Im aktuellen Wahlkampf prägt viel Umverteilungsrhetorik die steuerpolitische Debatte – zumal die SPD ,mehr Gerechtigkeit“˜ als ihr Motto ausgerufen hat. Zweifellos lässt sich die Bedeutung der Steuerpolitik in diesem Kontext schwerlich bestreiten. Gleichwohl ist der einseitige Blick auf das Steuersystem problematisch. Umverteilung hat Grenzen, auch in der Sozialen Marktwirtschaft. Sie liegen spätestens dort, wo der Staat Freiheits- und Eigentumsrechte der Bürger über Gebühr beschneidet. Allerdings ist der konkrete Verlauf dieser Grenze umstritten, umso mehr, als sich der einst als verfassungsrechtliche Vorgabe vorgeschlagene Halbteilungs-grundsatz juristisch als unhaltbar erwies. Vernünftigerweise sollte die Politik immer beachten, dass überhöhte Steuern die Motivation der Bürger zur Leistung am offiziellen Arbeitsplatz sowie auch unternehmerische Investitionen beeinträchtigen können. Auf ein mit wachsenden Steuerlasten zunehmendes Risiko solcher Effekte weisen bewährte Theorien hin. Dem steht indes die Ansicht gegenüber, dass vermehrte Umverteilung von Einkommen und Vermögen über verstärkte Nachfrage ,ärmerer“˜ Bevölkerungsschichten das Wirtschaftswachstum befördern könne. Aber wie relevant ist diese Sichtweise für Deutschland? Sprudelnde Staatseinnahmen, insbesondere auch aus der Lohn- und Einkommensteuer, die aus dem guten Lauf der Wirtschaft sowie der steilen Progression der Steuersätze resultieren, und ein bereits erhebliches Maß an steuerlicher Umverteilung zeigen eher Bedarf an steuerlicher Entlastung der Bürger an. Die aktuellen Daten sprechen hier Bände.
Verstärkter staatlicher Zugriff auf finanzielle Ressourcen Privater
Die Steuereinnahmen in Deutschland steigen und steigen. 2016 flossen hierzulande  EUR 705,8 Mrd. an den Fiskus. Das waren ein Drittel bzw. 175,2 Mrd mehr als 2010. Vor allem die Lohn- und die Einkommensteuer mit einem Mehraufkommen von 44,5% bzw. zwei Dritteln in diesem Zeitraum treiben die Expansion an. Wenn der Staat nicht gegensteuert, hält der Trend an. Den offiziellen Schätzungen zufolge legt das Steueraufkommen bis 2021 im Durchschnitt alljährlich um 3,8% auf dann EUR 852 Mrd zu. Im gesamten Zeitraum übersteigen die Steuereinnahmen damit die Wirtschaftsleistung. Betrug die Steuerquote 2010 noch 20,6% (des BIP), so waren es 2016 bereits 22,2% und für 2021 wird mit 23,3% gerechnet. Aber dies ist nur die halbe Wahrheit. Auch die Sozialbeiträge nehmen anscheinend unaufhaltsam zu – seit 2010 um 23% auf EUR 626,3 Mrd im vergangenen Jahr.
Breiter Abgabenkeil für Durchschnittsverdiener
Die Dynamik bei Steuern und Abgaben mag die Kassenwarte der öffentlichen Haushalte erfreuen. Aber es gibt bedenkliche Schattenseiten. So gehört Deutschland zu den Ländern mit dem höchsten Abgabenkeil zwischen Brutto- und Nettolöhnen. Insbesondere auf die Arbeitseinkommen kinderloser Personen greift der Staat in Deutschland stärker zu als in allen anderen Industrieländern mit Ausnahme Belgiens. Das gilt sowohl für Durchschnittsverdiener, denen kaum mehr als die Hälfte der Lohnkosten ihrer Arbeitgeber zufließt (Abgabenkeil 49,43%), als auch für Personen mit geringeren Einkommen. Ungeachtet durchaus nennenswerter Transfers für Kinder (Kindergeld) werden auch Alleinerziehende insbesondere mit unterdurchschnittlichem Einkommen vergleichsweise stark belastet. Dies spiegelt die relativ hohe Belastung von Geringverdienern mit Sozialabgaben wider. Wegen der Vorteile des Ehegattensplittings ist der Abgabenkeil für Paare mit einem Alleinverdiener und Kindern hingegen geringer als in vielen vergleichbaren Ländern.
