Fritz Söllner legt mit „System und Chaos. Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik“ ein ökonomisches Sachbuch zu einem Thema vor, das in letzter Zeit durch die Umweltproblematik in der öffentlichen Diskussion etwas in den Hintergrund geraten ist.
Kurz zum Inhalt:
Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Im ersten aus drei Kapiteln bestehenden Teil erläutert Söllner die Grundlagen der Migrationsökonomie. So zeigt er im ersten Kapitel auf, wie das ökonomische Werkzeug auf in der Realität existierende Problemfelder angewandt wird und definiert die relevanten Begriffe (Migrant etc.). Das zweite Kapitel ist der Darstellung der Konsequenzen der Migration gewidmet. Hier wird zunächst die globale Perspektive anhand eines leicht verständlichen ökonomischen Modells erläutert, das anschließend mit empirischen Daten unterfüttert wird. Söllner zitiert Studien, nach denen sich das weltweite Sozialprodukt um 40 Billionen US-Dollar per anno erhöhen würde, baute man alle Migrationshemmnisse ab. Reduziert würde diese Summe, die eine Steigerung des weltweiten Sozialprodukts um 40% impliziert, und zwar nicht unerheblich durch die Wanderungskosten und durch die Beeinträchtigung des Sozialkapitals in den Zielländern. In den Zielländern der Migration ist im Falle der Zuwanderung niedrigqualifizierter Erwerbspersonen mit folgenden Effekten zu rechnen: Durch die Zuwanderung erhöht sich das Arbeitsangebot insgesamt, und der Durchschnittslohn wird sinken. Dadurch erhöht sich die Kapitalrendite. Da sich im Fall der Zuwanderung niedrigqualifizierter Erwerbstätiger eben das Arbeitsangebot derselben Gruppe ausgeweitet hat, werden deren Löhne unter Druck geraten. Zugleich erhöht sich der Lohn der hochqualifizierten Erwerbspersonen: Hochqualifizierte und niedrigqualifizierte Arbeitskräfte ergänzen sich in der Produktion, und das Angebot an niedrigqualifizierten wächst durch die Zuwanderung, wodurch eben die Produktivität der hochqualifizierten ansteigt und damit deren Lohn. Neben den Auswirkungen auf die Faktormärkte führt die Zuwanderung niedrigqualifizierter Arbeitnehmer zu weiteren Effekten: So erhöht sich auf dem Wohnungsmarkt die Nachfrage nach günstigem Wohnraum, der freilich auch von einheimischen geringqualifizierten Beschäftigten nachgefragt wird. Die Konsequenz daraus ist ein Anstieg der Miete. Weitere nachteilige Effekte lassen sich nach Söllner für die einheimischen geringqualifizierten Beschäftigten bei der Vergabe der Sozialwohnungen und in Form einer absinkenden Unterrichtsqualität identifizieren. Zudem geht – so Söllner – von einer Zuwanderung geringqualifizierter Personen mit größerer Wahrscheinlichkeit ein negativer fiskalischer Effekt aus. Söllner erklärt plausibel das Entstehen dieser Effekte und untermauert seine Erkenntnisse mit Verweis auf die einschlägigen empirischen Untersuchungen. Im dritten Kapitel thematisiert Söllner das Thema Diversität, worunter er „die Koexistenz verschiedener, tatsächlich gelebter Kulturen in einer Gesellschaft“ (S. 54) versteht. Hier zeigt er zunächst die Vorteile auf, die unterschiedlichste Lebensbereiche betreffen können (Küche, Musik, Literatur, Handwerk etc.). Diesen können wiederum Nachteile in Form eines erschwerten Zusammenlebens nach sich ziehen, das sich etwa aus unterschiedlichen Werten, Einstellungen und Verhaltensweisen ergibt. Diese Probleme dürften umso größer werden, je größer die kulturelle Distanz zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Zuwanderern ausfällt. Um diese kulturelle Distanz zu messen, weist Söllner auf die Arbeiten Paul Colliers hin.
