In diesem Beitrag wird das Konzept des „robusten Staats“ skizziert (siehe ausführlicher Gleißner, 2020) und diskutiert, inwieweit Deutschland sich in der Corona-Krise als robuster Staat erwiesen hat.
1 Das Konzept des robusten Staats
Die Gesamtheit der Lebensrisiken der Menschen ist global seit über 100 Jahren stetig gesunken, wie die steigende Lebenserwartung belegt. Aber es bleiben gravierende Risiken, denen ein Einzelner wenig entgegen setzen kann. Die Zielsetzung einer „robusten Institution“, z.B. Staat oder Unternehmen, besteht darin, die eigenen Fähigkeiten und Strukturen so auszurichten, dass sie in einer möglichst großen Anzahl risikobedingt möglicher Zukunftsszenarien zumindest überlebt[1] – und möglichst ambitioniertere Sicherheitsziele erreichen kann. Risikobewältigung und Krisenprävention zielen dabei nicht primär auf Einzelrisiken, sondern den Aufbau von Fähigkeiten und Strukturen, mit möglichst umfassender Wirksamkeit gegen eine möglichst breite Klasse von Risikofeldern.
Das Spektrum solcher Krisen mit erheblichen makroökonomischen Auswirkungen und potenziell katastrophalen Folgen ist dabei vielfältig: Es reicht von Inflationskrisen über Staatsschulden- und Währungskrisen und Kriegen bis hin zu schweren Naturkatastrophen[2] und sogenannten Versorgungskrisen, die eine Einschränkung der Produktionsmöglichkeiten darstellen. Zur Gruppe der Versorgungskrisen gehört die Ölkrise der 1970er Jahre ebenso wie die aktuelle Corona-Pandemie 2020, deren Bewältigung zu Produktionsausfällen führt (Shutdown).
2 Die Prinzipien und Leitlinien für einen „robusten Staat“
Nachfolgend skizziert werden die grundlegenden Prinzipien für einen „robusten Staat“, der in der Lage ist seine Bürger und Unternehmen gegen ein breites Spektrum zukünftig denkbarer Risiken adäquat abzusichern. Ein solcher Staat weist eine hohe Resilienz auf.
1. Ökonomische Stärke und Attraktivität des Staats für Unternehmen und Menschen
Eine große Leistungsfähigkeit der Wirtschaft ist die wichtigste Basis für einen robusten Staat, da die Wirtschaft die Wertschöpfung generiert, die der Staat, z.B. für Krisenprävention, nutzen kann. Voraussetzung für diese ist, dass der Staat gesicherte Rahmenbedingungen anbietet, die ihn attraktiv machen für Unternehmen und auch hoch qualifizierte Menschen. Diese Voraussetzungen erfüllt eine marktwirtschaftlich-kapitalistische Wirtschaftsordnung mit klaren Anreizen für wirtschaftliches Handeln und einer Koordination bevorzugt über Märkte – wie die empirische Evidenz seit Jahrzehnten belegt. Zentrale Elemente sind z.B. gesicherte Eigentumsrechte, Gewerbe- und Vertragsfreiheit, freier Wettbewerb[3], gut ausgebildete Einwohner sowie die Förderung von Innovationen und technischem Fortschritt, der Wirtschaftswachstum und steigende Lebenserwartung ermöglicht.[4]
2. Reduzierung vermeidbarer kritischer Abhängigkeiten
Krisen entstehen oft, weil für den normalen Alltag essentielle Faktoren (Güter, Ressourcen etc.) ganz oder teilweise wegfallen, also kritische Abhängigkeiten bestehen (z.B. von Strom, Internet, Regen etc.). Besonders zu beachten sind Abhängigkeiten von Produkten, die im Ausland hergestellt werden. Globale und nationale Arbeitsteilung ist wohlstandssteigernd. Abhängigkeiten, die dadurch entstehen, sollten jedoch systematisch analysiert und – wo möglich – reduziert. Kritisch ist insbesondere eine Abhängigkeit, wenn diese zu größeren Risiken führt, weil für die eigene Wirtschaft und die Bürger wesentliche Güter von nur einem oder sehr wenigen, nicht substituierbaren Anbietern bereitgestellt werden (z.B. ein einziges Werk für einen Arzneimittelwirkstoff in einem Land wie China). Kritische Abhängigkeiten können dabei nicht nur im Bereich Ernährung (Landwirtschaft) und Energieversorgung entstehen, sondern bei einer Vielzahl weiterer materieller Güter (von Öl und Gas über Kupfer, Lithium und Neodym bis hin zu Phosphaten und Antibiotika).
Bedrohung durch kritische Abhängigkeiten sind vielfältig und gehen vom Handelsembargo eines Lieferanten, über Cyber-Attacken bis hin zur materiellen Zerstörung der für die Energieversorgung wichtigen Infrastruktur (z.B. Wasserwerke, Kraftwerke oder Teilen des Hochspannungsübertragungsnetzes).
Auch finanzielle Abhängigkeiten sind hier zu betrachten, z.B. von ausländischen Mehrheitsaktionären in Schlüsselunternehmen Kreditgebern oder einer „fremden“ Währung. Ein großer Vorteil für ein Land besteht darin, wenn es in der Lage ist sich in seiner eigenen, von ihm alleine kontrollierten Währung zu verschulden, und auch ausländische Investoren diese Währung akzeptieren (was heute für die USA zutrifft).