Der breite Keil zwischen Brutto- und Nettolöhnen treibt aus Unternehmenssicht die Arbeitskosten in die Höhe. Damit hemmt er prinzipiell die Beschäftigung – vor allen in Bereichen, in denen die Abgaben relativ stark zu Buche schlagen. Andererseits schwächt er die Leistungsmotivation von Arbeitskräften. Und das Splitting-verfahren bei der Lohn- und Einkommensteuer gilt als Hemmnis für eine (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen.
Korrekturen bei Lohn- und Einkommensteuer geboten
Spezielle Probleme resultieren aus dem Verlauf des progressiven Tarifs der deutschen Lohn- und Einkommensteuer. Jenseits des Grundfreibetrages (2017: EUR 8.820 p.a.) steigen die marginalen Steuersätze in zwei Zonen steil an – zunächst von 14% auf 24% und dann weiter auf 42%. Dieser Spitzensatz wird derzeit bei einem Einkommen von EUR 54.058 erreicht. Das entspricht dem 1,6-fachen des durchschnittlichen Bruttolohns und -gehalts der Arbeitnehmer. Damit unterliegen bereits viele Fachkräfte diesem Spitzensteuersatz. 2017 trifft dies für 2,69 Mio bzw. 6,4% der rd. 42 Mio. Steuerpflichtigen zu. Noch 2005 waren mit 1,23 Mio nur weniger als halb so viele Steuerpflichtige dem Spitzensteuersatz ausgesetzt. Darüber hinaus gilt für rd. 101.000 Steuerpflichtige die sogenannte Reichensteuer, d.h. der Höchststeuersatz von 45%. Zu bedenken ist, dass sich alle genannten Steuersätze grundsätzlich noch entsprechend dem Solidaritätszuschlag von 5,5% (auf die Steuerschuld) erhöhen, die Spitzensätze de facto also 44,31% bzw. 47,48% betragen.
Dass immer mehr Steuerpflichtige durch Lohn- und Gehaltssteigerungen in den Bereich hoher Grenzsteuersätze hineinwachsen, ist besonders problematisch, soweit die Zuwächse nur einen Anstieg des Preisniveaus reflektieren. So sind die tariflichen Stundenlöhne seit 2005 (2010) um 25% (15%) gestiegen. In demselben Zeitraum nahmen die Verbraucherpreise indes um insgesamt 16% (7,4%) zu. Die Tariflohnsteigerungen können insoweit als zu fast zwei Dritteln als inflationsbedingt gelten. Die inflationsbedingten Steuererhöhungen, die sogenannte kalte Progression, wurden aber erst in den letzten Jahren durch Anpassungen der Freibeträge und des Tarifs begrenzt korrigiert. Das ifo-Institut schätzt die progressionsbedingten Mehreinnahmen seit 2010 auf insgesamt rd. EUR 70 Mrd. Knapp die Hälfte davon entfällt auf die kalte Progression im engeren Sinn.[1] Der Staat sollte aber nicht durch ungerechtfertigte Steuereinnahmen von Inflation profitieren. Vor allem erscheint es unter Anreiz- und damit Wachstumsgesichtspunkten sowie unter Gerechtigkeitsaspekten fragwürdig, dass immer mehr Bezieher selbst mittlerer Einkommen relativ hohen Grenzsteuersätzen unterworfen sind.
