Am 14. Oktober dieses Jahres gab die königliche schwedische Akademie der Wissenschaften bekannt, dass der diesjährige Wirtschaftsnobelpreis zu gleichen Teilen an die Entwicklungsländerforscher Abhijit Banerjee, Esther Duflo und Michael Kremer verliehen wird.
Damit wurden zum ersten Mal in seiner 50-jährigen Geschichte Ökonomen, die sich vorrangig mit Armut und deren Bekämpfung beschäftigen, ausgezeichnet. Im Jahr 1998 wurde der Preis an den indischen Ökonomen Amartya Sen für seine Leistungen auf dem Gebiet der theoretischen Wohlfahrtsökonomik verliehen, wobei das Preis-Komitee auch seine Arbeiten über Armutsmessung und Hungersnöte erwähnte. Beim Preisträger des Jahres 2014, Angus Deaton, erwähnte das Preiskommittee ebenfalls seine Analysen zur Armut, neben seinen einflußreichen Arbeiten zu Konsum und Wohlfahrtsmessung.
Die diesjährigen Preisträger werden „für ihren experimentellen Forschungsansatz zur globalen Armutsreduzierung“ ausgezeichnet. In einer Pressemitteilung führt das Preiskomitee aus, dass die Wissenschaftler einen neuen Ansatz entwickelt haben, um belastbare empirische Evidenz zu den geeignetsten Möglichkeiten, die globale Armut zu reduzieren, zu generieren. Ihr Forschungsprozess beinhaltet, dass die große Frage der Armutsreduzierung zunächst in kleinere, überschaubare Fragen unterteilt wird und daraus wirksame Interventionen und Politikmaßnahmen entwickelt werden, um beispielsweise Gesundheit und Schulbildung von Kindern zu verbessern. Die drei Ökonomen haben gezeigt, wie diese spezifischen Forschungsfragen mit sogenannten Experimenten unter Menschen, die selbst von Armut betroffen sind, glaubhaft beantwortet werden können.
Der experimentelle Forschungsansatz in den empirischen Sozialwissenschaften
Eine grundlegende Frage in jeglicher empirischer Forschung, gleichermaßen in Naturwissenschaften, Medizin und Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, betrifft die Wirkung einer bestimmten Maßnahme oder eines Eingriffs, während gleichzeitig alle anderen Faktoren, die die Ergebnisvariable von Interesse beeinflussen könnten, unverändert bleiben. Eines solche Wirkung bezeichnet man als den kausalen Effekt einer Maßnahme. Im Bereich der Medizin kann kann dies die Verabreichung einer geeigneten Tablette gegen Kopfweh sein, im Bereich der Armutsreduzierung eine Grundrente und ihre Auswirkung auf Ernährungsstatus und Bildung von Kindern aus benachteiligten Verhältnissen.
Kausale Effekte in den Naturwissenschaften werden üblicherweise mittels sogenannter kontrollierter Experimente nachgewiesen. Ein wesentlicher Bestandteil solcher Experimente ist der Vergleich einer behandelten Gruppe mit einer Kontrollgruppe. In einem Tierversuch beispielsweise werden von 50 genetisch identischen Jungmäusen zufällig 25 ausgewählt und mit einem Wachstumshormon behandelt. Nach einer Woche vergleicht der Forscher die durchschnittliche Körpergröße der behandelten Tiere mit derjenigen der nicht behandelten Tiere. Die Differenz gibt dann den kausalen durchschnittlichen Effekt des Wachstumshormons auf die Körpergröße wieder. Hierbei sind drei Aspekte des Forschungsdesigns bedeutend. Erstens werden die zu behandelnden Tiere zufällig ausgewählt. Zweitens sind alle vom Forscher kontrollierbaren Faktoren mit Ausnahme der Hormongabe identisch für die behandelten und unbehandelten Tiere. Diese beiden Verfahrensschritte stellen sicher, dass Größendifferenzen zwischen behandelten und unbehandelten Tieren am Ende des Experiments nicht von anderen systematischen Unterschieden zwischen den beiden Gruppen verursacht sind. Drittens umfassen beide Gruppen eine hinreichend große Zahl von Tieren. Dieser Aspekt erlaubt es, davon auszugehen, dass vom Forscher nicht kontrollierbare, zufällige Faktoren in der behandelten und der unbehandelten Gruppe gleich verteilt sind.
