Bernd Raffelhüschen (61) ist Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Professor an der Universität Bergen. Er studierte Volkswirtschaftslehre und promovierte an der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Sozial- und Steuerpolitik, insbesondere der Alterssicherung, der Gesundheitsökonomie und der Pflegevorsorge. Raffelhüschen beteiligt sich auch an internationalen Forschungsprojekten wie der Rürup-Kommission zu Fragen der praktischen Sozialpolitik.
Herr Raffelhüschen, was halten Sie von dem Vorstoß von Arbeitsminister Heil?
Bernd Raffelhüschen: Nichts, denn nichts von dem was vorgeschlagen wurde, passt in unser Sozialsystem.
Warum nicht?
Raffelhüschen: Weil alles an dem Vorschlag gegen die Grundprinzipien des Sozialstaats verstößt. Beispielsweise wurde das auf Bismarck zurückgehende Lebensleistungsprinzip durch Heils Vorstoß quasi abgeschafft: Manche haben eine Lebensleistung, die zu 900 Euro Rente führt, andere kommen nur auf 600 Euro – diese Menschen würden dann aber trotzdem mit 900 Euro bedient.
Und das ist falsch?
Raffelhüschen: Sicher, denn Leistung und Gegenleistung sind in der Rente unmittelbar miteinander verbunden. Ein weiteres Fundamentalprinzip, welches Heil bricht, ist die Gleichbehandlung in der Grundsicherung. Beim letzten Sicherungsnetz sind alle gleich: Männer wie Frauen, Ost- wie Westdeutsche, Arme wie Reiche. Wenn man aber arme Alte anders behandelt als andere, kommen die anderen auch auf die Idee, Ansprüche zu stellen, weil sie ja anders sind. Auch das Grundprinzip der Gerechtigkeit wird komplett gebrochen. Heils Vorschlag ist eben nicht gerecht, er ist schlicht ungerecht.
Warum wäre er nicht gerecht?
Raffelhüschen: Heils Vorschlag begünstigt gut vier Millionen Menschen. Davon sind gut 300 000 Menschen, die tatsächlich über ein Alterseinkommen von weniger als 900 Euro verfügen. Die restlichen 3,7 Millionen Nutznießer würden nach Bedürftigkeitsprüfung nichts bekommen. Etwa, weil der Ehepartner gut verdient oder sie vermögend sind. Wir bereichern also jene, die es gar nicht nötig haben – eine absurde Situation. Außerdem wollen wir in der sozialen Sicherung intergenerativ eine ausgewogene Situation herstellen, tatsächlich müssen nach dem angedachten System aber die Jungen bezahlen und die heutigen Alten profitieren.
Ist Heils Vorschlag überhaupt finanzierbar?
Raffelhüschen: Alles ist finanzierbar, wenn sie den Leuten das Geld wegnehmen. Die Frage ist, ob das realistisch ist. Die genannten Zahlen in dieser Debatte haben nichts mit seriösen Schätzungen zu tun. Das kennt man bei öffentlichen Ausschreibungen, wie bei der Hamburger Elbphilharmonie. Die Zahlen sind untertrieben, das wird deutlich teurer. Finanzierbar ist es, indem man die Mehrwertsteuer erhöht. Es geht aber dann so oder so auf Kosten des Steuerzahlers.
Wer profitiert von diesem System?
Raffelhüschen: Von der Grundrente, die ohne Bedürftigkeitsprüfung läuft, profitieren natürlich die Alten, nicht die Jungen. Und wie schon gesagt, 3,7 Millionen davon sind nicht bedürftig. Drei Viertel der Nutznießer sind weiblich. Darunter gibt es aber Ehefrauen, wie z.B. Gattinnen der Zahlärzte, Rechtsanwälte etc. in Teilzeitbeschäftigung. Auch die Ehefrauen von Selbständigen, oder Selbständige selbst, die in die Gesetzliche eingezahlt haben, würden dann oft zu den Armen gezählt und Geld bekommen.
Wer verliert?
Raffelhüschen: Der Steuerzahler. Wobei wir nicht genau wissen, wen Heil damit meint. Er hat sein Konzept ja noch nicht einmal mit Finanzminister Olaf Scholz abgesprochen. Ob die 10 bis 15 Millionen überhaupt aus den Steuereinnahmen zu meistern sind, ist angesichts der sich abzeichnenden Defizite fraglich. Wenn man die Wahlgeschenke an die Alten dann doch lieber durch neue Schulden finanziert, wird es auch nicht besser. Denn für Tilgung und Zinsen müssen dann auch wieder die Jungen aufkommen.
Was ist wichtiger? Lebensleistungsprinzip oder Grundsicherung?
