1. Die Diskussion um die Einführung eines Zentralabiturs in Deutschland ist verwirrend. Sie zielt geradezu in das Herzstück der Fragen, was zentralisierte Bildung bedeuten und was nicht-zentralisierter Bildungswettbewerb bewirken könnte. Und sodann: Ob Schulbildung ein (nur) öffentliches oder ein (auch) privates Gut ist.
2. Die Befürworter eines Zentralabiturs plädieren für Gleichheit der Prüfungsanforderungen in allen Gymnasien eines Bundeslandes oder gar innerhalb Deutschlands, um Vergleichbarkeit herzustellen. Im europäischen Integrationsprozess einer „ever closer union“ könnten oder müssten sie die Gleichheitsphilosophie wohl auch auf alle EU-Staaten übertragen.
3. In jedem heterogenen Bildungsraum gibt es Vielfalt, keine Gleichheit. Gleiche Schulbildung für alle widerspricht der evidenzbasiert heterogenen Struktur individueller Präferenzen und intellektueller Kompetenzausstattungen von Menschen. Wenn diese Heterogenitäten für junge Menschen tatsächlich auf ungleichen sozialen Erstausstattungen basieren, so ist hier die ausgleichende Sozialpolitik gefragt, nicht aber eine Niveau egalisierende Bildungs- und Prüfungspolitik. Letztere ist zumeist ideologiegesteuert und widerspricht der Aussagekraft leistungsorientierter Prüfungsergebnisse. Allerdings kann Bildung tatsächlich auch ein erhebliches Komplement oder auch Substitut für ausgleichende Sozialpolitik sein.
4. Zentralisierte Prüfungshomogenisierung bei heterogenen Kompetenzausstattungen des Humankapitals der Prüflinge impliziert die Notwendigkeit der Einigung auf ein gemeinsames Prüfungsniveau zwischen den Schulen bzw. den politischen Entscheidungsträgern der Länder. Sollen alle Schulen in Deutschland auf das in Bremen oder in Bayern und Sachsen vermittelte Bildungsniveau angepasst werden? Bayern ist, wie dort schon angekündigt, nicht bereit, sein hohes Anspruchsniveau zu senken, und Bremen ist nicht willens oder fähig, sein bekannt niedriges Leistungsniveau auf das in Bayern anzuheben. Mittlere Kompromisslösungen, die politisch auf der Kultusministerkonferenz ausgehandelt werden, sind nur Scheinlösungen, die das grundsätzliche Problem der Präferenz- und Kompetenzheterogenitäten der Schüler sowie der ideologischen Bildungsauffassungen der Politiker nicht lösen, sondern nur politik-oberflächlich formal homogenisieren. Künstliche Prüfungshomogenisierung von faktischen Leistungs- und Präferenzheterogenitäten schafft Heterogenitätskosten, die sich in Unzufriedenheit der Unterforderung bei den einen (in Bayern) und Überforderung bei den anderen (in Bremen) dokumentiert. Die Erfahrung zeigt, dass die Reduzierung von Unzufriedenheitskosten politisch durch die Absenkung der schulischen Leistungs- und Prüfungsanforderungen realisiert wird, nicht jedoch durch ihr Gegenteil. Die in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Abiturnoten im 1,0-Bereich, die noch vor Jahren eine sehr selten erreichte Qualifikation indizierten, zeugen ziemlich sicher nicht von einer entsprechend signifikanten Erhöhung der Intelligenzquoten heutiger Abiturienten gegenüber früheren Schülergenerationen, sondern von einer Absenkung der schulischen Leistungsanforderungen. Ein Zentralabitur in Deutschland ist nur durchsetzbar, wenn der zentral abgerufene Leistungsstandard unterhalb des Niveaus von Bayern, Sachsen und einigen weiteren Bundeländern absinkt. Was ist daran denn sinnvoll? Wenn Bremen und Berlin ihr schlechtes Schulranking aus ideologischen Gründen nicht verbessern wollen, ist für jeden die niedrige Wertigkeit der dort zu erreichenden „Allgemeinen Hochschulreife“ transparent. Das ist bitter für die intelligenten Betroffenen.