Das eben konstruierte Beispiel ist eine randomisierte Kontrollstudie. Allgemeiner gesprochen werden hierbei die zu behandelnden Subjekte zufällig aus einer Gesamtheit von Probanden ausgewählt, wobei der Behandlungsstatus den einzelnen Subjekten im Idealfall verborgen bleibt, zum Beispiel durch den Einsatz eines Placebo-Präparats in der Kontrollgruppe. In der Medizin hat sich seit den 1940er Jahren diese Form des „Experiments“ als Goldstandard für die Etablierung der Wirkung von Medikamenten und Therapiemethoden etabliert. Der Wirksamkeitsnachweis per randomisierter Kontrollstudie ist nunmehr seit über 30 Jahren Voraussetzung für die Zulassung von Medikamenten in Deutschland wie andernorts. Das Unvermögen, einen solchen Nachweis zu liefern, hat beispielsweise dazu geführt, dass in Frankreich homöopathischen Arzneimitteln dieses Jahr die Kassenerstattung gestrichen wurde.
Die empirische Sozialforschung ignorierte die Methodik der randomisierten Kontrollstudie lange Zeit. Üblich waren hier sogenannte Beobachtungsstudien, in der Medizin als epidemiologische Studien bekannt. Methodisch gesehen unterscheiden diese sich von den randomisierten Kontrollstudien dadurch, dass der Behandlungsstatus den an der Studie beteiligten Subjekten nicht zufällig zugewiesen wird. Als ein prominentes Beispiel dieser empirischen Methodik in der ökonomischen Entwicklungsländerforschung mag ein viel zitierter Aufsatz von Christopher Udry über landwirtschaftliche Produktivität in Burkina Faso aus dem Jahr 1996, veröffentlicht im Journal of Political Economy, dienen. Hier wird die Hypothese untersucht, dass landwirtschaftliche Haushalte ihre produktiven Ressourcen nicht optimal einsetzen im Hinblick darauf, dass innerhalb eines Haushalts Ackerstücke, die im Eigentum der Frau sind, weniger intensiv bewirtschaftet werden als solche, die im Eigentum des Mannes sind. Udry vergleicht hierzu den Einsatz von Saatgut, Arbeit und Düngemitteln auf Ackerstücken von Männern und Frauen, die dem gleichen Haushalt angehören. Die Einflüsse von beobachtbaren Unterschieden, beispielsweise der chemischen Bodenzusammensetzung verschiedener Flursücke, werden hierbei mit statistischen Methoden einbezogen (oder „kontrolliert“). Im Gegensatz zu einer randomisierten Kontrollstudie ist hier die Zuweisung von Ackerstücken auf Frauen und Männer jedoch alles andere als zufällig. Vielmehr ist sie das Resultat komplexer Erbgänge und vielfältiger bewußter Entscheidungen verschiedener Akteure, beispielsweise der Eltern der Eheleute. Insofern lässt sich mit den verfügbaren Beobachtungsdaten nicht ausschließen, dass es von Udry unbeobachtete Unterschiede in der Produktivität von Feldstücken im Eigentum von Frauen und Männern gibt, gemäß derer es effizient ist, die „weiblichen“ Äcker weniger intensiv zu bewirtschaften als die „männlichen“. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn „weibliche“ Ackerstücke bei gleichem Saatgut-, Düngemittel-und Arbeitseinsatz trotz identischer chemischer Bodenzusammensetzung durchschnittlich weniger ertragreich wären als die „männlichen“.
Im Bereich der empirischen Ökonomik entwickelte sich spätestens seit den 1980er Jahren eine Debatte über die Glaubhaftigkeit empirischer Forschungsergebnisse, die auf Beobachtungsstudien basieren. So klagte der renommierte Ökonometriker und Handelsökonom Edward Leamer im Jahr 1983 in dem Aufsatz Let’s Take the Con Out of Econometrics (deutsch etwa „Lasst uns die Ökonometrie vom Schwindel befreien“), dass kaum ein Ökonom die Datenanalysen seiner Kollegen ernst nehme, da die meisten Ergebnisse verschwänden oder sich sogar umkehrten, wenn man auch nur kleine Details der jeweiligen statistischen Analysemethodik ändere.