All dies spricht für nennenswerte Reformen bei der Einkommensteuer. Im Interesse einer Stärkung der Wachstumskräfte erscheint es sinnvoll, insbesondere den steilen Tarifverlauf in den Bereichen geringerer und mittlerer Einkommen abzuflachen.
Beim Solidaritätszuschlag, der auf die Einkommen- und die Körperschaftsteuer erhoben wird, besteht ebenfalls Bedarf für Korrekturen. Der Zuschlag wurde 1991 als befristete Abgabe zur Finanzierung der Kosten der Vereinigung Deutschlands erhoben. Im Widerspruch zu diesen Absichten wurde seine Erhebung aber bis heute immer wieder verlängert. 2016 erbrachte der Zuschlag fast EUR 16,9 Mrd, die alleine dem Bund zufließen. Für 2020 rechnet das Finanzministerium mit einem Aufkommen von EUR 20 Mrd.
Umverteilung über Steuern sollte nicht überzogen werden
Bei der Besteuerung kommt das Postulat der Gerechtigkeit – zumindest nach traditionellem deutschem Verständnis – im Leistungsfähigkeitsprinzip zum Ausdruck. Demnach sollen starke Schultern mehr tragen als schwache. Diesem Prinzip trägt der progressive Tarif der Lohn- und Einkommensteuer Rechnung. Daraus lassen sich aber keine Vorgaben für einen konkreten Tarifverlauf ableiten. Über die Höhe der Steuersätze muss die Politik entscheiden.
Freilich sollte die Politik bei der Tarifgestaltung den trade-off zwischen dem verbreiteten Wunsch nach verstärkter Umverteilung (die allerdings bevorzugt ,die anderen“˜ finanzieren sollen) und den negativen Folgen überhöhter Steuersätze für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung bedenken. Das gilt umso mehr, als die Einkommensteuer in Deutschland wesentlich auch als Unternehmensteuer fungiert, nämlich im Fall der 2,55 Mio Einzelunternehmen und Personengesellschaften (Oktober 2016).
Zu beachten ist auch, dass in Deutschland mittels der Lohn- und Einkommensteuer bereits in erheblichem Maße Einkommen umgeschichtet wird. So leistet das oberste Viertel der Steuerpflichtigen gut drei Viertel (77,5%) der gesamten Steuerzahlungen. Dabei bezahlen alleine die oberen 10% mehr als die Hälfte (55,3%) des Gesamtaufkommens. Die gesamte untere Hälfte trägt hingegen nur 5,5% zum Aufkommen dieser Steuer bei.
Dem wird entgegengehalten, dass Haushalte mit mittleren und geringen Einkommen relativ stark durch Sozialversicherungsbeiträge und die Mehrwertsteuer belastet seien. Tatsächlich zeigen Berechnungen des RWI, Essen, dass das Steuer- und Abgabensystem insgesamt nicht progressiv ist. Demnach liegt die Belastung des Bruttoeinkommens durch Steuern und Abgaben ab einem Einkommen von EUR 40.000 nahezu konstant bei 45%. Dies resultiert zum einen daraus, dass auf Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen keine Sozialversicherungsbeiträge entfallen. Zum anderen reflektiert dies den relativ geringeren Anteil des mit Mehrwertsteuer belegten Konsums an den Budgets der Haushalte mit höheren Einkommen.
Eine progressive Gestaltung der Sozialabgaben oder die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen wäre indes nicht sinnvoll. Die Abgaben begründen insbesondere bei der Rentenversicherung Anspruch auf zukünftige Leistungen, die dann ebenfalls finanziert werden müssten. Gefordert ist vielmehr eine weitsichtige Sozialpolitik, die gerade auch im Interesse der Bezieher mittlerer und geringerer Arbeitseinkommen auf nachhaltige Finanzierbarkeit der Sozialversicherungen ohne Überdrehen der Beitragsschraube zielt.
