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„Europe is a much more complex historical, cultural, and geographical concept than is envisaged in the reduced approach by the European Union.” (Haris Pasovic)
Die Ära Jean-Claude Junckers als Präsident der EU-Kommission ist zu Ende. Ursula von der Leyen steht in der Startlöchern. Sie sollte eigentlich am 1. November im Berlaymont anfangen. Allerdings hat ihr das Europäische Parlament einen Strich durch die Rechnung gemacht. Drei vorgesehenen Kommissaren verweigerte es die Zustimmung. Nun tritt sie zum 1. Dezember ihr Amt offiziell an. Was sie machen will, hat sie dem Europäischen Parlament in der „Agenda für Europa“ vorgetragen als sie sich um das Amt der EU-Kommissionspräsidentin bewarb. Europa soll grüner, wettbewerblicher, sozialer, digitaler, sicherer, multilateraler und demokratischer werden. Die spannende Frage bleibt, kann es der neuen EU-Kommission mit dieser Agenda gelingen, die drängendsten Probleme der Europäischen Union in den Griff zu bekommen. Das hängt nicht nur davon ab, ob die vorgeschlagenen Instrumente effizient sind. Es kommt auch darauf an, ob die nationalen Regierungen bereit sind, die Vorschläge der neuen Kommission zu akzeptieren.
Probleme der Europäischen Union
Die Europäische Union hat ein „decennium horribilis“ hinter sich. Den Auftakt machte die weltweite Finanzkrise. Darunter litten alle, die einen mehr, andere weniger. Die Krise um Griechenland brachte die Europäische Währungsunion an den Rand des Zusammenbruchs. Mit der Flüchtlingswelle setzte sich die politische Misere der Europäischen Union fort. Der Brexit schließlich zeigte, die Europäische Union ist noch immer ein Projekt auf Widerruf. Alle diese Krisen verursachten tiefe Risse in Europa. In der EWU sind sich Nord und Süd nicht grün. Die Flüchtlingsfrage spaltet Ost und West. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU zeigt die Grenzen des Verlustes nationaler Souveränität der Mitgliedsländer der Europäischen Union. Die ökonomischen und politischen Krisen hatten neben den Wohlfahrtsverlusten einen weiteren unerwünschten Nebeneffekt: Europa wird von einer Welle des Populismus heimgesucht.
Die Ursachen der Krisen sind vielfältig. Teils sind sie ökonomisch, teils politisch. Trotz aller Reformen ist die Europäische Währungsunion weiter instabil. Die Anpassung über relative Preise ist unterentwickelt. Europäische Güter- und Faktormärkte sind zu wenig offen. Der Nexus zwischen Staatsverschuldung und Banken ist viel zu eng. Es mangelt an umfassenden Strukturreformen, einer soliden Haushaltspolitik und risikogewichteten Staatspapieren in den Bankbilanzen. Die Flüchtlingskrise hat Ursachen, die außerhalb der Europäischen Union liegen. (Bürger)Kriege, politische und religiöse Verfolgung aber auch wirtschaftliche Miseren lösen massenhafte Wanderungsbewegungen aus. Materielle Hilfen für Herkunftsländer der Flüchtlinge und sicherere Außengrenzen der Europäischen Union sind das eine. Eine fairere Verteilung der Lasten aus den Flüchtlingsströmen zwischen den Mitgliedern der Europäischen Union ist das andere.
Der Brexit zeigt eine weitere (politische) Schwachstelle der Europäischen Union. Europa ist kein homogenes Gebilde. Es ist heterogen, ökonomisch, sozial und politisch. Wirtschaftlich existiert zwar ein Prozess der externen Konvergenz. Intern dominiert allerdings Divergenz. Sozial orientieren sich die Mitgliedsländer unterschiedlich. Die gewählte soziale Sicherheitsstruktur unterscheidet sich von Land zu Land. Auch politisch ist Europa heterogen. Die Länder legen unterschiedlich Wert auf nationale Souveränität. Den einen schwebt ein Europa der Vaterländer, andere wollen Vereinigte Staaten von Europa. Das Vereinigte Königreich hat sich für mehr nationale Eigenständigkeit entschieden. Es will mehr London und weniger Brüssel. Neben der nationalen Eigenständigkeit wollen auch Regionen mehr Autonomie. Die Schotten auf der britischen Insel und die Katalanen auf der iberischen Halbinsel streben nach mehr regionaler Eigenständigkeit.
