In Italien endete das alte Jahr mit einer erneuten Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts, was die seit 2018 amtierende Regierung aus „Movimento 5 Stelle“ und „Lega“ sehr schnell auf ein Versagen der Vorgänger zurückführte. Die Krise der italienischen Wirtschaft sei verschleiert worden, auch das verschlechterte konjunkturelle Umfeld in EU und Weltwirtschaft wird als Erklärung nachgereicht. Doch kommt diese ernüchternde Wirtschaftsentwicklung wirklich so überraschend?
Italien wurde seit der Wirtschafts- und Finanzkrise immer wieder als potentieller Krisenkandidat angesehen, da es den Anschluss an die wirtschaftliche Entwicklung in der EU zu verlieren schien und von fiskalischer Instabilität und kriselnden Banken gekennzeichnet war. Wie alle anderen EU-Staaten wurde auch Italien von der Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen, ein Einbruch bei Wirtschaftsleistung und Schieflagen in der Finanzwirtschaft mussten bewältigt werden. Die früheren italienischen Regierungen konnten wenigstens eine relative Stabilisierung erreichen, wobei sich die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank für Italien als hilfreich erwies. Auch wurden Strukturreformen in Angriff genommen, um die zunehmend schwächelnde Wirtschaft Italiens wieder wettbewerbsfähiger zu machen. Die Arbeitsmarktreformen der Regierungen Mario Montis und Matteo Renzis setzten mit der Steigerung der Arbeitsmobilität, der Erhöhung von Arbeitsanreizen und mit einer verbesserten Arbeitsmarktintegration von Arbeitslosen, Jugendlichen und Frauen an den entscheidenden Schwächen des italienischen Arbeitsmarkts an und führten zu kleineren Erfolgen.
Die heutige Opposition hat damit gute Argumente, um die Schuldzuweisungen der neuen Regierung zurückzuweisen. Allerdings blieb in ihrer eigenen Regierungszeit der Reformprozess unvollendet, so dass eine wirkliche Trendwende auf dem Arbeitsmarkt ausblieb. Die unpopulären Strukturreformen wollte zuletzt auch die Regierung Renzi nicht mehr mit dem notwendigen Elan weiterverfolgen. Mehr als eine Stabilisierung hat auch sie nicht zustande gebracht.
Die amtierende italienische Regierung stellt diese fragile Stabilität nun in Frage, indem sie die tieferen Ursachen für die italienische Misere nicht in den Strukturproblemen des Landes sehen möchte, die eine Verbesserung der Standortbedingungen erfordern würden. Vielmehr soll es eine großzügigere Sozialpolitik richten: Statt fiskalischer Konsolidierung mit einem sukzessiven Abbau des Schuldenbergs und statt einer Fortführung der eingeleiteten Strukturreformen steht plötzlich eine konsumorientierte Ausgabenpolitik im Vordergrund, die nur noch wenig Rücksicht auf Maastricht-Kriterien nimmt. Durch ein neues Bürgergeld („Reddito di cittadinanza“) und eine Frühverrentung („Quota 100“), die Arbeitsplätze freimachen soll, werden Impulse erwartet, die zu einer Überwindung von Wachstumsschwäche und Massenarbeitslosigkeit führen sollen. Die Illusion herrscht vor, dass sich auf diese Weise die Ausgabenprogramme quasi von selbst finanzieren, und der Abbau des Schuldenbergs würde sich in dieser Logik irgendwann von selbst ergeben. Die Zweifel an der Multiplikatorwirkung dieser Programme und an der Effizienz der italienischen Arbeitsmarktinstitutionen werden geflissentlich ignoriert.
Sicherlich sind unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen Italiens Staatsschulden kurzfristig weiterhin tragfähig – die bisherigen Reaktionen der Finanzmärkte, die hohe Schuldenquote und auch die aktuelle Haushaltspolitik der italienischen Regierung führen noch nicht zu einer Überschuldung. Allerdings ist Italien aufgrund seiner hohen Staatsschulden und seines relativ geringen Wachstums sehr anfällig für Zinsbewegungen. Risikoaufschläge aufgrund von eingetrübten Wachstumsaussichten oder tatsächlichen Wachstumsschocks sowie eine restriktivere Geldpolitik mit Zinserhöhungen könnten die Finanzierung der italienischen Schuldenlast in der Zukunft deutlich erschweren und Italien an seine Belastungsgrenze führen. Der benötigte Primärüberschuss würde signifikant steigen und Italien seinen letzten Handlungsspielraum nehmen.
