Diesel, Stickoxide und Politikversagen

Es gibt nicht mehr allzu viele Menschen, die den Klimawandel, seine von uns Menschen gemachten Ursachen und seine beobachtbaren Folgen noch bestreiten. Keine Frage: Der Klimawandel ist ein besorgniserregendes, ja ein beängstigendes Problem. Die Belastung unserer Luft mit Stickoxiden ist es dagegen nicht. Das heißt nicht, dass sie kein Problem ist. Es heißt nur, dass sie alles andere als ein besorgniserregendes Problem ist. Das liegt daran, dass wir auf dem besten Wege sind, dieses Problem zu lösen. In ein oder zwei Jahrzehnten spätestens wird es uns nicht mehr weiter interessieren; und bis dahin werden wir keine allzu ernsthaften Schäden davongetragen haben.

Zuzugeben ist allerdings, dass uns über die Schädlichkeit von Stickoxiden nicht viele belastbare Fakten vorliegen. Nur eines wissen wir: dass nämlich die behaupteten 6000 vorzeitigen Tode durch Stickoxide auf Daten beruhen, denen niemand nach dem ersten Semester Statistik irgendeine ernsthafte Bedeutung zumessen wird. Denn es gibt keine amtliche Statistik, die das anhand der Befunde der Verstorbenen misst oder auch nur messen könnte. Nicht einmal klar ist, was „vorzeitige“ Tode überhaupt sein sollen. Was wir also alles nicht wissen, ist dies: Wer ist wie lange und aus welchem Grunde vorzeitig gestorben, und welchen Anteil an den Ursachen davon hatten jene Stickoxide, die er an der Straßenkreuzung in Stuttgart oder Frankfurt eingeatmet hat? Was wir allerdings wissen, ist, dass wir am Gartengrill, am Kaminfeuer und sogar vor der Adventskerze ein Vielfaches der Dosis einatmen, der wir an einer stark belasteten Ampelkreuzung ausgesetzt sind, für die beiden Minuten, die wir da immer mal stehen. Vom Rauchen wollen wir gar nicht erst reden, denn wir müssten nach dem Rauchen einer einzigen Zigarette auf der Stelle leblos umfallen, wenn die gelegentliche Dosis an der Ampel auch nur etwas mit den Folgewirkungen zu tun hätte, die mitunter an die Wand gemalt werden.

Genaueres allerdings wissen wir nicht. Daraus folgt selbstverständlich nicht, dass wir nichts gegen Stickoxide tun sollten. Es bleibt eine Belastung, es ist schwer vorstellbar, dass das gut ist, und es erwächst zu einem großen Teil aus dem massenhaften Gebrauch von Verbrennungsmotoren in den Innenstädten. Grund genug, diese Belastung abzubauen, damit wir das Thema in absehbarer Zeit abhaken können. Genau das geschieht aber nicht, sagt vor allem Jürgen Resch, seines Zeichens Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe und zugleich – zumindest zeitweise – Mitglied des Hon-Circle der 3000 intensivsten Vielflieger der Lufthansa. Immer wieder erwähnt er, dass der Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter an verkehrsnahen Messstationen seit 2010 an vielen städtischen Messstationen fortwährend überschritten wird und dass sich an diesem Befund nichts geändert habe.

Und damit hat er Recht. Um es genau zu sagen: Im Jahre 2010 überschritten 74 Prozent der städtischen Messstationen diesen Grenzwert. Dass seine Aussage dennoch in die Irre führt, das weiß Herr Resch, sagt es aber nicht. Denn es würde seinem Geschäftsmodell zuwiderlaufen. Dieses Geschäftsmodell beruht unter anderem auf dem Verbreiten des Eindrucks, dass sich in Jahren und Jahrzehnten nichts geändert habe an einem Problem, welches Jahr für Jahr tausende Menschenleben koste. Der Eindruck, es habe sich nichts geändert, beruht wiederum allein auf der Aussage, dass seit 2010 viele städtische Messstationen den Grenzwert überschritten hätten und dass das heute immer noch so sei. So formuliert ist es nicht einmal die Unwahrheit. Aber es suggeriert, dass die Belastung mit Stickoxiden seit vielen Jahren immer weiter stieg, bis sie 2010 an vielen Messstationen sogar den gesetzlichen Grenzwert überschritt, von wo aus sie seitdem mindestens verblieben, wenn nicht gar noch weiter gestiegen ist.

