Gastbeitrag
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
Ein schwieriges Unterfangen*

In Brüssel stehen wichtige Entscheidungen über neue Regeln für die Aufnahme, die Verteilung und hinsichtlich der Rechte von Flüchtlingen in der EU an. Auslöser der angestrebten Reformen waren Schwachstellen im derzeitigen Regelwerk, die im Gefolge der Flüchtlingskrise zutage traten: eine ungleichmäßige Verteilung der Verantwortlichkeiten für Asylverfahren und umfangreiche irreguläre Wanderungen innerhalb der EU.

Brisantes Thema trotz Erfolge beim Management der Flüchtlingskrise

Zwar liefert die Fluchtmigration nicht mehr die großen Schlagzeilen. So hat sich die Zahl der Asylsuchenden in der EU 2017 gegenüber den Höchstständen der Vorjahre auf rd. 0,65 Mio. nahezu halbiert. In Deutschland ging die Zahl der Asylerstanträge sogar von 722.000 im Jahr 2016 auf knapp 200.000 im vergangenen Jahr zurück. Dies reflektiert vor allem die Schließung der Balkan-Route im Spätherbst 2015 durch Ungarn und andere Länder vor Ort sowie das Abkommen der EU mit der Türkei vom März 2016, in dem sich die Türkei im Gegenzug für umfangreiche finanzielle Hilfen unter anderem dazu verpflichtete, illegaler Migration in die EU entgegenzuwirken. Gleichwohl geht es um brisante, umstrittene Themen. Der Streit könnte die bestehenden Divergenzen zwischen den mittel- und den westeuropäischen Mitgliedstaaten verstärken. Zudem gilt die Flüchtlingskrise als eine der Ursachen für die Erfolge populistischer Parteien in verschiedenen Mitgliedstaaten, etwa in Italien.

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Bei der Asylpolitik handelt es sich um ein eher jüngeres Aufgabenfeld der EU. Dieses wurde vor allem mit den Verträgen von Amsterdam (1999) und von Lissabon (2007) in die gemeinsame Politik überführt. Konkrete Rechtsgrundlagen bilden die Artikel 67 (2) und 78 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Artikel 78 räumt der EU Regelungsbefugnisse für ein umfassendes gemeinsames Asylsystem ein.

Im Zentrum des derzeitigen Regelwerkes steht die Dublin III-Verordnung.[1]Der Verordnung zufolge sind grundsätzlich die Länder, in denen Flüchtlinge erstmalig die EU betreten, für das Asylverfahren zuständig. Diese Regelung passt offenkundig nicht für eine Zeit erhöhten Migrationsdrucks. Sie impliziert das Risiko wiederholter oder gar permanenter hoher Belastungen von Ländern an den Außengrenzen der EU.

Überforderung von Aufnahmeländern mit problematischen Folgen

Die betroffenen Länder sind mit erheblichen Kosten für die Erfassung, Unterbringung und Betreuung, etwa die Gesundheitsversorgung, der Neuankömmlinge konfrontiert. Fehlende finanzielle Mittel und/oder unzureichende Kapazitäten können in dieser Lage dazu führen, dass zuständige nationale Behörden diese Aufgaben nur unzureichend wahrnehmen (können). Folgen der Überforderung traten ab Sommer 2015 etwa in Griechenland zutage. Dort kam es zu Lücken bei der Erfassung der Asylsuchenden; vor allem erwies es sich für die betroffenen Länder als enorme Herausforderung, die in der EU vereinbarten Standards bei der Unterbringung und Versorgung der Asylsuchenden zu gewährleisten. Dies hat dazu beigetragen, dass viele Flüchtlinge auf ungeordnete Weise in andere EU-Länder weiterreisten.

Darüber hinaus legen die Mitgliedstaaten die EU-Standards bei der Anerkennung von Flüchtlingen bislang nicht einheitlich aus. Das zeigen höchst unterschiedliche Anerkennungsquoten. Sie reichen etwa bei Personen aus Eritrea von 47% in Frankreich bis nahe 100% in Deutschland und Finnland. Die unterschiedliche Anerkennungspraxis schafft zusätzliche Anreize für Binnenwanderungen, das sogenannte Asylshopping. Flüchtlinge zieht es tendenziell dorthin, wo sie die größten Chancen auf Anerkennung haben.

Daten des Erfassungssystems Eurodac (European dactyloscopy database) zufolge hatten im vergangenen Jahr fast 41% (2016: 30%) der 633.000 (1,02 Mio.) im System erfassten Asylbewerber bereits zuvor einen Asylantrag in einem anderen EU-Land gestellt. In Frankreich waren es sogar 60% von knapp 100.000 Antragstellern. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Personen, die in der EU als illegal anwesend erfasst wurden. 2017 hatten 45,5% dieser 218.000 Personen ebenfalls bereits zuvor Asyl in einem anderen Mitgliedstaat beantragt.

