Novartis (2)
Zolgensma, Sovaldi und die Priorisierung von Gesundheitsleistungen

Bild: Pixabay

Novartis hat ein neues Präparat (Zolgensma) entwickelt, das offenbar erfolgreich zur Therapie der Spinalen Muskelatrophie eingesetzt werden kann. In Deutschland ist das Präparat bislang noch nicht zugelassen. Eine Behandlung, dabei handelt es sich um eine einmalige Injektion, die Kleinkindern verabreicht wird, soll mehr als zwei Millionen Dollar kosten. Einen ähnlichen Fall stellte das 2014 eingeführte Medikament Sovaldi der Firma Gilead zur Therapie von Hepatitis C dar, dessen Behandlungskosten sich pro Fall auf etwa 60.000 Euro beliefen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie im System der Gesetzlichen Krankenkassen mit derartigen Fällen umgegangen werden soll.

Das GKV-System selbst weist die folgenden konstituierenden Merkmale auf:

  • Solidaritätsprinzip
  • Sachleistungsprinzip
  • Abdeckung eines umfassenden Gesundheitsschutzes

Das Solidaritätsprinzip äußert sich in beitragsunabhängige Leistungen und der Familienmitversicherung (nicht arbeitende Familienmitglieder sind beim Versicherungspflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen kostenlos mitversichert). Zur Finanzierung werden von den Mitgliedern einkommensabhängige, aber risikounabhängige Beiträge bis zur Höhe der Beitragsbemessungsgrenze erhoben. Jedoch können sich Personen, deren Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze liegt, dem GKV-System entziehen, und privat versichern.

Das Sachleistungsprinzip sieht vor, dass die Versicherten der GKV medizinische Leistungen erhalten, ohne dass sie dafür direkt bezahlen müssen. Vielmehr wird die Honorierung der Leistungserbringer direkt (im stationären Bereich) oder indirekt (im ambulanten Bereich – unter Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigung) durch die Krankenkassen vorgenommen. Allerdings gibt es im deutschen GKV-System Durchbrechungen dieses Prinzips etwa durch Zuzahlungen bei Medikamenten, Hilfsmittel etc. Freilich bleibt das Ausmaß dieser Steuerung meist recht gering.

Das GKV-System bietet einen umfassenden Gesundheitsschutz. So werden nahezu sämtliche Leistungen zur Behandlung von Krankheiten, die unter medizinischen Gesichtspunkten als angemessen erscheinen, durch das System bereitgestellt. Daneben bietet es Leistungen zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten an. Weiterhin gehören zum Leistungsportfolio die Zahlung von Krankengeld, Mutterschaftshilfe und -geld etc.

Das System mit konkurrierenden Krankenkassen finanziert sich gegenwärtig vor allem – wie gerade erwähnt – aus einkommensabhängigen Beiträgen, die von den Mitgliedern als prozentualer Anteil am Arbeitseinkommen erhoben werden. Gegenwärtig (2020) beträgt der Allgemeine Beitragssatz 14,6%. Dazu kommt der Zusatzbeitrag, der sich zwischen den Kassen unterscheidet und zwischen 0% (AOK Sachsen-Anhalt) und 2,2% (BKK Herkules) beträgt. Die Sätze werden hälftig durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer getragen.

Dieses System der solidarischen Mitversicherung weist zahlreiche strukturelle Gestaltungsdefizite (z. B. in Form des desintegrierten Aufbaus stationärer Kapazitäten) und eine verhaltensinduzierte Aufblähung des Leistungsvolumens (etwa durch eine angebotsinduzierte Nachfrage) auf. Zudem stellen der demographische Wandel und der technische Fortschritt erhebliche Herausforderungen für dieses System dar:

So wird geschätzt, dass der Alterslastquotient, also das Verhältnis der 65jährigen und älteren Personen zu den fünfzehn- bis 64jährigen von 32% (2015) auf 59% (2050) ansteigt und sich der Anteil an Einpersonenhaushalten weiterhin erhöht (2016: 41,1% der Haushalte). Beides führt zu zunehmenden Leistungsausgaben in der GKV.

Der technische Fortschritt in der Medizin mündet in einer massiven Ausweitung des Leistungsspektrums. Hier seien die Fortschritte in der Narkosetechnik, der minimalinvasiven Chirurgie und – wie bereits eingangs erwähnt – der Pharmakologie genannt. Dabei dominiert beim technischen Fortschritt der Kostenausweitungseffekt offenbar bei weitem den Kostenspareffekt (Barati & Fariditavana 2019; Exemplarisch sei zudem auf eine ältere Studie von Peden & Freeland hingewiesen, die den technischen Fortschritt in der Medizin für 70% des Ausgabenzuwachses für die medizinische Versorgung zwischen 1960 und 1993 in den USA verantwortlich machen.).

Es gibt neben den Ineffizienzen des Systems gewaltige Kostentreiber, die bei Beibehaltung der jetzigen Ausgestaltung des GKV-Systems zu einem erheblichen Anstieg des Beitragssatzes führen dürften.