Während Leamer ein verstärktes Augenmerk auf sogenannte Sensitivitätsanalysen forderte, ging eine damals junge Generation von amerikanischen Arbeitsmarktökonomen das Kausalitätsproblem mit innovativen empirischen Forschungsdesigns an, die Kausalität dadurch etablieren, dass institutionelle Zusammenhänge ausgenutzt werden, die in einer zufälligen Zuweisung des „Behandlungsstatus“ resultieren. Ein bekanntes Beispiel ist die Arbeit des Chicago-Ökonoms Robert LaLonde aus dem Jahr 1986, der ein Lotterieverfahren zur Zuweisung von Plätzen in einem vom Staat finanzierten beruflichen Weiterbildungsprogramm ausnützt, um dessen kausalen Effekt auf spätere Beschäftigung und Verdienst zu bestimmen. Die Lotterie kam zum Einsatz, da die öffentlichen Mittel für das Weiterbildungsprogramm nicht ausreichten, um allen Bewerbern, die die Zugangsvoraussetzungen erfüllten, einen Platz bereitzustellen. In ähnlicher Weise schätzte der MIT-Ökonomen Joshua Angrist 1990 den kausalen Effekt von Militärdienst auf den späteren beruflichen Werdegang junger amerikanischer Männern mit Hilfe des Lotteriemechanismus, mit dem US-Soldaten für den Vietnamkrieg bestimmt wurden.
Es ist offensichtlich, dass die Anzahl interessanter Forschungsfragen, die sich mit der Methodik solcher natürlichen Zufallsexperimente angehen lassen, äußerst begrenzt ist, insbesondere im Bereich der Entwicklungsländerforschung. Ein erwähnenswertes Beispiel in diesem Zusammenhang ist jedoch der Aufsatz der Preisträgerin Esther Duflo (gemeinsam mit Raghabendra Chattopadhyay) aus dem Jahr 2004, in dem die Autoren zeigen, dass weibliche Dorfvorsteherinnen in Indien häufiger in lokale Infrastruktur investieren, auf die Frauen größeren Wert legen als Männer, zum Beispiel Toiletten. Hierbei nutzen Sie die gesetzliche Quotenregelung aus, gemäß derer in einem Drittel der Dörfer des Bundesstaats West Bengal nur weibliche Kandidaten zur Wahl zugelassen sind. Die Regierung implementiert diese Quotenregelung so, dass in einem gegebenen Wahljahr jedes dritte Dorf von einer alphabetisch geordneten Liste ausgewählt wird – ein Verfahren, das die Autoren glaubhaft als „so gut wie zufällig“ bezeichnen. Die methodische Innovation dieser Arbeit liegt beim Forschungsdesign, das eine eigens konzipierte Datenerhebung von geschlechtsspezifischen Präferenzen für sowie die Bereitstellung von verschiedenen lokalen öffentlichen Gütern in zahlreichen Dörfern beinhaltet und diese Primärdaten mit der Regierungsliste der für Frauen reservierten Dörfer kombiniert. Die vorhergehenden, in den USA angesiedelten Arbeitsmarktstudien basieren hingegen ausschliesslich auf Sekundärdaten, an deren Erhebung die Wissenschaftler nicht selbst beteiligt waren.
Der methodische Unterschied zwischen solchen natürlichen Zufallsexperimenten und einer randomisierten Kontrollstudie, die man ebenso kontrolliertes Zufallsexperiment nennen könnte, ist, dass bei der Kontrollstudie der auswertende Forscher nicht nur die Datenerhebung gestaltet, sondern auch auf die Intervention und insbesondere den Zufallsprozess, gemäß dem der Behandlungsstatus zugewiesen wird, die „Randomisierung“, Einfluß nimmt, während er beim natürlichen Zufallsexperiment rückwirkend Zufallselemente ausnützt, die ein bestimmter institutioneller Zusammenhang generiert. Es ist offensichtlich, dass sich mit randomisierten Kontrollstudien prinzipiell eine Vielzahl interessanter Forschungsfragen angehen lassen – vorausgesetzt dem Forscher gelingt es, an der Implementierung relevanter Maßnahmen hinreichend beteiligt zu werden.