Der zweite Teil ist mit „Deutschland und die Flüchtlingskrise“ überschrieben. Hier arbeitet Söllner zunächst deren Ursachen heraus (4. Kapitel), wobei zwischen exogenen (geographische Lage Europas, Wohlstandsgefälle, Fortschritte in der Informations- und Telekommunikationstechnik, Kriege, Konflikte und Katastrophen) und endogenen Faktoren (kein effektiver Schutz der europäischen Außengrenzen, ein großzügiges Gemeinsames Europäisches Asylsystem) unterschieden wird. Im fünften Kapitel thematisiert Söllner die kurz-, mittel- und langfristigen Konsequenzen der Flüchtlingskrise für Deutschland. Zu den kurzfristigen Folgen zählt er im wesentlichen die Kosten der Flüchtlingsversorgung, die etwa mit 20 bis 25 Mrd. Euro p. a. veranschlagt werden müssen. Zwar führen diese Mehrausgaben zu einem Wachstumsschub des BIP von etwa 1%, allerdings reduziert sich das BIP pro Kopf der Bevölkerung (wegen der Zuwanderung) dadurch um 0,9% (S. 108). Neben diesen Wachstumswirkungen sind Verteilungswirkungen zu erwarten: So profitieren zum einen die Flüchtlinge und zum anderen ergeben sich für manche Branchen (Baubranche) und manche Berufsgruppen wie Grund-/Hauptschullehrer, Sozialarbeiter, einschlägig befaßte Rechtsanwälte positive Effekte (bessere Beschäftigungschancen, höheres Einkommen). Diese Ausgaben müssen gleichwohl wieder kompensiert bzw. finanziert werden, was etwa durch ein Zurückfahren bestimmter öffentlicher Leistungen erfolgt. Mittelfristig sieht Söllner entsprechende Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt: So legt er dar, daß die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt eher langsam und vor allem in den Niedriglohnsektor erfolgt und daß dadurch dieser Personenkreis überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sei und daher staatlicher Unterstützung bedürfe. Eine erfolgte Integration wird zudem im Niedriglohnsektor zu einer verstärkten Konkurrenz mit der dort tätigen einheimischen Bevölkerung führen. Weitere mittelfristige Auswirkungen sieht er im Bildungssystem und auf dem Wohnungsmarkt (und insbesondere bei der Vergabe von Sozialwohnungen). Unter langfristigen Aspekten werden die fiskalischen Wirkungen und die Konsequenzen für das Sozialkapital thematisiert. Abgeschlossen wird der zweite Teil des Buches mit einem Kapitel (6.) über den Umgang des politischen Systems mit den erläuterten Folgen der Zuwanderung. So liegt nach Ansicht Söllners eine „Funktionsstörung“ des politischen Systems dergestalt vor, daß die etablierten Parteien es versäumt haben, auf diesen, großen Teilen der Bevölkerung offenbar sehr wichtigen Problemkomplex angemessen zu reagieren. Nach Söllner läßt sich dieses Verhalten durch Ansätze erklären, die nach seiner Meinung allesamt zutreffen: Erstens haben die Begünstigten der Zuwanderung (Besserverdienende und Kapitaleigner) ein großes Interesse an der Fortsetzung der bisherigen Flüchtlingspolitik. Zweitens kann die „deutsche Politik … von sich aus dieses Problem nicht lösen“ (S. 133). Und drittens mögen moralische Beweggründe eine Rolle spielen.
Im dritten Teil des Buches „Wege aus der Krise“ skizziert Söllner eine rationale Migrations- und Flüchtlingspolitik. Dabei argumentiert er de lege ferenda und wählt die Perspektive des Ziellandes der Einwanderung. Nach seinem Dafürhalten sollte es Ziel der Migrationspolitik sein, hochqualifizierte, gut integrierbare Arbeitskräfte zu gewinnen. Die von Söllner zitierte Bertelsmann-Studie sieht dabei einen Umfang von rund 150.000 Personen aus Nicht-EU-Staaten pro Jahr als erforderlich an, um das erforderliche Erwerbspersonenpotential zu halten. Im Rahmen der Flüchtlingspolitik müsse ausgehend von den Präferenzen der einheimischen Bevölkerung zum einen der Umfang Hilfeleistung und zum anderen die Verteilung des Hilfsfonds auf Vor-Ort-Hilfe und auf Hilfe durch Aufnahme bestimmt werden. Söllner untersetzt diese Zielsetzungen mit entsprechenden Vorschlägen für die operative Ausgestaltung. Dabei trennt er sorgsam zwischen dem, was umgesetzt werden sollte, und dem, was aufgrund der Rahmenbedingungen auch umgesetzt werden kann. Im letzten Kapitel dieses Teils thematisiert er andere Perspektiven. So zeigt er, daß z. B. ein globalökonomischer oder nicht-ökonomische Standpunkte zu gänzlich anderen Handlungsempfehlungen kommen würden.
Würdigung:
Die große Leistung des Buches besteht darin, einen exzellenten und gut verständlichen Überblick über die Flüchtlingskrise und deren Konsequenzen aus ökonomischer Sicht zu geben. Gutgestaltete Graphiken runden die hohe Qualität des Buches ab.
Unabhängig davon, ob man die gewählte und damit freilich normative Perspektive – die Nationalstaatsperspektive – teilt, wird man zur Einsicht kommen müssen, daß Söllner die Ursachen und Konsequenzen der Flüchtlingskrise für das aufnehmende Land bzw. Deutschland sehr gut erläutert. So ist das Buch sehr gut strukturiert, und es wird stets konzise, fundiert und sachlich argumentiert. Aussagen, die aus dem ökonomischen Erklärungsmodell abgeleitet werden, werden zudem mit entsprechenden empirischen Erkenntnissen abgeglichen. Söllners Handlungsempfehlungen sind konsistent und konsequent aus diesen Erkenntnissen abgeleitet, wenngleich man die quantitative Größenordnung der als notwendig betrachteten Zuwanderung durchaus kontrovers diskutieren kann. Gleichwohl kann man, sofern man einen anderen normativen Ausgangspunkt wählt, gänzlich andere Handlungsempfehlungen präferieren, was Söllner ohne Zögern einräumt.
Söllners Buch zeigt auch implizit das Dilemma der Linkspartei und der SPD auf: Während insbesondere deren eigentliche Klientel – die Geringverdiener und Niedrigqualifizierten – unter den Folgen einer derartigen Zuwanderung zu leiden haben, propagieren diese Parteien offene Grenzen.
Söllner, F., System und Chaos. Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik, Wiesbaden 2019: Springer
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