5. Da die heterogene Bildungswirklichkeit keine ideologische Homogenisierung durch die Politik verträgt, ist zu fragen, inwieweit der Staat überhaupt ein faktisches Monopol bei der Festsetzung der schulischen Bildungsstandards haben sollte. Das ist die Frage, ob Bildung ein exklusiv öffentliches Gut ist oder auch privaten Gutscharakter besitzt. Da gerade Bildung eine der herausragenden Institutionen ist, deren Vielfalt in Breite und Tiefe mehr als mannigfach geeignete Wege nach Rom aufzeigt, erfordert sie eher den Wettbewerb, auch den privaten, der vielfältigen Ideen ihrer Anbieter als den bildungsegalisierenden monopolistischen Staat mit seinem angemaßten Hoheitswissen darüber, zu welchem Lernen denn Schüler gezwungen werden müssen, um das Zentralabitur zu bestehen, um gebildet zu sein und – im Übrigen auch international – zukunftsfit zu werden.
6. In Deutschland existiert eine generelle Schulpflicht. Wäre es nicht sinnvoller, die Schulpflicht durch eine Bildungspflicht zu ersetzen? Dann könnte auch das weitgehend privat organisierte „home schooling“, das ja in Deutschland ganz im Gegensatz zu fast allen europäischen und außereuropäischen Staaten grundsätzlich verboten ist, in seinen produktiven und phantasievollen Eigenschaften als institutioneller Konkurrent zur Zentralabitur verordneten Staatslenkung bewähren. Home schooling hat in der deutschen Gesellschaft seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht keinen positiven Klang. Man vertraut eher, und preist ihn sogar, dem monopolistischen Bildungsstaat. Aber home schooling findet ja durchaus schon statt: etwa als privater Nachhilfeunterricht, aber auch – durch privat organisierte Lehr- und Lernplattformen – als bewusste Ergänzung oder auch als Substitut zu den in den staatlichen Schulen nicht vermittelten oder auch ideologisch (einseitig) überfrachteten Lehrinhalten. Auch und besonders für den Wettbewerb im Bildungssegment einer Zivilgesellschaft gilt die vom Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek formulierte Erkenntnis, dass der Wettbewerb das beste Verfahren zur Entdeckung von neuen Lösungen für die Zukunft ist, die wir heute noch nicht kennen. Bildung, gute Bildung ist deshalb das Rückgrat und die beste Startrampe für erfolgreiche Investitionen in die Zukunft junger Leute.
7. Eine These könnte deshalb lauten: Staatlich organisierte und zentral abgefragte Bildung ist weniger innovativ und zukunftsorientiert als wettbewerblich angebotene. Da die Einstellung zum Wettbewerb in staatlichen Schulen und deren Lehrkörpern sowie den Bildungsministerien in Deutschland eher emotional-feindlich denn rational-kenntnisreich ausgeprägt ist, findet diese These im staatsbeschulenden Umfeld so gut wie keine Akzeptanz. Deshalb ist ein Zentralabitur, das den schulischen Bildungswettbewerb inhaltlich abschafft, eher gegenwarts-verharrend denn zukunfts-innovativ. Um angesichts der hohen Bildungsverantwortung gegenüber der jungen Generation verantwortlich zu handeln und Missbrauch z. B. durch bildungsdefizitäres religiöses Sektierertum, bildungssubstituierende Ideologie oder verfassungswidrige Lehrinhalte zu verhindern, müsste das home schooling sich den Leistungsstandards grundsätzlich privat organisierter Institutionen der Wettbewerbsaufsicht unterwerfen. Hier kann staatliche Assistenz durchaus hilfreich sein, aber auch viel lernen.
8. Die in den Schulen gewohnten Erfolgsmessungen ihrer pädagogischen Leistungen für die Schüler sind grundsätzlich inputorientiert: Abgefragt und bewertet werden die intern angebotenen Lehrinhalte. Bildungserfolge werden durch die intern vergebenen Zensuren gemessen. Nicht abgefragt und dokumentiert wird, ob und in wieweit diese Erfolge auch für das (zentrale) Abitur und den weiteren Lebensweg der Schulabgänger von Bedeutung sind. Es erfolgt keine Outputevaluation: „Was ist aus unseren Schülern geworden? Haben sie sich im Leben bewährt?“ Die Lehrkräfte testen pädagogische Konzepte „neuester Forschung“ fast nur im schulischen inner circle oder in theoretischen Fortbildungsseminaren ohne Effizienzanalyse der langfristigen realen Wirkungen auf ihre Verwertbarkeit für die Schulabgänger. Die diesbezüglichen pädagogischen Irrtümer sind legendär und bekannt. „Verwertbarkeit“ der gymnasialen Bildungsinhalte ist ein pädagogisches Tabu, man bilde ja schließlich nicht „für die Wirtschaft“ aus. Diese Sicht verkürzt die Verantwortung der gymnasialen Bildung: Sie ist sicher zunächst für die Vermittlung von Bildung als intrinsischem Humanvermögen ohne direkte externe Verwertbarkeit zuständig: Es geht dann einfach um die Erziehung zum „gebildeten Menschen“. Aber wie steht es, wenn der Ex-Gymnasiast mit leistungsabgeschwächtem Zentralabitur, aber allgemeiner Hochschulreife an der Universität feststellt, dass seine gymnasiale Bildung trotz guter Abiturnoten nicht ausreicht, um den universitären Ansprüchen zu genügen? Dies ist ein allenthalben beobachtbares und beklagtes Phänomen an deutschen Universitäten, das mit vielen persönlichen Enttäuschungen und Lebensfrust verbundenen Studienabbrüchen sowie Verschwendung von Bildungsressourcen verbunden ist.
