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In Deutschland bleibt Erdgas durch die politisch veranlassten Ausstiege aus der Kernenergie, Stein- und Braunkohle die letzte Säule der konventionellen Stromerzeugung[1]. Erdgas trug 2018 13% zur Brutto-Stromerzeugung bei.[2] Im letzten Jahr basierten auf Erdgas 23,4% des deutschen Primärenergieverbrauchs. Damit belegte es im Energiemix Platz 2 hinter Mineralöl (34%), aber merklich vor Braun- und Steinkohle, Kernenergie und selbst den erneuerbaren Energien. Der Einfuhranteil bei Erdgas lag 2018 bei 94%, so hoch wie auch bei Steinkohle, aber niedriger als bei Mineralöl (98%). Da die heimische Politik bis 2050 Klimaneutralität anstrebt, ist Erdgas für Deutschland nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Übergangsenergie.
Russland war 2018 Deutschlands quantitativ wichtigstes Lieferland für Erdgas, aber auch Rohöl und Steinkohle. Als potentieller Gaslieferant kamen in jüngster Zeit die USA durch den Aufbau einer leistungsfähigen Gasexportinfrastruktur hinzu. Die USA und einige europäische Länder stört der Bau von Nord Stream II. Die deutsche Politik steht zu dem Projekt. Der Ausgang der US-Interventionen ist noch offen.
Die Gewichtung der energiepolitischen Ziele spricht für die Fertigstellung und Inbetriebnahme von Nord Stream II. Dies zeigt folgende Gegenüberstellung der Argumente für und gegen Nord Stream II.
Pro/Contra Nord Stream II
Perspektivisch sinkt in Deutschland die Inlandsgewinnung von Erdgas (2018 6% des Gesamtbedarfs) mangels wettbewerbsfähiger Reserven weiter. Zudem verlieren die Niederlande als Lieferland von Erdgas aus eigenen Quellen an Bedeutung, da ihre Vorkommen allmählich zur Neige gehen[3]. Norwegen könnte mehr anliefern, steht allerdings in Konkurrenz zu anderen Exportländern und deren Preisen. In den letzten Jahren zeigte sich Russland an größeren Liefermengen interessiert. Dies belegen auch seine Nord Stream-Aktivitäten.
Erst in jüngster Zeit kamen die USA als Gasexporteur hinzu. Noch in den 1990er Jahren baute das Land eine leistungsfähige Gasimportinfrastruktur auf, um die absehbar steigende inländische Gasnachfrage mit Mengen auch aus dem fernen Ausland befrieden zu können. Mit der Entwicklung unkonventioneller Gas- und Ölfördermethoden („Shale-Revolution“), die von amerikanischen Unternehmen vorangetrieben wurde, kam es zu einer grundlegenden Neueinschätzung mit Vorzeichenänderung: Aufgrund der dank der neuen Technologien stark gestiegenen inländischen Schiefergasförderung sind die USA nicht länger ein Netto-Importeur von Gas, sondern an künftig größeren Gasexporten interessiert. Zu diesem Zweck wurde in den letzten Jahren massiv in eine leistungsfähige US-Gasexportinfrastruktur investiert, die mittlerweile bereit steht und weiter wächst[4].
Heute haben steigende Exportmengen den positiven Nebeneffekt für die USA, dass der reichlich versorgte Inlandsmarkt entlastet wird. Die auch unter der aktuellen Regierung günstigen Shale-Investitionsbedingungen haben nämlich zu einer üppigen Marktversorgung zu sehr niedrigen Gaspreisen geführt.[5] Diese erfreuen zwar die Verbraucher, sind für Investoren aber eine Herausforderung[6]. Die aktuelle US-Regierung trägt dem in ihrer Nord Stream-Argumentation Rechnung. Tatsächlich würde weniger russisches Gas in Europa die Chancen anderer Gasanbieter – auch aus den USA – tendenziell verbessern.
Deutschland hat als Nettoimporteur von Gas andere Interessen als die Gasanbieter was Preise und Mengen betreffen. Letztlich ist Nord Stream II aus deutscher Sicht zweckmäßig, wenn es einen positiven Beitrag zu den energiepolitischen Zielen liefern kann. Ob sich das Projekt auch einzelwirtschaftlich für die beteiligten Investoren rechnet, ist eine andere Frage.