Zusammenfassend lassen sich die gängigsten Forschungsdesigns in den empirischen Wirtschaftswissenschaften hierarchisch wie folgt typologisieren: bei der randomisierten Kontrollstudie steuert der Wissenschaftler die Randomisierung, beim natürlichen Zufallsexperiment erfolgt sie hingegen von anderer Stelle. Bei der Beobachtungsstudie liegt die Zuweisung des Behandlungsstatus ebenfalls nicht in der Hand des Forschers und ist darüber hinaus nicht zufällig. Eine Position zwischen den beiden letztgenannten Designs nimmt das natürliche Experiment ein, wo die Zuweisung des Behandlungsstatus nicht zufällig ist aber sich im Zuweisungsprozess Elemente finden lassen, die den Behandlungsstatus als „so gut wie zufällig“ erscheinen lassen. Eine beliebte Anwendung sind hier beispielsweise die ökonomischen Konsequenzen von Regenfallschwankungen, die auf die landwirtschaftliche Produktion in Entwicklungsländern einen großen Einfluß haben. Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle beanstanden, dass die eben diskutierte Studie von Duflo nach dieser Klassifierung streng genommen „nur“ ein natürliches Experiment und kein natürliches Zufallsexperiment ist – allerdings wird man zustimmen, dass bei Chattopadhyay und Duflo die Vergleichbarkeit von „behandelten“ und Kontroll-Dörfern eher gegeben ist als z. B. von Dörfern, die im selben Jahr guten und mangelhaften Niederschlag erfahren haben. Oder vielleicht doch nicht? Die eben aufgestellte Behauptung soll verdeutlichen, dass grundsätzlich jedes empirische Forschungsdesign, der keine strenge Randomisierung beinhaltet, hinsichtlich der Vergleichbarkeit von behandelter und Kontrollgruppe und somit auch im Hinblick auf die Bestimmung eines kausalen Effektes einer Intervention grundsätzlich angreifbar ist.
Im Rahmen der oben erwähnten Debatte über die Glaubhaftigkeit empirischer Forschungsergebnisse sind im Hinblick auf den Ansatz der Nobelpreisträger zwei Beiträge von 1994 und 1995 in der Zeitschrift World Bank Research Observer bemerkenswert: Hier brechen der Berkeley Ökonom Paul Gertler (mit John Newman und Laura Rawlings) und Michael Kremer eine Lanze für randomisierten Kontrollstudien, wobei Gertler auf Regierungsprogramme zur Schulbildung und Familienplanung der 70er, 80er und frühen 90er Jahre hinweist, die bereits randomisierte Evaluationen beinhalten, während Kremer argumentiert, dass Ökonomen selbst auf die Gestaltung von Pilot-Programmen Einfluß nehmen und sie durch randomisierte Zuteilung evaluieren sollten. Hierbei zeigt er, dass dies im Bereich der Bildungsforschung in Entwicklungsländern schon vereinzelt durchgeführt wurde – allerdings nicht von Ökonomen.
Kurz darauf waren es diese beiden Wissenschaftler, die als erste Ökonomen randomisierte Kontrollstudien in Entwicklungsländern durchführten. Gertler (Berkeley) gemeinsam mit Jere Behrman und Petra Todd von der University of Pennsylvania und dem Yale Ökonomen T. Paul Schultz konzipierten 1997 eine randomisierte Einführung und Evaluierung des Transferzahlungs- und Kinderförderungsprogramms Progresa der mexikanischen Regierung. Michael Kremer hingegen darf als Vater des randomisierten Feldexperiments in der Entwicklungsökonomie gelten. So werden randomisierte Kontrollstudien genannt, die im wirtschaftlichen Alltag der beteiligten Subjekte angesiedelt sind und wo der Wissenschaftler auch an der Gestaltung der Intervention selbst beteiligt ist. Was die Implementierung betrifft sind sie üblicherweise von kleinerem Umfang als landesweite Regierungsprogramme wie Progresa. Typologisch sind sie abzugrenzen von ökonomischen Laborexperimenten, wo das Verhalten menschlicher Subjekte unter synthetischen Laborbedingungen untersucht wird. Diese wurden bereits in den 1960er Jahren, unter anderem vom bisher einzigen deutschen Wirtschafts-Nobelpreisträger Reinhard Selten, entwickelt.