Sicherlich wäre es notwendig, Wirtschaftlichkeitsreserven des Systems durch verstärkte wettbewerbliche Elemente zu heben (Stichwort: Ausweitung Kassenwettbewerbs, selektives Kontrahieren). Dennoch werden nicht alle Patienten die evidenz-basiert besten Behandlungsmöglichkeiten aufgrund der Ressourcenknappheit bekommen können. Eine Rationierung kann jedoch nicht die Lösung sein. Diese Lösung würde insbesondere bei lebensbedrohlichen Erkrankungen das Gleichheitsprinzip verletzen und zudem die Leistungserbringer in die Situation bringen, bestimmte Betroffene in vergleichbaren Situationen zu präferieren und damit ihr Berufsethos zu verletzen. Darum besteht die einzige Möglichkeit in einer Priorisierung. Priorisierung bedeutet, dass bestimmte Behandlungsregimes nach bewusst gewählten Kriterien hierarchisiert, also in eine bestimmte Reihenfolge gebracht werden, d. h., bestimmte Behandlungsregimes werden anderen Behandlungsregimes vorgezogen. Hier wird also nicht ein Behandlungsregime rationiert, also nur manchen zugeteilt, obwohl auch andere den gleichen Anspruch hätten, sondern die Priorisierung behandelt alle vergleichbaren Betroffenen gleich, d. h., die Behandlungsmaßnahmen sind für alle gleichen Fälle gleich. Doch nach welchen Kriterien sollte dies geschehen?

Bereits 1995 legte die Swedish Parliamentary Priorities Commission (vgl. Knoepffler & Daumann 2018, 102) eine Liste von Kriterien vor. Ausgehend von der Menschenwürde als zentralem Prinzip betonte die Kommission darüber hinaus die Kriterien von Bedarf (need) und Solidarität: Diejenigen Patienten, die den größten Bedarf haben, sind vorrangig zu behandeln. Dabei sind vulnerable Personen besonders zu berücksichtigen. Erst an dritter Stelle wird auch das Kriterium der Kosteneffizienz benannt. Es geht um ein vernünftiges Verhältnis zwischen den aufgewendeten Kosten und den damit verbundenen Wirkungen, d. h. eine Verbesserung des Gesundheitszustands bzw. eine Verbesserung der Lebensqualität. Dabei sollte dieses Prinzip nur im Rahmen der vertikalen Priorisierung zur Anwendung kommen, da die Wirkungen bei unterschiedlichen Krankheiten nicht sinnvoll miteinander verglichen werden könnten. Allerdings wird klargemacht, dass lebensbedrohliche Krankheiten prioritär gegenüber allen übrigen Erkrankungen sind.

Auch die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) hat in ihrer Stellungnahme 2007 „Kriterien der Prioritätensetzung“ Empfehlungen ausgesprochen (vgl. Knoepffler & Daumann 2018, 102f). Dabei werden die drei „schwedischen“ Prinzipien von Menschenwürde, Bedarf und Solidarität praktisch wortgleich als inhaltliche Kriterien für eine gerechte Priorisierung zugrunde gelegt. Ihnen werden formale Kriterien an die Seite gestellt: Transparenz, nachvollziehbare Begründung, Evidenzbasierung, Konsistenz, also Ernstnehmen des Gleichheitsgebots, Festlegung von Priorisierungsentscheidungen und deren Regulierungen durch legitimierte Institutionen, Offenlegung und Ausgleich von Interessenkonflikten, wirksamer Rechtsschutz für Patienten, denen Leistungen verwehrt werden. Vor diesem Hintergrund entwickelt die ZEKO ein Stufenmodell einer zulässigen Priorisierung: An erster Stelle stünden der Lebensschutz, der Schutz vor schwerem Leid und schweren Schmerzen. Hier sei eine Priorisierung nicht mehr sinnvoll. Auf der zweiten Stufe gehe es um den Schutz vor dem Ausfall bzw. der Beeinträchtigung wesentlicher Organe und Körperfunktionen. Auch hier fordert die ZEKO die vorrangige Verwendung von Mitteln selbst bei Ressourcenknappheit. In beiden Fällen gelte strikt das Gleichheits- und damit verbunden das Nicht-Diskriminierungsgebot. Eine Rationierung ist auf diesen beiden Stufen ausgeschlossen. Es sind also diese Erkrankungen, für die das Solidarprinzip ausnahmslos gelten sollte.

Eine derartige Priorisierung sollte explizit vorgenommen werden, d.h. anhand dieser Kriterien müsste aufgewiesen werden, welche Behandlungsregimes von der Leistungsinanspruchnahme ausgeschlossen werden. Auf diese Weise bleiben die Versicherten gleichgestellt.

Quellen

Barati, M. & Fariditavana, H. (2019), Technology progress and rising healthcare expenditure in the U.S., Applied Economics Letters, Published online: 24 Jun 2019: https://doi.org/10.1080/13504851.2019.1631434.

Knoepffler, N. & Daumann, F., Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2. Aufl., Freiburg/München 2018.

Peden, E. A. & Freeland, M. S. (1998), Insurance effects on US medical spending (1960-1993), in: Health Economics, Vol. 7, pp. 671-687.

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