In der Zukunft wird die Europäische Union mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Zwei sind absehbar. Eine ist ein drohender Handelskrieg mit den USA, vielleicht auch mit China. Der amerikanische Präsident ist auf dem handelspolitischen Kriegspfad. Er hat nicht nur mit China einen Handelskrieg vom Zaun gebrochen. Auch mit der Europäischen Union liegt er handelspolitisch im Clinch. Der Systemwettbewerb mit China wird die handelspolitischen Spannungen zwischen den drei großen Handelsakteuren weltweit künftig verstärken. Die vielleicht größte Herausforderung für alle Länder in der Welt ist allerdings die absehbare Klimakrise. Eines haben Handels- und Klimapolitik gemeinsam. Sie sind weltweite öffentliche Güter. Multilaterale Vereinbarungen sind ein Gebot der Stunde. Damit sind in Europa keine nationalen Alleingänge gefragt. Es ist Aufgabe der Europäischen Union, handels- und klimapolitisch aktiv zu werden.
Eine Agenda für Europa
Wie geht es weiter mit der Europäischen Union? Erste Anhaltspunkte gab die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament. Die Botschaften sind klar. Europa soll grüner, wettbewerblicher, sozialer, digitaler, sicherer, multilateraler und demokratischer werden. Ein Schwerpunkt der künftigen Kommissionsarbeit ist das Klima. Europa soll der erste klimaneutrale Kontinent werden. Mit einem neuen „grünen Deal“ soll das Ziel bis zum Jahre 2050 erreicht werden. Das Programm ist eine Mischung aus marktlichen und industriepolitischen Elementen. Das europäische Emissionshandelssystem soll ausgeweitet, verschärft und um eine WTO-kompatible CO2-Grenzsteuer ergänzt werden. Mit einer grünen Industriepolitik sollen energieintensive Industrien dekarbonisiert werden. Dafür will von der Leyen in den nächsten 10 Jahren 1 Billion Euro in die Hand nehmen.
Die neue Kommissionspräsidentin bleibt in der Tradition ihrer Vorgänger, wenn sie fordert, die Europäische Union wettbewerbsfähiger zu machen. Kleinen und mittleren Unternehmen soll geholfen werden. Öffentlich-private Fonds sollen es ihnen erleichtern, schneller an Kapitalmarktmittel zu kommen. Das ist nicht neu. Neu ist auch nicht, was sie für die Europäische Währungsunion vorschlägt. Die EWU soll mit einem eigenen Haushalt ausgestattet werden, um den Prozess der Konvergenz in Europa zu beschleunigen und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt soll (noch) flexibler werden. Auf der Agenda steht auch die Bankenunion. Sie soll endlich vollendet werden, einschließlich der in Deutschland umstrittenen europäischen Einlagensicherung. Schließlich will von der Leyen dafür Sorge tragen, dass das Europäische Parlament bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen mehr Gehör findet.
Auf der Agenda für ein künftiges Europa darf das Soziale nicht fehlen, obwohl es zumeist in den Verantwortungsbereich der Mitgliedsländer fällt. Die neue Kommissionspräsidentin will einen Aktionsplan initiieren, um die europäische Säule sozialer Rechte (soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit) vollständig umzusetzen. Dabei bleibt sie allerdings nicht im Ungefähren, sie wird sehr konkret. Ganz vorne auf der Liste steht ein gerechter gesetzlicher Mindestlohn, der einen lokal angemessen Lebensstandard sichern soll. Weit vor wagt sie sich auch mit der Forderung, eine europäische Arbeitslosen(rück)versicherung zu installieren. Den Kampf gegen die Armut will von der Leyen mit einer europäischen Kindergarantie, der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie und mit einem aufgerüsteten europäischen Sozialfonds führen. Im Kampf für mehr Gleichheit darf auch nicht fehlen, eine faire Besteuerung von (großen) Unternehmen zu fordern.
Erst war es die Globalisierung, nun ist es die Digitalisierung, die die Welt verändert. Vor allem die künstliche Intelligenz drückt auf das Tempo. Wenn Europa weltweit mithalten will, muss es digitaler werden. Das hat auch Ursula von der Leyen erkannt. Wie sie es allerdings anstellen will, ist nicht so ganz klar. Ein bisschen digitale Industriepolitik für einen eigenen europäischen Weg sollte es schon sein. Wie das konkret aussehen soll, bleibt allerdings im Nebel. Klar ist aber: Damit die Digitalisierung nicht aus dem Ruder läuft, soll ein europäisches Konzept für menschliche und ethische Aspekte der künstlichen Intelligenz rechtsverbindlich installiert werden. Richtig ist allerdings, wenn die neue Kommission die Menschen durch Bildung und digitale Kompetenzen befähigen will, die Vorteile der Digitalisierung auch zu nutzen. Das soll in einem Aktionsplan für digitale Bildung geschehen. Konkret soll das Erasmus-Budget verdreifacht werden.