Aus der umfangreichen Binnenwanderung resultiert eine unausgewogene Verteilung der Flüchtlinge. Von den knapp 3,7 Mio. Asylerstanträgen, die in den vergangenen vier Jahren in der EU gestellt wurden, entfielen auf Deutschland 42%, auf Italien 11%, auf Frankreich 8% und Schweden 7,5%, hingegen etwa auf Polen nur knapp 1%. Auch gemessen an der Bevölkerungszahl ergibt sich eine schiefe Verteilung. Während Deutschland 2015 und 2016 5,4 bzw. 8,8 Asylerstanträge pro 1.000 Einwohner registrierte, waren es in Frankreich nur jeweils rd. 1,1 und in Großbritannien nur rd. 0,6.[2] Interessanterweise korreliert die Haltung der Bürger aber nur bedingt mit diesen Werten. So sind in einigen mittelosteuropäischen Ländern die Vorbehalte gegenüber Zuwanderung aus Drittstaaten groß, obgleich die Zahl der Asylsuchenden dort relativ gering ist.

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Mitgliedstaaten reagierten auf die Migration innerhalb der EU auch mit der Einführung von Grenzkontrollen. Deutschland gehörte im Oktober 2015 zu den ersten von sechs Ländern, die Kontrollen im Schengenraum einführten. Diese Kontrollen und entsprechende Behinderungen des freien Verkehrs von Personen und Waren bestehen bis heute – auch wenn sie seit geraumer Zeit mit der Abwehr terroristischer Gefahren begründet werden.

Umfassendes Reformvorhaben in zwei Paketen

Vor diesem Hintergrund initiierte die Europäische Kommission 2016 die jetzt zur Entscheidung anstehende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Dieses Vorhaben besteht aus zwei Reformpaketen. Mit dem ersten Paket strebt die Kommission besser harmonisierte Standards bei Asylverfahren und der Versorgung Schutzsuchender an, um Sekundärmigration zu reduzieren. Kernelement des zweiten Paketes ist die Einführung eines tragfähigen, fairen Dublin-Systems für die Prüfung der Zuständigkeit von Asylverfahren.

Über die Gesamtreform soll beim Treffen des Europäischen Rates im Juni 2018 grundsätzliche Einigung erzielt werden. Allerdings erscheint der Zeitplan ambitioniert, da insbesondere die geplante erneuerte Dublin-Verordnung zwischen den Mitgliedstaaten höchst umstritten ist.

Hingegen bestehen für das erste Paket günstigere Realisierungsperspektiven. Die in der EU geltenden Verfahrens- und Versorgungsstandards sind maßgeblich in drei Richtlinien festgelegt, nämlich der Asylverfahrensrichtlinie, der Qualifikationsrichtlinie sowie der Aufnahmerichtlinie. Mit der geplanten Reform sollen diese Richtlinien neu gefasst und zudem die beiden erstgenannten in unmittelbar für die Mitgliedstaaten bindende Verordnungen umgewandelt werden.

Die vorgeschlagene Qualifikationsverordnung soll die Kriterien der Gewährung von internationalem Schutz (d.h. für die Anerkennung als Flüchtling) und von subsidiärem Schutz sowie die Rechte und Pflichten der Flüchtlinge und anderer Schutzsuchender harmonisieren. Die neue Asyl-Verfahrensverordnung zielt auf „einfachere, klarere und kürzere Verfahren“. Zudem sind beschleunigte Rückführungsverfahren für Personen aus sicheren Drittstaaten vorgesehen. Dazu sollen einheitliche Standards und eine EU-weit verbindliche Liste sicherer Drittstaaten erstellt werden.

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Das Gros der Vorschläge dürfte letztlich vom Parlament und vom zuständigen Ministerrat akzeptiert werden. Freilich hat das Parlament wegen der Betonung der Sanktionen etwa gegenüber Asylbewerbern, die illegal in andere Mitgliedstaaten wandern, Bedenken angemeldet und stattdessen bessere Anreize für den Verbleib im zuständigen Land gefordert. Zudem will das Parlament Abschiebungen nur als Ultima Ratio akzeptieren. Der Ministerrat sieht eine zu starke Ausweitung der Ansprüche kritisch. So hat sich der Rat etwa gegen die Verkürzung der Wartefrist beim Arbeitsmarktzugang ausgesprochen. Ungeachtet dieser Differenzen erscheint es möglich, dass das Trilogverfahren zu den Verordnungen wie geplant im Mai oder Juni abgeschlossen werden kann.

Umstrittene Reform des Dublin-Verfahrens berührt Kompetenzverteilung

Die tiefer gehenden Meinungsunterschiede hinsichtlich der Reform des Dublin-Verfahrens sind insoweit verständlich, als es hierbei um gewichtigere Neuerungen und Eingriffe in nationale Kompetenzen geht. Das gilt für die vorgesehene Neufassung der Kriterien für die Bestimmung des für die Prüfung von Asylanträgen zuständigen Landes. Bei den Kriterien, die neben dem erstmaligen Betreten der EU für die Ermittlung des zuständigen Landes gelten, sollen familiäre Bindungen in neuer Weise berücksichtigt werden. Insbesondere soll der Begriff „Familienangehörige“ dahin gehend ausgeweitet werden, dass (1) die Geschwister des Antragstellers und (2) verwandtschaftliche Beziehungen, die nach Verlassen des Herkunftslandes, aber vor der Ankunft im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats entstanden sind, einbezogen werden.