Problematisch wäre auch eine von verschiedener Seite immer wieder vorgeschlagene stärkere Differenzierung der Mehrwertsteuer, etwa eine Absenkung des ermäßigten Satzes für Lebensmittel von derzeit 7% auf 5%. Eine (weitere) Differenzierung der Steuersätze verursachte nach aller Erfahrung Abgrenzungsprobleme und erheblichen Bürokratieaufwand. Zudem wäre eine solche Maßnahme nur bedingt zielgenau. Die regressive Wirkung der Mehrwertsteuer würde dadurch zwar abgeschwächt, aber auch Bezieher hoher Einkommen profitierten vom niedrigen Satz.
Auch von einem verteilungspolitischen Blickwinkel her betrachtet, heißt die Kernaufgabe der Steuerpolitik: Entlastung mittlerer und geringerer Einkommen. Bedarf an zusätzlicher Besteuerung höherer Einkommen ist indes weder beim relativen noch beim internationalen Vergleich zu erkennen.
Entlastung der Steuerzahler hat recht unterschiedliche Priorität für die Parteien
Gemäß ihrer Wahlprogramme räumen die möglicherweise an der nächsten Bundesregierung beteiligten Parteien der Entlastung der Steuerzahler unterschiedliche Priorität ein. Bei der SPD liegt die Entlastung im einstelligen Milliarden-Bereich. Die Partei betont zwar, Klein- und Mittelverdiener um insgesamt EUR 15 Mrd zu entlasten. Ein wesentlicher Teil dieses Betrags ergibt sich aber durch die geforderte Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dadurch würden die Arbeitnehmerhaushalte zwar um rd. EUR 6 Mrd entlastet, aber die Unternehmen müssten entsprechend höhere Beitragszahlungen leisten. Der von der SPD vorgeschlagene Ausstieg aus dem Solidaritätszuschlag, von dem zunächst aber nur Steuerzahler mit einem zu versteuernden Einkommen von weniger als EUR 52.000 profitieren könnten, würde zu Mindereinnahmen von anfänglich EUR 5 Mrd p.a. führen. Die Einkommensteuerreform selbst reduzierte das Aufkommen nur um wenige Milliarden. Den Grünen geht es ebenfalls vorrangig darum, einzelne Gruppen besser zu stellen. Während – wie bei der SPD, aber auch bei der Union – Bezieher geringerer und mittlerer Einkommen sowie viele Familien merklich weniger Steuern abführen müssten, würden Personen mit höherem Einkommen von den Grünen – ähnlich wie von der SPD gefordert – verstärkt zur Kasse gebeten.
Aus den steuerpolitischen Vorschlägen der Union resultiert nach Parteiangaben ein Entlastungsvolumen von insgesamt rd. EUR 17 Mrd. Die CDU/CSU beschränkt sich wohl auf diesen Betrag, weil sie, wie SPD und Grüne, höhere Infrastrukturinvestition, aber auch einen Abbau der öffentlichen Verschuldung anstrebt. Deutlich stärkere steuerpolitische Impulse will die FDP setzen, die aber auch grundsätzlich für eine engere Begrenzung der Staatstätigkeit plädiert. Die Liberalen halten ein Entlastungsvolumen von mindestens EUR 30 Mrd „für eine angemessene Zielgröße“. Das entspräche 3,7% (3,5%) des 2020 (2021) erwarteten Steueraufkommens.
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[1] Â Dorn, Florian et al (2016). Heimliche Steuererhöhungen – Belastungswirkungen der Kalten Progression und Entlastungswirkungen eines Einkommensteuertarifs auf Rädern. Ifo Forschungsberichte Nr. 76. .
Hinweis: Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte und leicht veränderte Version von: Böttcher, Barbara und Dieter Bräuninger (2017). Staat oder Private, Umverteilung oder Wachstum. Wer gewinnt beim Steuerpuzzle der Parteien? Deutsche Bank Research: Deutschland-Monitor Bundestagswahl 2017.