Die neue EU-Kommission will die Europäische Union sicherer machen. Es geht ihr um zumindest dreierlei. Zunächst soll die Rechtsstaatlichkeit gewahrt werden. Das ist zwar eine nationale Angelegenheit. Allerdings gibt es einen ergänzenden europäischen Mechanismus. Die Kommission will die Mitglieder nachhaltig an die Rechtsstaatlichkeit erinnern, zur Not auch mit finanziellen Sanktionen im mehrjährigen Finanzrahmen. Mehr Sicherheit sollen auch starke Grenzen bringen. Das macht einen Neuanfang in der Migrationspolitik notwendig. Die Dublin-Regelungen sollen reformiert, Frontex soll gestärkt, ein gemeinsames Asylsystem installiert und der Schengen-Raum wieder uneingeschränkt freizügig und die Belastungen durch Flüchtlinge neu verteilt werden. Schließlich soll auch die innere Sicherheit gestärkt werden. So soll eine europäische Staatsanwaltschaft grenzüberschreitenden Terrorismus wirksamer bekämpfen.
Der breitbeinige handelspolitische Auftritt von Donald Trump hat die EU-Kommissionspräsidentin veranlasst, die Europäische Union multilateraler agieren zu lassen. Sie fordert eine starke, faire und offene Handelsagenda. Handelsabkommen mit Drittländern sollen nur geschlossen werden, wenn sie höchsten Standards in puncto Klima, Umwelt- und Arbeitsschutz genügen und Null-Toleranz gegenüber Kinderarbeit zeigen. Weltweit will sich die EU-Kommission für fairen Wettbewerb einsetzen. Es dürfe künftig keinen Wettbewerb durch Dumping, Deregulierung (!) und Subventionen geben. Die Europäische Union will aktiv mitwirken, die WTO zu modernisieren und zu reformieren. Afrika soll stärker beachtet, der Westbalkan integriert und das Vereinigte Königreich in eine ehrgeizige und strategische Partnerschaft eingebunden werden. Europa soll in der Entwicklungs-, Außen- und Sicherheitspolitik künftig mit einer Stimme sprechen.
Die designierte EU-Kommissionspräsidentin ist eine glühende Verfechterin der Vereinigten Staaten von Europa. Es ist kein Zufall, dass sie die Europäische Union künftiger demokratischer machen will. Als erstes plant sie eine Konferenz zur Zukunft Europas. In ihr sollen die Bürger überall in der Europäischen Union zu Wort kommen. Sie will allerdings mehr. Das Europäische Parlament will sie stärken. Die Basis soll eine engere Partnerschaft zwischen der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament sein. Geplant ist auch eine häufigere Berichterstattung der Kommission an das Parlament. Das Europäische Parlament soll nicht nur ein Initiativrecht bei Gesetzen erhalten, ihm soll auch ein volles Mitentscheidungsrecht eingeräumt werden. Die Verstimmungen des Parlamentes bei der Bestellung der neuen EU-Kommissionspräsidentin sollen sich nicht wiederholen. Ein besseres „Spitzenkandidaten-System“ soll installiert werden.
Agenda für Europa und europäische Probleme
Die „Agenda für Europa“ der neuen EU-Kommissionspräsidentin hat Licht und Schatten. Einige der Vorschläge gehen in die richtige Richtung. Andere vergrößern die alten und neuen Probleme der Europäischen Union. In die falsche Richtung ist die EU-Kommission auch künftig bei der Europäischen Währungsunion unterwegs. Notwendig wären flexiblere relative Preise. Die stellen sich allerdings nur ein, wenn der Wettbewerb auf Güter- und Faktormärkten intensiviert wird und die Budgetrestriktionen von Arbeitnehmern, Unternehmen und Staaten „gehärtet“ werden. Umfassende Strukturreformen und glaubwürdige Haftungsausschlüsse wären das Gebot der Stunde. Tatsächlich will die EU-Kommission den Wettbewerb mit europäischen Mindestlöhnen, einer europäischen Arbeitslosen(rück)versicherung und industriepolitischen Aktivitäten aushebeln. Ein noch flexiblerer Stabilitäts- und Wachstumspakt, ein Haushalt für den Euro-Währungsraum und eine europäische Einlagensicherung „weichen“ die Budgetrestriktion weiter auf.
