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Der Verband der Privatkrankenanstalten Österreichs, VPKA, lud mich kürzlich ein, einen Vortrag über “private Gesundheitsfürsorge im Rechtsstaat” zu halten. Österreichische Politiker, die das öffentliche Gesundheitssystem preisen, betreiben ebenso wie ihre deutschen Kollegen trotzdem für sich selbst offenkundig private Gesundheitsfürsorge. Anders als bei uns ist dies in Österreich ein Politikum.
Die Aversion gegen die Unaufrichtigkeit von Politikern ist zwar verständlich, die Ablehnung privater Gesundheitsfürsorge im Rechtsstaat jedoch abwegig. Die “Menschenwürde” zu bemühen, um private Gesundheitsfürsorge zu diskreditieren und letztlich zentrale Elemente der freien Entfaltung der Persönlichkeit zu unterminieren, ist sogar bemerkenswert abwegig.
1. Menschenwürde und gleiche Gesundheitsfürsorge
Das deutsche Grundgesetz beginnt mit dem Menschenwürde Artikel 1. In der österreichischen Verfassung findet sich nichts Vergleichbares (vgl. zur aufschlussreichen jüngsten österreichischen Debatte die Verweise unten). Wenn man der durchaus plausiblen Auffassung ist, dass Art. 1 GG unter der in Deutschland praktizierten Verfassungsdeutung eher zur Einschränkung individueller Freiheiten und Verfügungsrechte als zu deren Schutz herangezogen wurde und wird, dann sollte man in Österreich für diese “Lücke” in der Verfassung dankbar sein.
Die Befugnis, private Gesundheitsfürsorge zu betreiben, konfligiert gerade nicht mit der gleichen Befugnis anderer. Sie zu respektieren, verstößt gerade nicht gegen die Zuschreibung von Würde, sondern ist deren angemessener Ausdruck. Eingriffe sind, nur dann mit Grundprinzipien freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit vereinbar, wenn sie sich auf einen noch höheren Verfassungsgrundsatz als die Befugnis, selbstbestimmt für sich zu sorgen, berufen können.
Um gegen private Gesundheitsfürsorge vorgehen zu können, wird deshalb suggeriert, dass jede Ungleichheit in den Ergebnissen der Gesundheitsversorgung der Menschenwürde widerspricht. Doch, wenn das Konzept der Menschenwürde ungeachtet seiner nahezu beliebigen Deutbarkeit überhaupt ein sinnvolles Leitprinzip für die Gestaltung von Rechtsordnungen darstellen kann, dann nur dadurch, dass es die Aufmerksamkeit auf den Wert des menschlichen Individuums und dessen Autonomie richtet. Auf die relative Stellung zu anderen Individuen kommt es, insoweit es um Würde geht, nicht an, sondern nur darauf, bestimmte, die Würde jedes einzelnen ermöglichende rechtliche und sachliche Mindestbedingungen zu erfüllen.
2. Rettung vor dem Tod und Privatkonkurs
Es gibt de facto keinen Rechtsstaat westlicher Prägung der nicht ein Mindestmaß der Gesundheitsversorgung staatlich garantiert. Selbst in den USA sorgten auch vor der Einführung von “Obama Care” alle Staaten der Union dafür, dass bei akuter Gefährdung von Leib und Leben, Rettungsmaßnahmen im “emergency room” einschließlich der Dienste der gewöhnlich atemberaubend teuren “ICU” (“intensive care unit”) zur Verfügung gestellt wurden. Wer nach seiner Rettung nicht zahlen konnte, war verschuldet und möglicherweise finanziell ruiniert. Er war aber gerade nicht tot, sondern von dem vorgeblich “herzlosen” kapitalistischen Staat gerettet worden.
Ohne Zweifel war und ist das amerikanische Gesundheitswesen, was das Verhältnis von Aufwand und Ertrag anbelangt, alles andere als optimal organisiert. Aber das in ihm früher durchgängig und heute mit Abstrichen verwirklichte Prinzip des Vorrangs privater vor öffentlicher Gesundheitsfürsorge war keineswegs absurd. Es war rechtsstaatskonform und Ausdruck des Ideals der Privatrechtsgesellschaft.
Die Gesundheitsfürsorge besteht im Wesentlichen aus privaten Gütern, die privat bereitgestellt werden können. Nimmt man das Prinzip der Subsidiarität staatlichen Handelns ernst, dann greift der Staat erst dann helfend ein, wenn die privaten Möglichkeiten ausgeschöpft sind, um sicherzustellen, dass Bürger, die gerettet werden können, gerettet werden, auch wenn sie nicht für die Rettung selbst zahlen können. Genau das war in den USA im Grundsatz verwirklicht.