Für Deutschland ist Nord Stream II nur eine Möglichkeit, um die auch in den kommenden Jahren erwartete hohe Gasnachfrage zu befrieden. Dem trägt auch die deutsche Politik Rechnung. Am 7. Juni 2019 stimmte die Mehrheit des Bundestags (inklusive der Grünen) für den Bau neuer LNG-Terminals (LNG = Liquified-Natural-Gas) an der Nordsee. Damit kann die Bundesregierung den Bau solcher Terminals fördern bzw. subventionieren.[7] Als potenzielle Lieferländer gelten neben den USA nicht zuletzt Katar, Oman und Norwegen. Damit konkurriert das US-LNG nicht nur mit den Pipeline-Anbietern, sondern auch mit den anderen LNG-Lieferländern. Ganz generell dürfte der zu erwartende intensive Wettbewerb der Anbieter einem Gaspreisanstieg entgegenwirken bzw. marktbeherrschende Tendenzen auf der Anbieterseite verhindern.
Bedroht Nord Stream II die Versorgungssicherheit?
Gegen Nord Stream II stellen sich eine Reihe ganz unterschiedlicher Länder. Für die Ukraine, das bisherige Haupttransitland russischer Gaslieferungen nach Europa, ist die Ablehnung verständlich, bedeuten zusätzliche alternative Transportrouten mehr Konkurrenz und den Verlust bisheriger Einnahmen. Ähnlich sieht es für andere wichtige osteuropäische Transitländer wie Polen und die Slowakei sowie die baltischen Staaten aus. Es drohen geringere Lieferungen für das eigene Land, Einnahmenverluste für weniger Transporte sowie, ganz generell, eine Minderung der Versorgungssicherheit.
Neben den Transitländern votieren vor allem die USA gegen Nord Stream II. Nach US-Ansicht macht sich Europa durch Nord Stream II zum einen zu sehr von russischen Erdgaslieferungen abhängig und gefährdet damit seine Versorgungssicherheit. Zum anderen, so die US-Regierung (und insbesondere der amtierende US-Präsident), gäbe es als Alternative auch amerikanisches Flüssiggas. Nicht zuletzt die unüberhörbaren US-Interventionen haben dazu geführt, dass in Brunsbüttel (Schleswig-Holstein) ein Flüssiggasterminal gebaut werden soll, dass auch Flüssiggasimporte aus den USA ermöglichen wird. Einen Stopp für Nord Stream II haben aber weder die europäischen noch die amerikanischen Gegner bewirkt.
Noch bis Mitte 2019 wurde eine Verzögerung der Fertigstellung von Nord Stream II bis Mitte 2020 erwartet. Hauptgrund waren die ausbleibenden Baugenehmigungen Dänemarks, die sich über zwei Jahre ohne Ergebnis hinzogen.[8] Das hat sich aber am 30. Oktober 2019 durch die Genehmigung Dänemarks geändert. Jetzt darf ein alternativer 147 Kilometer langer Teil der Doppelröhre auf dem dänischen Kontinentalsockel südöstlich von Bornholm durch die Ostsee gebaut werden.[9] Nach Alexej Miller, Chef von Gazprom und damit des Mehrheitsaktionärs der Nord Stream AG, könnte die neue Streckenführung eine Inbetriebnahme von Nord Stream II doch bis Ende 2019 und nicht erst Mitte 2020 ermöglichen.[10] Marktexperten wie die Gasversorgung Süddeutschland rechnen dagegen nach wie vor damit, dass Nord Stream II gegen „Ende 2019 noch nicht betriebsfertig“ sein dürfte.[11]
EU/Gazprom-Disput kann verzögern, aber nicht aufhalten
Nach dem Willen einiger EU-Mitglieder soll die neue EU-Gasrichtlinie auch auf Gaspipelines in und aus Drittländern ausgeweitet werden. Geplant ist, dass Erzeugung und Vertrieb nicht mehr einer Hand entstammen. Überdies sollen mindestens 10% der Pipeline-Kapazität Dritten zugänglich gemacht werden[12]. Bei Nord Stream II steht Gazprom aber für die Förderung und die Erzeugung. Die Betreiber von Nord Stream II haben im Juli 2019 Beschwerde beim Gericht der Europäischen Union (EuG) gegen die EU eingereicht. Das Gericht solle die Änderung der neuen EU-Gasrichtlinie aufgrund „eines Verstoßes gegen die EU-Rechtsgrundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit“ für nichtig erklären[13]. Die nun noch ausstehende Entscheidung kann die Fertigstellung von Nord Stream II Zeit kosten, sie bedeutet aber nicht ihr Ende.
