EWU erkaufte politische und ökonomische Stabilität hoch wäre, wäre der Widerstand vermutlich gering.

Leider dürfte der Erfolg einer Vertiefung der EWU jedoch gering sein. Und damit sind wir bei den Sorgen angekommen, die mit den Ergebnissen der Sondierungsgespräche verbunden sind. Die Kritiker fürchten um die Stabilität des gesamten Währungsraumes, wenn es zu einer Ausweitung des ESM zu einer Art Währungsfonds sowie der Vergemeinschaftung der Einlagensicherung kommt – und genau daraus würde eine Transferunion bestehen.

Die Sorgen werden durch angedachte Gemeinschaftsschulden, sogenannten European Safe Bonds, noch verstärkt. Das Ziel der Idee: durch gemeinsam ausgegebene Bonds will man den Markt für sichere Anlagen in Europa verbreitern. Dies ist eine Idee, die auf der Vorstellung basiert, dass die Regierungen sich nur von ökonomischer Rationalität leiten ließen und die sich ergebenden politischen Spielräume nicht nutzen würden. Die Erfahrungen der EWU legen allerdings leider das Gegenteil nahe.

Am Ende könnte die gesamte EU auf der Kippe stehen

In diesem Falle wären die Unterstützungsmaßnahmen und Vergemeinschaftungen von Schulden und Risiken erfolglos und würden die Ungleichgewichte innerhalb der EWU eher verschärfen – sowohl zwischen den Mitgliedsländern als auch innerhalb dieser. Schon jetzt weisen die geldpolitischen Maßnahmen eine Tendenz der Umverteilung von unten nach oben auf und gefährden die Alterssicherung von Millionen Bürgern gerade aus der unteren Einkommens-Mittelschicht.

Auch alle weiteren Sorgen der Kritiker der neuen Vergemeinschaftungs-Ideen basieren weniger auf die fehlende ökonomische Logik als vielmehr auf politökonomische Überlegungen. Dass die Gelpolitik in den Finanzministerien der Mitgliedsländer erfreut zur Kenntnis genommen wird, liegt auf der Hand. Während die Politik kurzfristig denkt, haben die Bürger ihre langfristige Alterssicherung im Blick, die sie nun akut gefährdet sehen.

In allen aktuellen Vorschlägen sind wiederum große Spielräume für verantwortungsloses und zu kurz gedachtes Verhalten angelegt. Es wäre naiv, zu glauben, dass Regierungen diese Spielräume nicht nutzen würden. Sie würden es schon deshalb tun, weil die meisten Menschen eben nicht europäisch denken, sondern sich in erster Linie als Bürger ihres Landes sehen. Deshalb denken sie auch immer die Frage mit, welchen Vorteil das eigene Land beziehungsweise sie selbst aus der Integration ziehen können.

Solange es keine europäische Öffentlichkeit und kein europäisches Bewusstsein gibt, sind sämtliche Versuche, innereuropäische Transfers größeren Ausmaßes vorzunehmen, hoch riskant. Deshalb kann nur davon abgeraten werden, diese Option zu wählen.

Die neue Bundesregierung steht deswegen vor einem Dilemma. Sie sieht sich gleichzeitig französischem und Brüsseler Druck auf Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik, nordeuropäischer Angst davor und einer generellen osteuropäischen Europamüdigkeit gegenüber.

Gibt die Bundesregierung dem Druck aus Brüssel und Paris nach, gefährdet sie die Stabilität der Währung und riskiert das Scheitern des Euros. Darüber hinaus gefährdet diese Strategie die politische Stabilität in den Mitgliedsländern. Und sie riskiert das weitere Erstarken der extremen Kräfte, die den Unmut der Bürger soweit schüren, dass am Ende die gesamte EU auf der Kippe stehen könnte.

Es gilt, einen Weg zu finden, die EU wieder zukunftsfähig zu machen, ohne ihre Stabilität zu gefährden. Anders gesagt: Errungenschaften wie die Freiheiten von Verkehr, Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital sind zu wahren.

Die EU war ein Friedensprojekt und konnte mit diesen Freiheiten als vollendet gelten. Die Währungsunion dagegen war weder ökonomisch notwendig, noch scheint sie dem Frieden zu nutzen. Zwingt man die Menschen nun in die nächste Union – die Transfer- und Haftungsunion – könnte das Friedensprojekt seinen Charme endgültig verlieren.

Anstatt die üblichen europafreundlichen Phrasen zu dreschen, sollte die Politik offen an die Diskussion herangehen. Bürger und Politiker müssen ernsthaft über Alternativen nachdenken. Keine Option sollte ausgeschlossen werden – außer das Beharren auf der immer näher zusammenrückenden Union. Dass Politikern wie Martin Schulz, der sein politisches Leben in den europäischen Institutionen verbracht hat und für den selbst ein kluger Rückschritt kein Fortschritt wäre, dies schwer fällt, ist nachvollziehbar. Aber keine Entschuldigung für schlechte Lösungen.

Hinweis: Der Beitrag ist am 2. Februar 2018 in der Wirtschaftswoche erschienen.

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