Die Absicherung gegen finanzielle Risiken der Krankheit und dagegen, die eigene Rettung nicht bezahlen zu können, ist etwas anderes als keinen Zugang zu an sich vorhandenen Mitteln der Rettung zu finden. Nach schwerer Krankheit im Privatbankrott und dann in der Sozialhilfe zu landen, ist etwas anderes als im Sarg zu enden. Es ist unzulässig, derartige Unterschiede zu verwässern und so zu tun, als ob die USA keine Mindestgarantien der Gesundheitsfürsorge öffentlich bereitstellten.
Wenn Leib und/oder Leben akut gefährdet sind, dann wird die gefährdete Person im Rahmen des dem Rechtsstaat und seinen Bürgern zumutbaren Aufwandes gerettet. Was zumutbar ist, kann man unterschiedlich deuten, aber sogar in Amerika wird den Kliniken viel zugemutet. Die Bürger erwarten von einem demokratischen Rechtsstaat, dass er garantiert, dass akut überlebensgefährdete konkrete Individuen, die gerettet werden können, gerettet werden.
Die Rechnung würde den Politikern ansonsten an der Wahlurne präsentiert. Insoweit ist eine vollkommen private Gesundheitsfürsorge im demokratischen Rechtsstaat nicht denkbar, weil mit dem Bestand der Rechtsordnung nicht vereinbar. Die eigentliche Zukunftsfrage ist, wieweit die öffentlichen Garantien der Gesundheitsfürsorge gehen müssen, um eine die Bürger zufriedenstellende Grundgleichheit garantierter Gesundheitsfürsorge zu erreichen.
3. Gesundheitsgüter privat von Konsum und Produktionsseite
Der Öffentlichkeitscharakter einer Zahnbehandlung ist gering. Von der Benutzung eines Herzschrittmachers kann man andere zu so geringen Kosten ausschließen, dass Freifahrerprobleme und externe Effekte eine so geringe Rolle spielen, dass rein private Marktversorgung problemlos möglich ist. Es scheint klar, dass Gesundheitsfürsorge privat bereitgestellt werden kann, wenn eine Privatrechtsordnung die Durchsetzung von komplexen Verträgen erlaubt.
Das gilt auch dann, wenn man die Unsicherheit und den daraus erwachsenden Wunsch nach Garantien der Versorgung, die im Akutfall von der dann bestehenden Zahlungsbereitschaft und -fähigkeit unabhängig sind, einbezieht. Die Behandlungskosten für Gesundheitsrisiken sind grundsätzlich versicherbar, sofern man nicht verlangt, eine Versorgung buchstäblich “koste es, was es wolle” zu garantieren. Die kann auch der Staat nicht bieten und schon gar nicht für alle gleichermaßen, nur die Gerichte und Medien verbreiten derartige fake news unverdrossen.
Besonders aufschlussreich ist insoweit das Beispiel eines integrierten Versorgers, etwa einer privaten Health Maintenance Organization. Die HMO garantiert gegen risikoäquivalente Prämien Gesundheitsfürsorge für einen vertraglich bestimmten Zeitraum. Zwar könnte der Versicherungsnehmer auch auf die Versicherung verzichten und für Gesundheitsleistungen nur im akuten Bedarfsfalle für Einzelleistungen zahlen wollen. Jedoch wird der durchschnittliche Bürger es vorziehen, wenn ihm qualitativ und quantitativ bestimmte Rationen der Versorgung von der HMO im Bedarfsfall ohne weitere Zahlungen vertraglich zugesichert und damit im Augenblick des Bedarfs nach Bedürftigkeitskriterien garantiert werden.
Es scheint weit hergeholt, dass ein privater HMO-Klient durch den Erwerb der privaten Ansprüche und eigene relative Besserstellung gegenüber denen, die nur Zugang zu öffentlichen Gesundheitsversorgungsgarantien haben, die Würde der insoweit schlechter Gestellten beeinträchtigt. Wäre das so, so würde das nur zeigen, dass der Staat darin versagt, die Würde der Bürger zu schützen. Wenn der Staat eine harte Rationierung einführte und den privaten Erwerb zusätzlicher Rationen untersagte, dann würde er den Bürgern die Informationsquelle dazu nehmen, dass eine bessere Versorgung möglich ist. Dass staatliche Monopole zu solchen Strategien neigen, ist bekannt, aber auch dass die Respektierung privater Verfügungsrechte der Bessergestellten die Verschleierung entlarven kann. Die beobachtbare Besserversorgung der privat-versicherten kann die Schlechtergestellten gegen solche Verschleierungsstrategien schützen.
Harte Rationierung wird im Gegensatz zur weichen Bereitstellung von Mindestversorgungsrationen, die um private Zusatzversorgung aufgestockt werden können, nicht nur zur Entstehung von Schwarzmärkten führen; sie ist auch unter allen plausiblen Deutungen mit dem Ziel, die freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 GG zu schützen, unvereinbar. Zudem schneidet sie den Bürger von wichtigen Informationen darüber ab, was eine private Gesundheitsfürsorge leisten kann.