Gazprom gehört die Pipeline zwar vollständig. An der Finanzierung mit jeweils knapp EUR 1 Mrd. sind aber auch die Konzerne Uniper, Wintershall (beide Deutschland), Shell (Großbritannien), Engie (Frankreich) und OMV (Österreich) beteiligt. Ein außenpolitischer Ausschuss des US-Senats beriet bereits über Sanktionen gegen Einzelpersonen und Unternehmen, „die Schiffe für den Bau von Nord Stream II verkaufen oder leasen sowie finanzielle und technische Unterstützung oder Versicherung für diese Schiffe leisten“.[14] Bis dato sieht die Bundesregierung jedoch keine Notwendigkeit für die Erstellung eines Aktionsplan gegen mögliche US-Sanktionen, da für das Projekt derzeit noch keine Gefährdung bestehe.[15]
Tatsächlich erhöht Nord Stream II die Versorgungssicherheit
Das energiepolitische Ziel der Versorgungssicherheit ist für Deutschland und auch die EU hinsichtlich fossiler Energieträger wegen der relativ hohen Auslandsabhängigkeit überaus bedeutsam. Das gilt insbesondere für Erdgas und teilweise auch Erdöl. Da es weltweit reichliche Steinkohlevorkommen in vielen unterschiedlichen Lieferländern gibt, herrscht trotz hoher Importquote Versorgungssicherheit.
Ähnlich wie in Deutschland ist auch in der EU der Anteil der Nettoimporte am gesamten Bruttoinlandsverbrauch bei Rohöl mit 89% sogar noch höher als bei Erdgas (75%). Und – wie in Deutschland – ist Russland auch für die EU das wichtigste Lieferland mit einem Nettoimportanteil bei Öl von knapp einem Drittel und von fast der Hälfte bei Erdgas.[16] Während aber der Weltölmarkt und seine Infrastruktur weit entwickelt sind, gilt dies für den relativ jungen internationalen Gasmarkt so noch nicht. Aufgrund seiner Flexibilitätsvorteile im Transport ist die Versorgungslage bei Öl trotz gelegentlicher OPEC-Interventionen als ausreichend gegeben anzusehen. Dies gilt für den noch recht jungen Gasmarkt mit seinen neueren Innovationen – wie Shale-, LNG- und Transporttechnologien – noch nicht in gleichem Maße.
Nord Stream II erhöht rein quantitativ die Sicherheit der Gasversorgung, da sie die verfügbaren Transportkapazitäten erhöht und weiter diversifiziert. Zudem verkürzt sie den bisherigen Transportweg. Auch die Transportverluste dürften in Relation zu den älteren Routen geringer ausfallen. Überdies ist das unrechtmäßige „Anzapfen“ der Unterwasserpipeline technisch ungleich schwerer als bei traditionellen Überlandleitungen. Unter sonst gleichen Bedingungen ist die zusätzliche Transportleitung insofern positiv zu bewerten.
Insbesondere in Deutschland, das künftig auf Kernenergie- und Kohlestrom verzichtet und auf erneuerbar erzeugten Strom setzt, kann Erdgas als Übergangsenergie dienen und damit einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Wir hatten bereits ausgeführt, dass gasbefeuerte Kraftwerke in der Lage sind, die durch Kernenergie- und Kohleausstieg sinkende Stabilität im deutschen Stromnetz sehr flexibel zu kompensieren. Überdies hat Erdgas, wie bereits erwähnt, gegenüber der Sekundärenergie Elektrizität den Vorteil, dass auch größere Volumina speicherbar sind. Mit über 24 Mrd. Kubikmetern verfügt Deutschland über die größten Erdgasspeicherkapazitäten der EU. Der Netzentwicklungsplan Gas der Fernleitungsnetzbetreiber (NEP Gas) ermöglicht den bedarfsgerechten weiteren Ausbau der heimischen Gasinfrastruktur. Der NEP Gas 2016-2026 sorgt für einen Leitungsneubau von 823 km bis 2026, was wiederum rund EUR 4 Mrd. kostet. Laut BMWi „bieten das weit verzweigte Erdgasnetz, die liquiden Handelsmärkte, das große Speichervolumen und das diversifizierte Portfolio an Lieferländern und Importinfrastrukturen den deutschen Gasverbrauchern ein sehr hohes Niveau an Versorgungssicherheit. Hinzu kommt der gute technische Zustand der Erdgasinfrastruktur“.[17] Dieser Analyse stimmen wir zu.