Und es gilt in noch stärkerem Maße für die geplante Einführung eines Korrekturmechanismus für „eine gerechtere Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den Mitgliedstaaten“. Dieser Mechanismus, der die verpflichtende Aufnahme von Schutzsuchenden nach einem Quotensystem vorsieht, soll greifen, wenn sich Mitgliedstaaten einer „unverhältnismäßig hohen Zahl von Asylbewerbern“ gegenübersehen. Alternativ sollen Mitgliedstaaten einen Solidarbeitrag entrichten können oder weniger (Förder-)Mittel aus dem EU-Budget erhalten. Besonders die letztere Option hat im Vorfeld der aktuellen Verhandlungen für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU bereits zu erheblichen Konflikten geführt.

Derzeit ist kaum absehbar, wie die unterschiedlichen Vorstellungen der Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten. So fordern nicht nur Griechenland und Italien, sondern auch Deutschland und die Niederlande Solidarität aller Mitgliedstaaten. In Deutschland dürften aber veränderte Kriterien, insbesondere soweit sie erweiterten Familiennachzug ermöglichten, vor allem beim CSU-geführten Innenministerium auf Widerstand treffen. Österreich und die Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) hingegen lehnen eine Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen bzw. ein entsprechendes Quotensystem ab. Damit erscheint fraglich, ob ein Kompromiss noch vor dem Treffen des Europäischen Rates im Juni erzielt werden kann. Und auch der Gipfel selbst könnte ohne Einigung über die Reform des Dublin-Verfahrens enden.

Bei den Auseinandersetzungen geht es indes um mehr als nur begrenzte nationale Interessen. Zur Debatte stehen auch die Kompetenzen der EU. Die Befürworter einer auf diesem Gebiet starken EU sehen in der Aufnahme von Flüchtlingen ein europäisches öffentliches Gut.[3] Die Regelungsbefugnis dafür, auf welche Weise und in welchem Umfang dieses Gut bereitgestellt werden soll, liegt demnach eindeutig bei der EU-Ebene. Die Kritiker umfangreicherer EU-Kompetenzen sehen dies anders. Ihrer Ansicht nach sollten die einzelnen Mitgliedstaaten selbst entscheiden können, ob und wie viele Menschen sie aufnehmen.[4]

Offenkundig besteht hier ein Spannungsfeld zwischen nationalen Souveränitätsansprüchen einerseits und Erfordernissen des EU-Binnenmarktes und dem Wunsch nach Solidarität und fairer Verteilung der Verantwortlichkeiten andererseits. Auf diese Prinzipien verweisen die Brüsseler Institutionen sowie auch die Mitgliedstaaten mit hohem Migrationsdruck.

Reform des Dublin-Verfahrens nicht auf die lange Bank schieben

Die Kommissions-Vorschläge für einheitlichere Asylverfahren und Aufnahmebedingungen lassen sich als Maßnahmen gegen Sekundärmigration und zum Schutz des Binnenmarktes rechtfertigen. Sie können zu einem nachhaltigen Abbau von Grenzkontrollen und damit höherer Effizienz des gemeinsamen Marktes beitragen. Im Einklang damit hat die bulgarische Präsidentschaft den Fokus bei den laufendenden Verhandlungen auf diesen Aspekt gerichtet.

Freilich dürfte die Frage der (Erst-)Verteilung der Schutzsuchenden früher oder später wieder an Dringlichkeit gewinnen. Das gilt umso mehr, wenn sich die Beteiligten auf klare, wirksame Regeln zur Vermeidung von Sekundärmigration einigen können. Der Grundsatzstreit über die asylpolitischen Kompetenzen der EU verweist seinerseits wiederum zurück auf elementare Fragen der Interpretation und Weiterentwicklung des institutionellen Gefüges der EU.

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* Gekürzte, überarbeitete Version eines gleichnamigen Beitrags publiziert als Deutsche Bank Research (Hrsg.). EU-Monitor Europäische Integration. 12. April 2018.

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[1] Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-Verordnung) vom 26. Juni 2013.

[2] Die hohe Zahl der im Herbst 2015 nach Deutschland zugewanderten Flüchtlinge ist indes nicht als Sekundärmigration zu werten. Angesichts der damals kritischen Situation v.a. in Ungarn hatte Deutschland seine Grenzen für Flüchtlinge geöffnet. Wie aus einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom Juni 2017 abzuleiten ist, konnte sich die Bundesregierung dabei auf das Selbsteintrittsrecht der Ermessensklauseln der Dublin III-Verordnung (Artikel 17 Abs. 1) berufen und dementsprechend als zuständig agieren.

[3] Siehe z.B. Heinemann, Friedrich (2017). EU-Asylagentur: Wettlauf nach unten stoppen. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.). Politik für Europa # 2017 plus.

[4] So etwa der österreichische Bundeskanzler Kurz in Bild am Sonntag am 24. Dezember 2017.

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