Das allerdings stimmt nicht, und das weiß auch der Herr Resch von der Deutschen Umwelthilfe, sagt es aber nicht – wie gesagt, wegen des Geschäftsmodells. Wer außer ihm noch wissen will, was denn jetzt wirklich stimmt, der kann sich auf der Homepage des Umweltbundesamtes anhand der dort veröffentlichten amtlichen Daten kundig machen. Oder hier weiterlesen. Dann findet er: Die anhaltende Überschreitung der Grenzwerte existiert nicht etwa deshalb seit 2010, weil die Belastung fortwährend gestiegen und 2010 schließlich den Grenzwert überschritten hätte. Vielmehr wurde der Grenzwert im Jahre 2010 überhaupt erst eingeführt, und zwar auf einem solchen Niveau, dass Schlag 2010 nicht weniger als 74 Prozent der verkehrsnahen städtischen Messstationen sofort über dem Grenzwert lagen – allerdings wie gesagt nur innerhalb der verkehrsnamen Messstationen. Hätte man den Grenzwert früher eingeführt – zum Beispiel 1995 – dann hätte man zu diesem früheren Zeitpunkt noch einmal höhere Anteile an Messstationen gefunden, die den Grenzwert überschritten. Aber von da aus ist der Anteil auch bis 2010 gesunken, denn die Stickoxidbelastung war auch damals schon deutlich rückläufig und nicht etwa ansteigend. Inzwischen können wir sehen, dass die Belastung auch danach kontinuierlich weiter gesunken ist. Zwar stimmt es nach wie vor, dass „viele“ Messstationen den Grenzwert überschreiten. Schauen wir aber genauer hin, dann sehen wir, dass der Anteil jener städtischen Messstationen, welche den Grenzwert überschreiten, zwischen 2010 und 2017 von 74 Prozent auf 44 Prozent und damit um satte 60 Prozent gesunken ist.

Ist also wirklich nichts geschehen? Hat sich nichts verbessert? Das kommt wohl ganz darauf an, wie man das formuliert. Wenn man sich die Daten jedenfalls auch nur um einen Hauch genauer ansieht, dann stellt man fest, dass die städtische und vor allem auch die verkehrsnahe Belastung mit Stickoxiden schon seit mindestens 1995 rückläufig war und seit 2010 noch einmal erheblich gesunken ist. Aber das ist noch nicht alles. Denn die öffentlich diskutierten Anteile der Messstationen, die den Grenzwert überschreiten, beziehen sich allein auf die verkehrsnahen Messpunkte, das sind jene, die direkt an besonders stark belasteten Straßen und Kreuzungen stehen – quasi auf Auspuffhöhe. Sehen wir uns die übrigen an, so finden wir: Die Zahl der Überschreitungen des Grenzwerts jenseits der verkehrsnahen Stellen ist seit 2015 null, während es 2010 bundesweit immerhin noch zwei Messstationen mit Überschreitungen gab. Noch weitere Fakten gefällig? Die durchschnittliche Belastung mit Stickoxid ist in den letzten 20 Jahren kontinuierlich um zweistellige Prozentraten gesunken, und das gilt für verkehrsnahe Stellen, für den städtischen Hintergrund und sogar für den ländlichen Hintergrund, obwohl sie dort zuletzt ohnehin bei gerade 8,7 Mikrogramm lag.

Nochmal: Kein vernünftiger Mensch will den Trend zum Abbau der Stickoxidbelastung stoppen. Ja, und das darf und muss auch etwas kosten. Keine Frage. Schließlich gilt das alles auch unter der Bedingung, dass wir in Wirklichkeit wenig über die Frage wissen, welche gesundheitliche Belastung Stickoxide verursachen – zumindest in den Konzentrationen, über die wir hier reden. Aber wenn alle Welt von Verhältnismäßigkeit spricht, dann muss auch die Frage erlaubt sein, aus welchem Grund ein durchaus erfreulicher Trend zunächst einmal geleugnet und dann auf einen Schlag mit der Brechstange beschleunigt werden muss, koste es, was es wolle, und egal, wen es trifft. Gerade so, als gelte es, die Welt vor einer drohenden Stickoxid-Mega-Katastrophe zu retten; obwohl klar ist, dass unsere Welt oder doch zumindest die Art, wie wir leben, von so manchem unerfreulichen Trend bedroht ist, zu dem zweifellos der Klimawandel, ganz gewiss aber nicht die Stickoxidbelastung gehört.