Drohen mit Nord Stream II künftig Lieferunterbrechungen?
Gelegentlich argumentieren Projektgegner, dass Russland mir Fertigstellung von Nord Stream II noch mehr in die Lage versetzt wird, künftig aus politischen Gründen Lieferunterbrechungen vorzunehmen. Diese Argumentation überzeugt unseres Erachtens aber nicht. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die Historie, dass Russland mittlerweile seit mehr als 40 Jahren verlässlich Gas nach Westeuropa liefert. Und was noch wichtiger ist, es kam nie zu politisch motivierten Lieferunterbrechungen. Das ist bedeutsam, weil es auch die vielen Jahre des Eisernen Vorhangs einschließt, in denen es gelegentlich ähnlich abgekühlte Wirtschaftsbeziehungen gab wie derzeit im Lichte des EU/USA-Russland-Konflikts rund um die russische Annexion der Krim. Da der Gastransport über Nord Stream II weniger Transitländer als bisher betrifft, sind künftige Gaslieferungen also noch sicherer als in den letzten Jahren.
Gefährdet Nord Stream II die Bezahlbarkeit?
Nord Stream II erhöht ganz grundsätzlich die mengenmäßigen Exportmöglichkeiten Russlands. Für die Entwicklung der Gaslieferpreise sind jedoch mehrere gegenläufige Trends zu berücksichtigen: Positiv für den Gaslieferanten Russland ist zum einen zwar, dass Nord Stream II Kosteneinsparungen im Gastransport und damit tendenziell steigende Margen ermöglicht.
Zum anderen sind allerdings auch gegenläufige Entwicklungen wirksam, die die Marktmacht Russlands spürbar einschränken. Diese wird gleich durch zwei Megatrends im globalen Gasgeschäft ausgehöhlt. Erstens führt die europäische Gasmarktliberalisierung zu mehr Wettbewerb. Zweitens sorgen neue Investitionen im Bereich LNG zu immer mehr zusammenwachsenden Regionalmärkten in Europa, Asien, Australien und Amerika. Es zeigt sich, dass bei ausreichend hohen Preisdifferenzen LNG-Lieferungen die Märkte angleichen. Eine nicht marktadäquate Preissetzung durch einen Gasexporteur – auch nicht Russland – ist damit heute nicht mehr möglich.
Die neue Relevanz der Marktpreise birgt Risiken für Gasinvestoren, auch im Fall von Nord Stream II. Tritt in der neuen globalen Gaswelt ein Überangebot an Gas auf, dass den Grenzpreis und damit auch die Marktpreise für Gas dramatisch senkt, zählen die Nord Stream II-Investoren zu den Hauptbetroffenen. So gesehen tragen heutige Gasinvestoren ein ungleich größeres Risiko als in der alten Gaszeit der auskömmlichen Langfristverträge.
Im Gegensatz zu früher, als Pipelines ganz grundsätzlich eine gegenseitige Abhängigkeit von Lieferanten und Abnehmern bedeuteten, fallen die Risiken in der neuen Gaswelt differenzierter aus. Denn während Kunden dank neuer LNG-Märkte relativ schnell neue, attraktivere Angebote wählen können, sind die Pipeline-Investoren an ihre Investitionen gebunden.
Nord Stream II gefährdet mitnichten die Bezahlbarkeit von Energie in Deutschland und Europa. Es handelt sich um eine zusätzliche technische Lieferalternative, sorgt also für eine Angebotsverbesserung. Allerdings birgt auch dieses Projekt Risiken: Die Marktrisiken tragen zunächst die Investoren, die deshalb ein Interesse an einer reichlichen Nutzung haben sollten. Die Kunden/Verbraucher tragen dank verfügbarer Gasalternativen weniger Klumpenrisiko als die Investoren. Eine Herausforderung stellt Nord Stream II freilich auch für das/die geplanten LNG-Terminal/s in Deutschland dar, sind beide Technologien doch für den Gasimport gedacht. Überangebote sind je nach Marktlage möglich, die zu (zu) geringer Kapazitätsauslastung führen können.