Raffelhüschen: Die Lebensleistung hat nichts mit der Grundsicherung zu tun: Wenn ich wenig geleistet habe, bekomme ich wenig, wenn ich viel geleistet habe, bekomme ich viel. Bei der Grundsicherung ist das etwas anders: Wenn ich zu wenig gleistet habe, werde ich aufgestockt. Kein Rentner hat heutzutage unter 800 Euro. Aber wer aufgestockt wird, muss eben zeigen, dass er über keine anderen Einkommen verfügt. Das ist die Grundfeste des Sozialstaats. Wir helfen nur denen, die sich nicht anders behelfen können. Grundsicherung und Lebensleistung greifen also ineinander. Es ist nichts, was man gegeneinander ausspielen darf.
Was passiert, wenn in 20 Jahren die ersten Minijobber und Mindestlohnarbeiter in Rente gehen? Die sind doch bedürftig?
Raffelhüschen: Wir haben jetzt schon Menschen in Rente, die noch nicht mal Mindestlohn bekommen haben. Das Problem ist jetzt auch schon da. Wir haben heute viele Frauen ohne Erwerbsbiographien. In 40 Jahren werden wir dieses Problem so nicht mehr haben. Altersarmut ist im Übrigen ein überschätztes Phänomen. Das besteht in Deutschland gar nicht.
Altersarmut in Deutschland gibt es nicht?
Raffelhüschen: Zumindest nicht, wenn Sie das Statistische Jahrbuch zu Rate ziehen. Demnach liegt die Zahl der betroffenen Alten bei circa drei Prozent.
Und das ist vernachlässigbar?
Raffelhüschen: Die Wahrscheinlichkeit für einen Durchschnittsmenschen in Deutschland, arm zu sein, ist doppelt so hoch, bei Kindern sogar fünf Mal so hoch. Aber darüber spricht halt keiner. Sind ja auch keine Wähler.
Was sagen Sie der Friseurin, die trotz eines Lebens in Vollzeit kaum mehr als die Grundsicherung als Rente bekommt?
Raffelhüschen: Sie hat ein Einkommen, das sie sich selbst erworben hat. Und auf die Tatsache, dass sie nicht vom Geld der anderen lebt, sollte sie stolz sein. Dass es nicht weit weg liegt vom Grundeinkommen, liegt daran, dass das Grundeinkommen vielleicht zu generös ist. Die richtige Frage wäre, wo die Grenze zum Existenzminimum liegt. Die niedrigverdienende Friseurin hat sich ihre Rente verdient. Wer nie etwas getan hat, hat sich keine Rente verdient, sondern lediglich ein Existenzminimum. Und dieses sollte meiner Meinung nach nicht monetär, sondern durch Sachleistungen erfolgen, denn es sind die Steuerzahler, die es zahlen müssen.
Stichwort Existenzminimum. Wann ist jemand bedürftig?
Raffelhüschen: Das ist nicht eine Sache, die man individuell definiert, sondern sie ist im Sozialgesetzbuch festgelegt. Heute definieren wir Bedürftigkeit danach, wie viel man mindestens haben muss, um seine 40-Quadratmeter-Wohnung zu bezahlen. Und dann bekommt man noch den Regelsatz von gut 400 Euro nebst besonderen Erstattungen. Insgesamt reden wir also je nach Wohnlage von etwa 750 Euro. Die Bedürftigkeit errechnet sich bei den Rentnern aus diesem Betrag zuzüglich der Beiträge zu den Kranken- und Pflegeversicherungen.
Was halten Sie von Modellen wie in den Niederlanden, wo die Menschen praktisch für sich selbst einzahlen, statt alles umzuverteilen?
Raffelhüschen: Die Niederlande haben auch ein Grundsicherungssystem im Alter plus einzahlungsbezogener Alterssicherung. Aber generell sollte man auf die Vorbildsuche in den Zeiten nach der Pubertät verzichten und erwachsen werden. Im Übrigen haben wir das älteste Rentensystem der Welt und die meisten haben sich uns zum Vorbild genommen.
Was wäre Ihrer Meinung nach der richtige Ansatz? Wie kann das deutsche Rentensystem gesunden?
Raffelhüschen: Es war ja gesund, Schröder und seine Agenda 2010 haben es gesund gemacht. Wir hatten alle notwendigen Reformen gemacht und uns ein fast nachhaltig finanzierbares, generationen- und leistungsgerechtes System erarbeitet. Seit Andrea Nahles und Hubertus Heil ihr Unheil treiben, ist alles aus dem Lot geraten: ein Wahlgeschenk nach dem anderen wird verteilt und die Jungen müssen dafür bluten. Die einzige Lösung ist, diese Fehler zu revidieren und bei dem zu bleiben, was die damalige Schröder-Administration gesetzt hat. Eine Haltelinie beim Beitragssatz von 22 % und gearbeitet wird bis 67. Versprechen wie die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren sind an der Stelle völlig absurd.
Die Fragen stellte: Mirjam Moll
Hinweis: Das ganze Interview erschien am 6. Februar 2019 im Südkurier.
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