Kremer und seine damaligen Doktoranden forcierten den experimentellen Forschungsansatz auf breiter Front. Die Erfolgsaussichten waren durchaus ungewiss. Aus heutiger Sicht ist es unbegreiflich, dass nicht wenigen seiner ersten experimentellen Studien, die er ab 1995 schwerpunktmäßig im ländlichen Kenya durchführte, die Veröffentlichung in einschlägigen Fachzeitschriften versagt blieb. Darunter befindet sich auch ein Feldexperiment mit Abhijit Banerjee, das den Effekt eines zusätzlichen Lehrers in indischen Dorfschulen auf Unterrichtsbesuch und Lernerfolg bestimmt, oder ein Aufsatz von Kremer (mit seiner Schülerin Christel Vermeersch), in dem bedeutende Effekte einer Schulspeisung auf Vorschulbesuch in Kenia nachgewiesen werden. Drei weitere Studien aus dieser Zeit erschienen erst mit sieben bzw. zehn Jahren Verzögerung. Ein Konferenzbeitrag Kremers über Feldexperimente im Schulbildungsbereich von Entwicklungsländern aus dem Jahr 2003 liest sich stellenweise wie ein Verteidigungsplädoyer der experimentellen Methodik gegenüber den damals noch dominierenden Beobachtungsstudien und natürlichen Experimenten. Dies verdeutlicht eindrucksvoll, wie schwer es wissenschaftlichen Fachcommunities – auch in den Wirtschaftswissenschaften – mitunter fällt, neue Paradigmen zuzulassen und zu honorieren, und in welchem Ausmaß auch der Wissenschaftsbetrieb von Moden und einer Tendenz zum Festhalten am status quo geprägt ist.
Die experimentelle Revolution in der Entwicklungsökonomie
Die ersten in der ökonomischen Fachgemeinschaft Aufsehen erregenden Publikationen, die auf randomisierten Evaluierungen in Entwicklungsländern basieren, erschienen im Jahr 2004, ein methodisch geprägter Aufsatz von Kremer (mit seinem Schüler Edward Miguel) über ein Entwurmungs-Programm in Kenia in der Zeitschrift Econometrica, sowie Gertlers Arbeit über Progresas Wohlfahrtseffekte im American Economic Review. Unter anderem aufgrund der darin wiedergegebenen empirischen Evidenz fand Progresa in der Folge Nachahmung in mehr als 30 Ländern weltweit.
Es folgte ein regelrechter Boom von randomisierten Feldexperimenten in der ökonomischen Entwicklungsländerforschung. Grob kategorisieren läßt sich die mittlerweile in die Tausende gehende Vielzahl von Arbeiten mit randomisierten Forschungsdesigns hinsichtlich des Ausmaßes der Intervention und des Theoriebezugs der empirischen Forschung.