In diesem Jahr hat das Bundeswirtschaftsministerium unter Leitung von Peter Altmaier durchgesetzt, dass künftige Gasleitungen, die deutsche LNG-Terminals mit dem öffentlichen Gasnetz verbinden, Bestandteil des regulierten heimischen Gasnetzes werden. Damit tragen nicht die Terminalinvestoren, sondern alle Gasverbraucher die Kosten für den Bau und die Nutzung der Gaspipelines. Ziel ist es, die Attraktivität für Investitionen in den Bau der Infrastruktur für verflüssigtes Erdgas zu erhöhen. Da Deutschland auch russische LNG-Lieferungen diskriminierungsfrei bewilligen möchte, ist absehbar, dass letztlich die jeweilige Marktlage entscheidet, ob russische, amerikanische oder LNG-Angebote anderer Destinationen genutzt werden.[18] Der Wettbewerb der Anbieter ist durchaus gewünscht, um einen gewissen Preisdruck zu erzeugen. Relativ günstige Gaspreise erleichtern/verbilligen den Ausstieg aus Kohle und Kernenergie. Die absehbar steigende Relevanz von LNG sorgt für mehr Wettbewerb in Deutschland und Europa. Der europa- und weltweite LNG-Ausbau ist aber auch eine Herausforderung für Großprojekte wie Nord Stream II, da beide Infrastrukturen in Wettbewerb stehen. Der steigende Wettbewerb sorgt für günstige Preise in den Zielländern. Gleichzeitig unterminieren die wettbewerbsbedingt niedrigen Preise allerdings auch die Rentabilität von Investitionen in die jeweilige Gasinfrastruktur – dies gilt je nach Marktlage für Nord Stream II, aber auch die LNG-Anlagen. Neben diesen wirtschaftlichen Risiken sind natürlich auch regulatorische Risiken (z.B. Klimapolitik) relevant.
Preisdämpfend wirken auch neue russische Lieferanten …
Russland trägt dem technologischen Fortschritt in der Förderung und im Transport von Erdgas seit einigen Jahren Rechnung. Es erlaubt russischen Unternehmen nämlich das LNG-Geschäft nicht nur zu entwickeln. Neuerdings darf insbesondere der russische Konzern Novatek auch LNG exportieren. Russland setzt damit auch auf eine Diversifizierung im Gasvertrieb. Novatek hat mittlerweile mit der deutschen EnBW einen Liefervertrag abgeschlossen. Und Novatek kann künftig – dank des Aufbaus einer leistungsfähigen LNG-Infrastruktur und des Baus selbst für arktische Regionen geeigneter LNG-Tanker – von seinen Fördergebieten auf der sibirischen Yamal-Halbinsel am Polarmeer (wo es auch Beteiligungen europäischer Unternehmen gibt) LNG nach Europa exportieren. Die künftigen LNG-Terminals in Deutschland sind sicherlich mögliche Ziele. Solche Lieferungen sorgen für mehr Wettbewerb – auch für Nord Stream II, und auch für amerikanische und andere Lieferanten.
.. und ein möglicher Pipelinebau Richtung Schwarzes Meer
Neuerdings plant die von Russland dominierte Gazprom – wie schon früher einmal – erneut eine Südroute, um zusätzliches Gas bis nach Mitteleuropa und Deutschland zu liefern. Es handelt sich dabei nicht um das alte South Stream-Projekt, in dem Bulgarien als Zielland eine wichtige Rolle spielte. Vielmehr geht es um eine Erweiterung von Turkstream, wo heute über zwei Pipelinestränge 31,5 Mio. Kubikmeter Gas geliefert werden können[19]. Der Bau zweier weiterer Stränge ist geplant und gilt als technisch problemlos. Seit wenigen Monaten verhandelt die russische Seite über den Bau der Strecke Bulgarien-Serbien-Ungarn-Österreich.[20] Damit könnte russisches Gas auch über diesen Weg nach Deutschland und andere benachbarte Länder gelangen. Dieser Infrastrukturausbau würde ebenso wie die zu erwartenden russischen LNG-Lieferungen letztlich preisdämpfend wirken, steht das Projekt doch durchaus in Konkurrenz mit den anderen Optionen – von den USA bis hin zu Nord Stream II.