Man hat im Jahre 2010 Grenzwerte eingeführt, von denen klar war, dass sie sofort überschritten werden würden. Bis 2015 der Dieselskandal von VW ins Rollen kam, hat sich dennoch kaum jemand dafür interessiert. Als dann der Skandal da war, konnte man die meisten Automobilhersteller in Europa für ihren kreativen Umgang mit den Emissionswerten ihrer Autos nicht belangen, weil schlicht die rechtlichen Bedingungen dafür nicht vorlagen; und daran hat sich bis heute nichts geändert. Das mag man ja beklagen, und man sollte auch unbedingt die dazugehörigen Hintergründe beleuchten – vor allem bei Behörden wie dem Kraftfahrtbundesamt. Aber das ändert nichts daran, dass man zum jetzigen Zeitpunkt der Automobilindustrie mit den Mitteln des Rechts im Wesentlichen nichts anhängen kann. So ist es halt, da kann man nichts daran ändern. Denn in einem Rechtsstaat darf man das Recht nicht rückwirkend ändern. Weil es nun aber einen Verein gibt, der sich qua Namensgebung selbst unter Naturschutz gestellt hat und der die Städte genüsslich mit Klagen überzieht, kommt man aus der ganzen Nummer mit den einmal gesetzten Grenzwerten nicht mehr heraus.

Dem Schlammassel zu entkommen, indem man die Grenzwerte temporär an den betroffenen Stellen zugunsten eines realistischeren Anpassungspfades erhöht, wäre grundsätzlich einen Gedanken wert, obwohl man sich schon kaum traut, das überhaupt nur zu schreiben. Aber das kann sich ohnehin kein Politiker leisten, denn in der aufgeladenen Diskussion vermengen sich alle Begriffe und Wertungen zu einem wüsten Wirrwarr von Schlagworten und Klischees: Klimaschutz, Umweltverbände, Autolobby, massenhafte Todesfälle und so weiter. Wer da Orientierung sucht, muss wissen, wo die Guten und wo die Bösen sind. Und wer in dieser Gemengelage den Verdacht auf sich zieht, Umweltstandards absenken zu wollen, der begibt sich in die Halbwelt der Klimaleugner, Diesellobbyisten oder gar AFD-Sympathisanten, auch wenn die Grenzwerte für Stickoxide an verkehrsbelasteten Stellen mit all dem nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Das und die Tatsache, dass es sich bei den Grenzwerten um Europarecht handelt, das wir auf nationaler Ebene nicht mal so eben aufheben können, lässt eine solche Lösung also ausscheiden. Und solange das so ist und Herr Resch mit seiner Umwelthilfe klagt, landen die Dinge halt vor Gericht.

Am Ende sieht es zwar immer so aus, als ob selbst die Gerichte dem daraus folgenden Irrsinn das Siegel der Verhältnismäßigkeit verliehen hätten. Aber auch das ist so richtig, wie es falsch ist – je nach Perspektive. Zwar dürfen und müssen die Richter über Verhältnismäßigkeit in der Sache entscheiden. Dabei können und dürfen sie sich aber nicht über gesetzlich fixierte Grenzwerte hinwegsetzen. Und daher können sie auch nicht darüber urteilen, ob diese Grenzwerte selbst verhältnismäßig sind. Vielmehr entscheiden sie darüber, welche Mittel zur Erreichung dieser Grenzwerte im Vergleich zu anderen möglichen Mitteln verhältnismäßig sind – bei gegebenen Grenzwerten, ob verhältnismäßig oder nicht. Weil den Städten dazu aber bisher wenig eingefallen ist, fällt das „verhältnismäßige“ Mittel der Wahl nun regelmäßig auf Fahrverbote.