- Wie schon ausgeführt waren bereits bei den allerersten randomisierten Evaluationen von Entwicklungsökonomen einerseits im Maßstab überschaubare Feldexperimente und andererseits ein landesweites Regierungs-Sozialprogramm vertreten. In den Feldexperimenten wird häufig vergleichend getestet, welche Maßnahme in einem spezifischen Kontext am besten geeignet ist, um ein bestimmtes Entwicklungsziel zu erreichen. Bei Kremers ersten Studien in Kenya waren die Ziele Schulbesuch und Lernerfolg, die Maßnahmen, die nacheinander erprobt wurden, Schulbücher, Flipcharts, Leistungsanreize für Lehrer und schließlich eine Entwurmungstherapie für Schüler. Nur die letzte dieser Maßnahmen war kosteneffizient und verbesserte nicht nur die Gesundheit der Kinder spürbar sondern auch deren Schulbesuch und Lernerfolg. Es war die Zusammenarbeit mit einer finanziell gut ausgestatteten holländischen Nichtregierungsorganisation, die es Kremer ermöglichte, all diese Maßnahmen durchzutesten. Esther Duflo bezeichnete dieses Aufspüren und Nachweisen von wirksamen Maßnahmen, das eher einen beharrlichen Charakter und Gespür für den jeweiligen Kontext als Brillianz auf dem Gebiet der mathematischen Modellbildung erfordert, als „Klempnerei“ in der ökonomischen Armutsforschung. Bei Regierungsprogrammen ist der Forscher an der Art der Maßnahme üblicherweise kaum beteiligt und die Evaluierung steht im Vordergrund. Typischerweise werden hierbei nicht alternative Maßnahmen im Vergleich getestet, sondern im Mittelpunkt steht die Wirksamkeit und Kosteneffizienz eines spezifischen großangelegten Programms. Ein aktiver junger Forscher auf diesem Gebiet ist Kremer-Schüler Karthik Muralidharan (San Diego), der beispielsweise große Verbesserungen sowohl für die Staatkasse also auch für Leistungsempfänger durch die Einführung von e-governance Maßnahmen in Indien nachgewiesen hat. Teilweise gelingt es Forschern, auch innerhalb von landesweiten Regierungsprogrammen experimentelle Variation einzuführen. So liegen eine Reihe von Studien unter Beteiligung Abhijit Banerjees über Indonesien vor, wo mehrere zentrale Elemente eines staatlichen Lebensmittel-Grundsicherungsprogramms unter Einbeziehung von Harvard- und MIT-Wissenschaftlern variiert wurden, sei es das Verfahren zur Bestimmung von Leistungsempfängern oder die Einbeziehung privater Dienstleister bei der Auslieferung der Nahrungsmittel vor Ort.
- Eine weitere Differenzierung experimenteller Arbeiten läßt sich hinsichtlich des Theoriebezugs vornehmen. Während bei der „Klempnerei“ die Überprüfung theoretischer Hypothesen der Wirtschaftstheorie zugunsten praktischer Aspekte der Armutsreduzierung in den Hintergrund tritt, wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche raffinierte Forschungsdesigns implementiert, die die Bestimmung ansonsten schwierig zu messender Effekte ermöglichen, die in der ökonomischen Theoriebildung eine bedeutende Rolle spielen. Ein prominentes Beispiel, veröffentlicht 2009, ist das Feldexperiment von Duflo und Banerjees Schüler Dean Karlan (mit Jonathan Zinman) über adverse Selektion und moralisches Risiko (moral hazard) in Kreditmärkten, wo zunächst angebotene und letztlich im Vertrag abgeschlossene Kreditzinssäzte unabhängig voneinander unter Kunden eines südafrikanischen Finanzdienstleisters randomisiert werden. In der Folge erhoben die Wissenschaftler Rückzahlungsdaten. Dieses Forschungsdesign erlaubte es erstmals, in überzeugender Weise zentrale Elemente der äusserst einflussreichen theoretischen Hypothesen zu asymmetrisch verteilter Information in Kreditmärkten zu testen, die 1981 von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz veröffentlicht worden waren. Allerdings bringen solche Arbeiten eher akademischen Ruhm als einen Nutzen für die Armutsbekämpfung. Eine Stellung zwischen diesen Extremen nehmen Feldexperimente ein, die durch eine für das Leben der Betroffenen relevante Intervention Verhaltensparameter bestimmen, die der Theoriebildung entspringen und für den wirtschaftlichen Erfolg des Einzelnen eine wichtige Rolle spielen. Häufig werden hier Hypothesen aus der Verhaltensökonomik (behavioral economics) überprüft, die Abweichungen vom Lehrbuchmodell des rationalen homo oeconomicus zum Gegenstand haben. Diese verhaltensökonomischen Elemente sind ein wichtiger Teil der Forschungsagenda von Banerjee und Duflo, die in ihrem bekannten Buch Poor Economics argumentieren, dass Mangel an Information, kognitive Überlastung und pessimistische Erwartungen wichtige Ursachen von chronischer Armut sind. So argumentieren Duflo und Kremer (mit Jonathan Robinson) in einem Ausatz von 2011, dass das Entscheidungskalkül kenianischer Kleinbauern eine Verzerrung zugunsten der Gegenwart (present bias) aufweist, da ihre im Normalfall viel zu niedrige Nachfrage nach produktivitätssteigernden Düngemitteln insbesondere durch zeitlich begrenzte Rabatte während der Nach-Erntezeit, nicht aber während der Anbauperiode, erheblich gesteigert werden kann.