Nord Stream II dient Umweltziel in Übergangsphase
Aus Umweltgründen Erdgas besser als Kohle
Aus Klimagründen ist die Nutzung von Erdgas gegenüber der Kohle vorzuziehen. Der von Deutschland gewählte Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2038 ist dabei sehr kostspielig. Für die Entschädigung der Kraftwerkseigner, den Strukturwandel, den Vorruhestand der Beschäftigten sowie die vergünstigten Strompreise der energieintensiven Industrie sind insgesamt rund 100 Mrd. Euro aufzubringen[21]. Die politischen Weichenstellungen mindern zwar die CO2-Emissionen. Mit dem gleichen Geld könnte die Politik jedoch – wenn man ausschließlich auf den CO2-Ersparnis abstellt – mehr erreichen, würde sie dafür CO2-Zertifikate im EU-Handelssystem kaufen und stilllegen. Die Konsequenz wären steigende CO2-Preise und damit jeweilige Marktbereinigungen an den Orten mit den höchsten Umweltkosten; dazu zählen auch die heimischen Braunkohlestandorte. Davon profitierte freilich auch das Erdgas gegenüber der Kohle.
In Übergangsphase Erdgas trotz Emissionen weiter nutzen
Erneuerbare Energien haben bekanntlich eine weitaus günstigere Klimabilanz als Erdgas. Allerdings verursacht der Umstieg auf die Erneuerbaren Kosten und erfordert auch Zeit. In Deutschland stottern derzeit der Ausbau der Windenergie an Land sowie der Aufbau der Übertragungsnetze für den Ferntransport aufgrund von Bürgerprotesten und politischen Verzögerungen. Das im September vorgestellte Klimaschutzpaket[22] der Bundesregierung sieht einen Mindestabstand von 1.000 Metern von Windkraftanlagen und Wohnhäusern vor. Dies dürfte den Zubau von Onshore-Windanlagen eher bremsen. Bessere Chancen haben Offshore-Windanlagen, die zudem auf deutlich höhere Volllaststunden (also auf eine höhere Kapazitätsauslastung) kommen als Anlagen an Land. Damit deren Strom aber auch sinnvoll genutzt werden kann, bedarf es eines wesentlich rascheren Ausbaus der Übertragungsnetzte. Per Saldo ist damit die gelegentlich vorgebrachte Forderung, sofort nur noch auf Erneuerbare zu setzen, also Erdgas keine Beachtung mehr zu geben, nicht realistisch. Deshalb ist der aktuelle deutsche Weg, der Erdgas in der Übergangszeit eine tragende Rolle beimisst, politisch wohl überlegt und unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren die vernünftigste Lösung.
Pipelinegas aus Umweltsicht vorteilhafter als LNG-Bereitstellungen
Pipelinegas, wie es Nord Stream II anliefert, hat gegenüber LNG-Anlieferungen, wie sie aus den USA kommen könnten, einen gewissen Umweltvorteil. Dies ergab eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) und der DVGW-Forschungsstelle am Engler-Bunte-Institut des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) im Auftrag des Umweltbundesamtes[23]. Analysiert wurden die Treibhausgasemissionen, die für die Gewinnung, den Transport und die Bereitstellung des Energieträgers erforderlich sind. In der Summe ergeben diese die sog. Vorkettenemissionen.
Ein wichtiges Untersuchungsergebnis ist, dass die Vorkettenemissionen für das in die EU importierte LNG immer höher ausfallen als die der leitungsgebundenen Gasversorgung.[24] Eine bedeutende Rolle spielt dabei die spezifische Prozesskette von LNG, zu der nicht zuletzt auch die Verflüssigung und Regasifizierung zählen. Wichtig sind auch die jeweilige Entfernung zwischen der importierenden und exportierenden Region sowie die konkret angewandten Technologien. Unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren, so das Umweltbundesamt, ist unter Energieeffizienzaspekten und aus klimapolitischer Sicht ein stärkerer LNG-Einsatz gegenüber Pipeline-Gas „nicht begründbar“. Im Zuge der Energiewende könnte allerdings ein Ausbau der LNG-Infrastruktur beitragen zur „Diversifizierung der Exportländer auch hinsichtlich eines zukünftigen Marktes für strombasierte erneuerbare Gase, verbesserter Versorgungssicherheit sowie mehr Wettbewerb“.[25]
Fazit: Nord Stream II vorteilhaft in Übergangszeit
In den kommenden Jahren wird Erdgas in Deutschland angesichts des geplanten Ausstiegs aus der Kernenergie und der Kohleverstromung eine noch bedeutendere Rolle im Stromerzeugungsmix zukommen als heute. Überdies steigert das Klimaschutzpaket seine Relevanz, das die CO2-Emissionen aus dem Verkehrs- und Gebäudesektor reduzieren möchte. Als Übergangsenergie bleibt Erdgas damit über Jahre hinweg unverzichtbar.