9. Die den gymnasialen Bildungswettbewerb abtötende Institution des leistungsabsenkenden Zentralabiturs wird die Universitäten über kurz oder lang zwingen, die nicht genügende schulische Dokumentierung der Leistungsdifferenzierung faktisch durch die Einführung eigener Eingangsprüfungen zu ersetzen. Es findet eine Selektionsverlagerung von der Schule zur Universität statt. Diese läuft bereits, z. B. über den Numerus clausus, aber auch dadurch, dass in manchen Studiengängen die Anforderungen in den ersten Semestern bewusst hoch gesetzt werden, um den schwachen Studenten trotz guten Abiturs früh zu signalisieren, dass sie trotz Dokumentation ihrer Hochschulreife ihren vermutlichen Irrweg für universitäre Bildung und die daraus folgende bessere Hinwendung zu alternativer Berufsausbildung erkennen. Schwache schulische Leistungen realitäts-avers als gute zu dokumentieren, ist eine bildungspolitische Täuschung, die zu fatalen menschlichen und materiellen Fehlallokationen führt. Bildungspolitik in Deutschland muss sich deshalb von realitätsnegierenden Ideologien befreien.
10. Das Fazit: Ein Zentralabitur für Deutschland ist politisch nur durch Leistungsabsenkung bei den anspruchsvollen Gymnasien durchzusetzen. Damit wird das Abitur der leistungsstarken Schulen formal abgewertet. Wie bei aller Zentralisierung wird auch die der Bildung innewohnende Heterogenität auf niedrigerem Niveau künstlich homogenisiert. Eine im Wettbewerb der Gymnasien entstehende Leistungsdifferenzierung wird verwischt. Gymnasien sollten durch staatsinterventionsfreien Wettbewerb untereinander ihre komparativen Vorteile finden, ausbauen und zentralisierungsfrei nach außen dokumentieren. Sie erobern damit individuelle Reputation, die für die Wertigkeit des Abiturs nach außen hin für Schüler und Eltern, aber auch für die Universitäten, bürgt. Das individuelle Gütesigel eines Gymnasiums, das Bildung nicht nur input-, sondern vor allem auch outputorientiert anbietet, ist bildungspolitisch wettbewerbsfähig und attraktiv für anspruchsvolle junge Leute. Es gibt international viele Vorbilder, die sich für ein solches Wettbewerbsmodell zentralprüfungsfreier und auf institutionelle (Einzel-)Reputation der Gymnasien ausgerichteter Bildungspolitik sehr erfolgreich darstellen.
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Ein sehr schöner Beitrag, bei dem ich vieles unterschreiben kann. Allerdings wird „home schooling“ o.ä. nicht nur die gewünschten Erfolge bringen. Unerwünschte Segmentierungswirkungen bei einer maximalen Spreizung der schulischen Bildung lassen sich sehr schön in den USA beobachten. Wenn Investmentbanker ihre Kinder ab der Kita oder spätestens dem Kindergarten in eine Sequenz von „Eliteinstitutionen“ stecken, wird gesellschaftliche Spaltung vorprogrammiert: Wie sollen die heutigen denn später als Erwachsene mit ihren Altersgenossen kommunizieren? Bei aller berechtigter Kritik an unserem Schulsystem kann nicht die allgemeine Lösung diagnostizierter Probleme sein, pädagogische Paralleluniversen auf dem gleichem geographischen Raum zu erschaffen.