Auf dem richtigen Weg ist die EU-Kommission dagegen in der Flüchtlingsfrage. Es gibt drei Elemente einer wirksamen Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Sie kann die Lasten verringern, sie auslagern und/oder sie verteilen. Den ersten Weg will die EU-Kommission gehen, indem sie den Herkunftsländern finanziell und strukturell unter die Arme greift. Das ist gut so. Den zweiten Weg will sie weiter gehen, indem sie Anrainerstaaten der Herkunftsländer hilft und die Außengrenzen der Europäischen Union wirksamer schützt. Wie weit die vorgeschlagenen Maßnahmen greifen, wird sich zeigen. Der dritte Weg scheint in der Europäischen Union ein sehr beschwerlicher zu sein. Die Europäische Union bemüht sich schon lange, die Lasten aus der humanitären Zuwanderung gerechter auf die Länder der Europäischen Union zu verteilen. Gelungen ist dies bisher nicht. Trotzdem gehen die vorgeschlagenen Maßnahmen in die richtige Richtung.
Die Klimapolitik ist das Feld, auf dem die EU-Kommission komparative Vorteile gegenüber den Mitgliedsländern der Europäischen Union hat. Ein intaktes Klima ist ein weltweit öffentliches Gut, das zentral angeboten werden sollte. Der „grüne“ Schwerpunkt in der „Agenda für Europa“ ist richtig gesetzt. Ob die geplanten Instrumente allerdings effizient sind, ist zumindest umstritten. Sollte sich die EU-Kommission auf marktliche Lösungen, wie etwa das Emissionshandelssystem, stützen, stimmt die Richtung. Problemlos ist das allerdings nicht, wie der geplante CO2-Grenzsteuerausgleich zeigt. Er muss WTO-kompatibel sein. Europa darf keine Klimafestung werden. Es steht allerdings zu befürchten, dass die Kommission stärker auf grüne Industriepolitik setzt. Dann besteht aber die Gefahr, dass sie sich nicht nur Wissen anmaßt, das sie nicht haben kann. Es ist auch zu befürchten, dass „rent-seeking“ die europäische Klimapolitik dominiert.
Der in den letzten drei Jahren in Europa dominante Brexit kommt in der „Agenda für Europa“ nur am Rande vor. Dabei ist das dahinter liegende Problem für die Existenz der Europäischen Union von entscheidender Bedeutung. Der Brexit ist auch das Ergebnis einer wachsenden Heterogenität in Europa. Die Europäische Union muss auf die ökonomisch, sozial und politisch heterogenere Landschaft angemessen reagieren. Sie muss mehr Rücksicht auf die nationalen Eigenheiten nehmen. Das fängt bei den Integrationsstrategien an. Unterschiedliche Geschwindigkeiten, konzentrische Kreise und Europa à la carte müssen ernsthaft diskutiert werden. Und es setzt sich bei der vertikalen Verteilung der Kompetenzen fort. Das Prinzip der Subsidiarität muss mit Leben gefüllt werden. Wettbewerblicher Föderalismus muss in Europa wieder Einzug halten. Dann lassen sich Brexit-Probleme schon im Vorfeld lösen. Die neue EU-Kommissionpräsidentin scheint auf die wachsende Heterogenität weiter zentralistisch reagieren zu wollen. Das ist falsch.
Fazit
Die Europäische Union schlägt ein neues Kapitel auf. Ursula von der Leyen will eine geopolitische Kommission führen. In der „Agenda für Europa“ hat sie einige Pflöcke eingeschlagen. Die Europäische Union soll grüner, wettbewerbsfähiger, sozialer, digitaler, sicherer, multilateraler und demokratischer werden. Es kann bezweifelt werden, ob es damit gelingt, die drängendsten Probleme in Europa zu lösen. Künftig spielt der Markt nur noch eine untergeordnete Rolle. Industriepolitische Aktivitäten hebeln den Wettbewerb vielfach aus. Mit dem Geld der Anderen soll über viele Fonds die wirtschaftliche Entwicklung gesteuert werden. Allein für den „Grünen New Deal“ will die EU-Kommission in den nächsten 10 Jahren 1 Billion Euro der Mitgliedsländer in die Hand nehmen. Auf die wachsende Vielfalt der Europäischen Union soll nicht dezentraler geantwortet werden. Das Ideal der neuen EU-Kommissionspräsidentin sind zentralistische Vereinigte Staaten von Europa. Damit bleibt die Europäische Union im Systemwettbewerb auf der Strecke.
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