Grundsätzlich neu an Feldexperimenten ist die Arbeitsweise des Entwicklungsforschers. Bei Beobachtungsstudien wurde hauptsächlich mit nicht selbst erhobenen Daten (sog. Sekundärdaten) gearbeitet. In einer Minderzahl von Fällen war der Forscher an der Erhebung selbst beteiligt, was üblicherweise ein gewisses Mass an Arbeit im Feld beinhaltet. Andererseits gab es – eher vereinzelt – Politikberatung, wo Wissenschaftler meist eher indirekt Einfluß auf die Gestaltung einzelner Entwicklungsprojekte nehmen konnten. Beim Feldexperiment hingegen ist der Forscher sowohl bei der Gestaltung der Intervention als auch ihrer Implementierung und im Nachgang unmittelbar beteiligt. Ausserdem führt er statistische Erhebungen in ihrem Umfeld durch. Dies führt zu mehr Teamarbeit, Kollaborationen mit Entwicklungsorganisationen und insgesamt einer größeren Verwurzelung in entwicklungspraktischer Arbeit im Feld als der von Schreibtischarbeit geprägte frühere Forschungsstil; und oft zu direkten Verbesserungen im Leben der von Armut Betroffenen. Um diese Arbeitsweise zu professionalisieren und Skaleneffekte auszunutzen, gründeten Banerjee und Dulfo gemeinsam mit einem weitern Kollegen 2003 am MIT das Poverty Action Lab, ein weltweit aktives Forschungszentrum mit mittlerweile 400 Angehörigen, das die Planung und Durchführung von RCTs und wissenschaftlichen Befragungen unterstützt. Die gemeinnützige Organisation wird heute durch namhafte Geber gefördert wie die Stiftungen von Google, der Familien Gates, Hewlett und MacArthur, sowie durch die US-amerikanische und die britische Regierung.
Das Ausmaß von RCTs in der entwicklungsökonomischen Forschungslandschaft, das zumindest teilweise als Meßgröße für den Einfluß der von den Nobelpreisträgern vorwärtsgetriebenen Methodik auf die Forschungsdisziplin gelten kann, läßt sich auch bibliographisch belegen. Während im Jahr 2000 in den fünf renommiertesten volkswirtschaftlichen Fachzeitschriften 10 Prozent der veröffentlichten Artikel aus der Entwicklungsökonomie kamen und keiner davon eine randomisierte Kontrollstudie beinhaltete, waren es 2015 zwölf Prozent, wovon jeder dritte einen RCT beinhaltet. Andererseits weist der Weltbankökonom David McKenzie darauf hin, dass in den drei führenden entwicklungsökonomischen Fachzeitschriften nur jeder achte Aufsatz einen RCT beinhaltet. Dies zeigt, dass die Methodik der Nobelpreisträger ein hohes Gewicht insbesondere in der entwicklungsökonomischen Forschungsspitze erlangt hat, während sie im Forschungsoutput, den die Disziplin insgesamt produziert, deutlich weniger vertreten ist. Unstrittig ist hingegen, dass der experimentelle Ansatz die Denkkategorie des „idealen“ – will sagen randomisierten – Experiments in der empirischen Entwicklungsforschung als Goldstandard etabliert hat und die Mehrzahl nicht-experimenteller empirischer Arbeiten darauf Bezug nimmt.
Hinweis: Den ganzen, wesentlich längeren Beitrag können Sie im Heft 12 (2019) der Fachzeitschrift WiSt nachlesen.