4. Der Staat als Retter
Ein Staatsskeptiker, der die Rolle des Staates gern möglichst beschränken möchte, muss einräumen, dass das Leben ohne Staat „ungesund“ ist. Die jüngere Forschung scheint jedenfalls recht eindeutig zu zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, eines gewaltsamen Todes zu sterben, in staatsfreien Gesellschaften weit höher war und ist als in Gesellschaften, in denen eine staatliche Ordnung — keineswegs notwendig eine rechtsstaatliche Ordnung — eine Grundfürsorge für die Sicherheit der meisten Bürger bereithält.
Selbstverständlich trifft es zu, dass das Instrument des Staates geschichtlich immer wieder verwendet wurde, um entweder eigene Bürger zu verletzen oder zu töten oder aber Bürgern anderer Länder eine entsprechende Behandlung zuteil werden zu lassen. Trotzdem sind die Auswirkungen staatlicher Organisation auf die Menschheit insgesamt, insbesondere wenn man die letzten zweihundert Jahre betrachtet, überwältigend positiv. Im Jahr 1800 gab es beispielsweise etwa 1 Milliarde Menschen, von denen 85 % unter der Schwelle von, (kaufkraftnormiert) 2$ und damit in absoluter Armut ihr durchschnittlich 35 jähriges Leben fristeten. Mittlerweile liegt die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit oberhalb von 70 Jahren. Das ist gewiss mehr Wirkung des Staates im allgemeinen als der privaten Gesundheitsfürsorge im Rechtsstaat.
Die staatliche Unterdrückung privater Gewaltausübung ist augenscheinlich die Grundvoraussetzung für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschheit. Das sollte marktwirtschaftliche Fundamentalisten davor warnen, den Sirenenklängen der anarcho-kapitalistischen Ablehnung aller Monopole nachzugeben. Das bedeutet aber gerade nicht, dass die Unterdrückung privater Initiative generell den Menschen zum Vorteil dienen würde. Ganz im Gegenteil, ist der Anstieg des Wohlstandes weltweit im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass Staaten unter der Führung Englands seit 1800 zunehmend Bereiche des Lebens mit den Mitteln der Politik entpolitisierten und die Bürger zu privater Initiative und privaten Entscheidungen rechtsstaatlich ermächtigten. Wenn die Gesundheitsfürsorge re-politisiert werden und private Gesundheitsfürsorge verboten werden müsste, um die Akzeptanz des Staates aufrechtzuerhalten, dann wäre das ein Rückschritt, der sich womöglich nicht auf den Gesundheitsbereich beschränken ließe, sondern die freiheitliche Rechtsstaatlichkeit insgesamt gefährden würde.
Der Umfang, in dem private Gesundheitsfürsorge als komplementär zu einer öffentlich garantierten — möglicherweise sehr umfangreichen — für jedermann gleichen Gesundheitsgrundversorgung toleriert und akzeptiert wird, ist nicht nur mit Bezug auf die Gesundheit wichtig. Selbstverständlich ist es nicht das primäre Ziel etwa eines Verbandes wie des VPKA in Österreich oder entsprechender Gruppierungen in der BRD die Rechtsstaatlichkeit als solche zu fördern. Es wäre scheinheilig, so etwas zu behaupten. Aber es bedarf keiner Scheinheiligkeit, als Bürger die private Gesundheitsfürsorge im Rechtsstaat zu unterstützen, sondern nur der Einsicht, dass die Existenz privater Gesundheitsfürsorge im wohlverstandenen Interesse fast aller liegt, weil es dem Respekt für die Autonomie der mündigen Bürgers entspricht, die die private Versorgung nutzen wollen und zu Gunsten aller anderen den Druck aufrechterhält, auch die öffentliche Versorgung zu verbessern.
Literatur
Ungeachtet des unverantwortlichen Gelärmes um die Folgen der Globalisierung, die vorgeblich die Welt dem Abgrund näher brachte, sollten die Fakten unstrittig sein. Wer Zweifel hat, kann sich auf der von mir in dieser Kolumne schon mehrfach erwähnten website “https://ourworldindata.org/” selbst ein Bild machen.
Zur jüngsten österreichischen Auseinandersetzung über die Menschenwürde findet man z.B. in “Die Presse” einige naiv optimistische Ausführungen
https://www.diepresse.com/5700613/zur-achtung-der-menschenwurde
https://www.diepresse.com/5708429/verfassung-und-menschenwurde
Allgemeines zum Hintergrund findet man in: Kliemt, Hartmut. 2006. “Ethische Konflikte Im Gesundheitswesen.” Perspektiven Der Wirtschaftspolitik 7 (May): 27–48. https://doi.org/10.1111/j.1465-6493.2006.00215.x.
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