Grundsätzlich sollten die klassischen energiepolitischen Ziele über den Einsatz von Erdgas entscheiden: Zur Versorgungssicherheit leistet Erdgas auf mittlere Sicht einen wichtigen Beitrag. Russland liefert bereits seit mehr als 40 Jahren unterbrechungsfrei Gas nach Westeuropa, also auch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs. Da Nord Stream II eine zusätzliche Lieferinfrastruktur darstellt, erhöht das Projekt die Versorgungssicherheit sogar. Es gibt kein überzeugendes Argument, das für politisch motivierte Lieferunterbrechungen spricht.
Gasinvestoren, auch die von Nord Stream II, tragen aufgrund der gestiegenen Relevanz der Marktpreise heute ein sehr viel größeres Risiko als in der alten Welt der Langfristverträge. Steigen in einigen Jahren die CO2-Preise merklich an, wird es auch für Erdgas schwieriger. Die CO2-Bepreisung kann künftig auch die Wettbewerbsfähigkeit von Nord Stream II-Gas mindern. Dieses Risiko tragen die Investoren bzw. der Lieferant.
Per Saldo dürfte Nord Stream II in der Übergangphase zur angestrebten CO2-freien Energieversorgung in Deutschland die Versorgungssituation weiter verbessern und den Wettbewerb erhöhen, da es für zusätzliches Angebot sorgt. Nicht nur die angedrohten US-Sanktionen zeigen jedoch, dass das Projekt politisch brisant ist.
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[1] Erneuerbare Energien trugen 2018 35% zur Brutto-Stromerzeugung bei. Laut CDU/CSU/SPD-Koalitionsvertrag soll der Anteil der Erneuerbaren bis 2030 bereits 65% erreichen. Angesichts steigender Akzeptanzprobleme z.B. bei Onshore-Wind erscheint die Zielsetzung bei derzeitigen Rahmenbedingungen gewagt. Siehe dazu z.B. Stratmann, Klaus (2019). Altmaiers Klimabilanz. Ein Lob auf die Energiewende. Handelsblatt. 6. Juni. S. 4/5.
[2] Zu den Zahlenangaben vgl. Schiffer, Hans-Wilhelm (2019). Deutscher Energiemarkt 2018. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen. Heft 3. S. 59-73. AG Energiebilanzen (2019). Auswertungstabellen zur Energiebilanz Deutschland. Daten für die Jahre 1990 bis 2018. August.
[3] Als bisheriges Enddatum für die Erdgasförderung in den Niederlanden galt 2030. Neuerdings soll laut Wirtschaftsminister Eric Wiebe bereits Mitte 2022 kein Gas mehr gefördert werden, da jüngste Beben Umwelt und Menschen beschädigten. Vgl. Kirchner, Thomas (2019). Runter vom Gas. Die Niederlande fördern überraschend schnell kein Erdgas mehr. Süddeutsche Zeitung. 12. September.
[4] Durch den Bau neuer LNG-Terminals u.a. in Texas und Louisiana verdoppeln die USA ihre Exportmöglichkeiten von 2018-2020. Als Langfristabnehmer gelten die polnische PGNiG sowie Shell, Edison, BP, Galp und Repsol, so dass größere Exportmengen Richtung Europa gehen sollten. Voraussetzung ist immer, dass das US-LNG-Gas trotz Verflüssigung, Transport und Regasifizierung wettbewerbsfähig bleibt gegenüber dem leitungsgebundenen Gas in Europa. Alternativ/ergänzend könnte amerikanisches LNG auch zu einem Mittel zur Entschärfung des USA/China-Handelskonflikts werden: Zum einen hätten für China größere US-LNG-Importe den Vorteil geringerer Energiekosten als bisher (gerechnet wird mit fast USD 2 Mrd. pro Jahr). Zum anderen könnte das US-Handelsdefizit gegenüber China pro Jahr um USD 17 Mrd. sinken. Sollten sich Chinas US-LNG-Importe von heute 5% auf 25% 2025 erhöhen, würde dies freilich preistreibende Effekte haben. Dies wiederum könnte Europas LNG-Importe dämpfen. Zu weiteren Details vgl. Entwicklung und Auswirkungen amerikanischer LNG-Terminals. GVS-Gasmarkt-Telegramm. 6/2019. S. 6-8.
[5] So betrug der US-Erdgaspreis der Sorte Henry Hub am 5. August 2019 nur noch 2,07 USD pro Million Btu. Das war ein Dreijahrestief.