Fassen wir zusammen: Die Politik setzt für’s erste – an den verkehrsnahen Stationen, und nur da – unerreichbare Grenzwerte, ein dubioser Verein überzieht die Städte mit Klagen, und die Richter sehen sich außerstande, unter der Überschrift der Verhältnismäßigkeit etwas Anderes vorzuschreiben, als etwas, was zumindest im Ergebnis mit Verhältnismäßigkeit nichts zu tun hat – und das im Namen der Verhältnismäßigkeit. Alles klar? Und so verballern wir um einer vermeintlichen Verhältnismäßigkeit Willen bei rund 10 Mio. betroffenen Dieselfahrzeugen und einem durchschnittlichen Restwert von irgendwo zwischen 5 und 10 Tsd. € pro Auto kurz einmal ein Vermögen in einem Wert von irgendwas zwischen 50 und 100 Mrd. €.

Herrn Resch von der Umwelthilfe freut’s. Ihn kümmert dieser Vermögensverlust nicht. Da weist er jede Schuld von sich, damit hat er nichts zu tun. Denn er will ja nach eigenem Bekunden allein die Automobilindustrie treffen. Natürlich weiß er als gerichtserfahrener Mann sehr wohl, dass das nicht möglich sein wird und dass er daher nicht die Automobilindustrie, sondern junge Familien mit einem vom Mund abgesparten Pendlerauto oder Kleinunternehmer mit ihren Lieferwagen treffen wird, die sie nicht mal einfach so eben durch neue ersetzen können. Dennoch behauptet er konsequent, die Automobilindustrie zu bekämpfen, und die meisten Politiker sekundieren ihm dabei, obwohl sie alle genau wissen, dass es nicht stimmt. Denn der Automobilindustrie kann man nach Lage der Dinge nur freiwillige Zugeständnisse abringen. Daher kommt sie auch nur höchst zögerlich rüber mit solchen Zugeständnissen und münzt das Ganze gar in Marketinggags um, wie dem Aufkleber auf einem neu ausgestellten Auto in einem Autohaus mit der Aufschrift: „Diesel 6: Ab in die City.“

So dreist muss man erst einmal sein. Familien mit knappem Budget, die nun auf dem gerade abgestotterten Diesel aus demselben Autohaus sitzen bleiben, werden den Slogan gewiss sehr gelungen finden. Aber wundern muss es niemanden. Denn alles, was die Automobilindustrie getan hat, ist von den zuständigen Genehmigungsbehörden abgesegnet worden, wenn man von den wenigen justiziablen Fällen absieht. Es wird niemand glauben können, dass die Behörden von all dem nichts gewusst hatten; und wenn sie es wirklich nicht gewusst haben, dann umso schlimmer. Schließlich hat uns die Politik sehenden Auges in das Grenzwertproblem getrieben, und sollte sie das wiederum nicht gesehen haben, so ist auch das noch schlimmer. Nun reiht sich die Politik ein in die Gruppe jener, die noch auf die Geschädigten einprügeln und wider besseren Wissens behaupten, es der Automobilindustrie damit mal so ordentlich zu zeigen. Das aber lenkt nur von einer Einsicht ab: Verursacht hat das Problem die Politik. Sie hat den Grenzwerten zugestimmt, obwohl sie hätte wissen müssen, dass sie mit ihrer Einführung sofort massenhaft verletzt werden würden und dass man dann keinerlei Handhabe mehr gegen Leute wie Herrn Resch mit seiner Umwelthilfe haben wird, die die Republik genauso genüsslich wie rücksichtslos mit einer Klagewelle überziehen werden. Schließlich ist es auch die Politik, die letztlich den unfähigen Genehmigungsbehörden vorsteht. Bei der Politik ist also das Problem zu suchen, auch wenn sie ebenso wohlfeil wie unzutreffend behauptet, gegen die Automobilindustrie und die „Diesellobby“ zu kämpfen, während sie in Wirklichkeit die „kleinen Leute“ prügelt, deren Anwalt zu sein sie zugleich vollmundig behauptet.

Aber nur zur Erinnerung: Wir reden hier nicht vom Klimawandel. Es geht um ein Problem, das ganz im Gegensatz zum Klimawandel heute schon von sehr überschaubaren Dimensionen ist; und das auf dem besten Wege dazu ist, im Wege des Flottenwechsels in ein paar Jahren überhaupt keines mehr zu sein. Dennoch jagen wir zweistellige Milliardenbeträge durch den Schornstein, um diesen Prozess vielleicht – aber auch nur ganz vielleicht – noch einmal um zwei oder drei Jahr zu beschleunigen. Immerhin, könnte man sagen.

Thomas Apolte
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