Entscheidend sind daher die politischen Weichenstellungen zur Belebung des viel zu geringen Wirtschaftswachstums. Hier ist allerdings die Einsicht notwendig, dass es sich bei dem schwachen Wachstum nicht um ein konjunkturelles Problem handelt, dem mit der Erhöhung konsumtiver Staatsausgaben beizukommen ist. Die chronische Wachstumsschwäche Italiens hat vielmehr strukturelle Ursachen, die schon seit Jahrzehnten bestehen und einen schleichenden Niedergang der italienischen Volkswirtschaft eingeleitet haben – die schon seit den neunziger Jahren unterdurchschnittlichen Wachstumsraten und der Verlust an Wohlstand relativ zu den anderen EU-Staaten sind deutliche Hinweise darauf. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass das italienische Wachstumsproblem nicht vorwiegend auf die weiterhin schwächelnden ärmeren Regionen im Süden des Landes zurückzuführen ist, sondern dass der reichere Norden seine Rolle als Wachstumsmotor zu einem großen Teil eingebüßt hat.
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Vor diesem Hintergrund wäre es an der Zeit, die Reformdefizite, wie sie etwa von internationalen Institutionen und durch internationale Standortrankings benannt werden, abzubauen. Italien liegt im aktuellen Ranking des Doing-Business-Index mit Platz 51 nur auf einem der hinteren Plätze im Vergleich der EU- und OECD-Länder. Als eklatante Schwächen werden Investitionshemmnisse wie die Handhabung von Baugenehmigungen, der Zugang zu Krediten, die Zahlung von Steuern und die Durchsetzung von vertraglichen Ansprüchen genannt. Der „Global Competitiveness Index“ des World Economic Forums, in dem Italien auf Rang 31 landet, deckt ähnliche Standortschwächen auf.
Frühere italienische Regierungen hatten zumindest die Einsicht gewonnen, dass Strukturreformen unvermeidlich sind, doch blieb es häufig bei einzelnen Reformschritten. Diese „dicken Bretter“ müsste auch die gegenwärtige italienische Regierung bohren, um Italiens Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen und das Land auf einen nachhaltigen Erholungspfad zu führen. Denn ohne Zweifel hat Italien immer noch das Potential, den Anschluss an andere hochentwickelte Länder wiederzufinden und über einen steileren Wachstumspfad die Schuldentragfähigkeit dauerhaft sicherzustellen.
Allerdings wird sich an den Ursachen für die italienische Wachstumsschwäche nichts ändern, wenn statt auf Strukturreformen auf eine Ankurbelung des Wachstums durch höhere, überwiegend konsumtive Staatsausgaben gesetzt wird. Auch zeigt der hohe Schuldenstand Italiens, dass es in der Vergangenheit keineswegs ein „zu wenig“ an schuldenfinanzierten Staatsausgaben gegeben hat. Die Betrachtung der einschlägigen Zeitreihen legt nahe, dass das italienische Wachstum von den Schulden der Vergangenheit nicht gefördert wurde. Ohne eine Haushaltskonsolidierung und einen sukzessiven Schuldenabbau wird vielmehr die Gefahr wachsen, dass bei steigenden Zinslasten und ausbleibenden Wachstumserfolgen die Schuldentragfähigkeit Italiens gefährdet wird. Es wäre zudem ein riskante Strategie der italienischen Politik darauf zu hoffen, dass die Europäische Zentralbank und die Eurogruppe als „Retter“ bereitstehen würden. Anders als Griechenland ist Italien ein wirtschaftliches Schwergewicht, dem nicht mit einem herkömmlichen Rettungsprogramm geholfen werden könnte. Italien muss sich stattdessen dem Urteil der Märkte stellen und selbst die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Risikozuschläge nicht zum Thema werden und eine Normalisierung der Geldpolitik nicht als Damoklesschwert erscheint.
Hinweis: Dieser Beitrag basiert auf dem kürzlich veröffentlichten Kiel Policy Brief Nr. 120 „Italien: Geringere Schuldenlasten durch mehr Wachstum?“
Blog-Beiträge zu Italien:
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- Gastbeitrag
Italien überraschend in Schieflage? - 10. Februar 2019