[6] Deutsche Bank rechnet 2019 bis 2021 mit US-Gaspreisen zwischen 2,51 und 2,60 USD pro Million Btu nach 2018 noch 3,07 USD. Und selbst 2025 dürften im Schnitt nicht mehr als 3,44 USD möglich sein. Vgl. Deutsche Bank (2019). Iron ore to remain the outlier. Commodities Quarterly. 9. July. S. 7.
[7] Pro LNG-Terminal sollen bis zu EUR 850 Mio. investiert werden. Vgl. Entwicklung und Auswirkungen amerikanischer LNG-Terminals. GVS-Gasmarkt-Telegramm. 6/2019. S. 8.
[8] Siehe z.B. Ballin, André (2019). Nord Stream 2 wird sich noch bis Mitte 2020 verzögern. Handelsblatt. 17. Mai.
[9] Siehe z.B. Dänen geben Nord Stream 2 grünes Licht. (2019). Handelsblatt. 31. Oktober. S. 19.
[10] Vgl. Mühlbauer, Peter (2019). Nord Stream 2 macht Umweg, um rechtzeitig anzukommen. Telepolis. 1. Juli.
[11] Vgl. Energiemärkte. GVS-Gasmarkt-Telegramm. 9/2019. S. 7. So auch Mihm, Andreas (2019). Das Tauziehen um Nord Stream 2 ist zu Ende. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 31. Oktober. S. 15.
[12] Vgl. Nord Stream 2 challenges EU´s new gas rules in General Court (2019). NS Energy Business. July 29.
[13] Vgl. Nord Stream klagt gegen EU (2019). Börsen-Zeitung. 27. Juli. S. 7.
[14] Vgl. Neue Konflikte um Gaspipeline Nord Stream 2 (2019). Börsen-Zeitung. 30. Juli. S. 8.
[15] Vgl. Neue Konflikte um Gaspipeline Nord Stream 2 (2019). Börsen-Zeitung. 30. Juli. S. 8.
[16] Vgl. BMWI (2019). Die Energie der Zukunft. Zweiter Fortschrittsbericht zur Energiewende. Berichtsjahr 2017. 6. Juni. S. 29.
[17] Vgl. BMWI (2018). Die Energie der Zukunft. Sechster Monitoring-Bericht zur Energiewende. Berichtsjahr 2016. 6. Juni. S. 109. In der EU dient die novellierte Gassicherungs-Verordnung 2017/1938 der Sicherstellung einer unterbrechungsfreien Gasversorgung der geschützten Kunden. Wert gelegt wird dabei insbesondere auf die regionale Zusammenarbeit bei der Krisenvorsorge und eine solidarische Unterstützung zur Bewältigung von Gasversorgungskrisen; vgl. BMWI (2018), S. 109.
[18] Im Winter 2018/19 wurde bereits mehr LNG aus Russland als aus den USA nach Europa geliefert. Vgl. Moritz Koch und Klaus Stratmann (2019). Mehr Erdgas aus Russland. Handelsblatt. 19. Juli. S. 13.
[19] Vgl. Polous, Kiril (2019). Gazprom´s natural gas production and export strategy. Entsog workshop on supply potentials. Brussels. July 2019. S. 3.
[20] Vgl. Ballin, André (2019). Gazprom nimmt neuen Anlauf für South Stream. Handelsblatt. 23. Juli. S. 22.
[21] Vgl. Ruhkamp, Christoph (2019). Viel Geld für wenig CO2. Börsen-Zeitung. 8. Juni. S. 6.
[22] Zu einer Beurteilung des Klimaschutzpakets vgl. Heymann, Eric (2019). Klimaschutzpaket. Fauler Kompromiss oder Spiegelbild der Gesellschaft? Deutsche Bank Research. Aktueller Kommentar. 23. September.
[23] Zu Details siehe Umweltbundesamt (2019). Wie klimafreundlich ist LNG? Kurzstudie. Mai. S. 6-24.
[24] „Im Extremfall sind sie mehr als siebenmal so hoch“. Vgl. Umweltbundesamt (2019). Wie klimafreundlich ist LNG? Mai. S. 19.
[25] Umweltbundesamt (2019). Wie klimafreundlich ist LNG? Mai. S. 24.
Auch sehr zu empfehlen:
https://www.dw.com/de/nord-stream-2-der-ewige-zankapfel/a-51270076