3. Bereitstellen universell einsetzbarer Ressourcen der Krisenbewältigung
Möglichst flexibel und universell einsetzbare Ressourcen, d.h. Personen und zugehöriges Material, sind geeignet eine Vielzahl im Einzelnen z.T. nicht einmal vorhersehbarer Risiken und daraus resultierende Krisen besser zu bewältigen. Ein Beispiel für solche Ressourcen sind die Streitkräfte eines Landes. Sie dienen nicht nur der Landesverteidigung. Die Streitkräfte haben darüber hinaus bei vielen Krisen wichtige Transportkapazität, medizinische Einrichtungen, Ersatzteile und Vorräte, technische Instandhaltungskapazität und personelle Ressourcen, um z.B. bei Naturkatastrophen aushelfen zu können.
4. Aufbau von Ressourcenreserven und Redundanzen
Da der Bedarf an vielen Ressourcen in der Krise zunimmt, sind angemessene „Mobilisierungsreserven“ sinnvoll (inklusive Personal).
Die redundante Auslegung kritischer Ressourcen und Systeme ist ergänzend geeignet, um dem möglichen Ausfall eines Systems zu begegnen (was auch der Reduzierung kritischer Abhängigkeiten dient, siehe 2.).
5. Ausreichende Vorräte an wichtigen Gütern
Der Bedarf an manchen wichtigen Gütern steigt in einer Krise massiv an und zugleich kann das Angebot sinken. Vorräte schaffen Zeit, um bei einem Versorgungsengpass eine alternative Versorgungsquelle zu finden oder ausgefallene Produktionskapazitäten wieder zu errichten.
6. Hohe finanzielle Flexibilität und Bonität
Der Einsatz von Ressourcen, Gütern und Geld in einer Krise, z.B. die Beschaffung notwendiger Güter, die wirtschaftliche Stabilisierung von Banken oder anderen Unternehmen und die wirtschaftliche Absicherung von Bürgern[5] erfordert Finanzmittel, die die laufenden Steuereinnahmen meist weit überschreiten. Um diese in einer Krise aufbringen zu können, ist ein adäquater finanzieller Spielraum erforderlich. Die Verschuldung des Staates sollte ein kritisches Level bezogen auf das Volkseinkommen nicht überschreiten. Das Rating eines Unternehmens ist ein Maß für diese „finanzielle Robustheit“.
7. Aufbau von Brandmauern
Ein robuster Staat muss in der Lage sein, seine Außengrenze – auch an Flughäfen – gegenüber unwillkommenen, unbefugten eindringenden Personen zu schützen. Bei manchen Krisen ist es zudem notwendig, auch im Inneren des Staates „Brandmauern“ errichten und sichern zu können, um z.B. bei Epidemien bestimmte bereits infizierte Regionen „isolieren“ zu können.
8. Robuste Rechtsordnung und Krisen-Governance
Krisen sind Situationen, in denen unter hohem Zeitdruck und mit unvollständigen Informationen schnell über oft harte Maßnahmen entschieden werden muss. In einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat ist es hier erforderlich, vor einer Krise präzise zu regeln, wie in einer Krisensituation eine Konzentration von Entscheidungsbefugnis, mit einer Reduzierung von Abstimmungsschleifen, vonstattengeht. Ein robuster Staat muss die Verfassung so formulieren, dass ein Machtmissbrauch durch Einzelne oder Gruppen oder gar eine Umwandlung in eine Diktatur möglichst unwahrscheinlich ist.[6]
9. Stabile Bündnisse und Partnerschaft
Kooperation und Bündnisse mit anderen Staaten, auf die man sich in einer Krise (weitgehend) verlassen kann, helfen potenziell die Robustheit zu verbessern. Die Wirksamkeit solcher Partnerschaften ist hoch, wenn nicht all Partnerstaaten von einer Krise gleichzeitig betroffen sind.
Während einer gravierenden Krisensituation kann aber nicht einfach davon ausgegangen werden, dass sich andere relevante Institutionen, speziell andere Staaten, so verhalten würden, als gäbe es keine Krise.
10. Vermeidung größerer Bürgschaften und Haftungsverbunde
Die Zusammenarbeit zwischen Staaten, speziell Staatenbündnisse, sind vorteilhaft für die Robustheit (vgl. 9.) – sofern sie auch in einer Krise als belastbar angesehen werden. Die Robustheit eines Staates leidet jedoch, wenn hierdurch kritische Abhängigkeiten entstehen, insbesondere durch Risiko- oder Haftungsverbunde. Entsprechend sollte die Haftung für Schulden Dritter, insbesondere anderer Staaten oder deren Institutionen (wie Kreditinstitute), ebenso wie die Haftung für gemeinsame Schulden vermieden werden. Insbesondere Schulden- und Finanzmarktkrisen anderer Staaten werden sonst leicht zu einem Problem für das eigene Land. Aus der politischen Ökonomie ist zudem bekannt, dass die Bereitschaft eines Schuldners seine Schulden zu erhöhen, zunimmt, wenn dieser davon ausgehen kann, dass ein Dritter diese zumindest teilweise übernimmt und dafür haftet („Moral Hazard“).
11. Krisenvorbereitung durch Risikoanalysen, Krisenpläne und Krisenübungen
Die Risikolage eines Staates und seiner Bürger ist komplex und ändert sich zudem im Zeitverlauf. Notwendig ist eine fundierte strukturierte, und priorisierte (quantitative), nationale Risikoanalyse[7] und eine darauf aufbauende Risikobewältigungsstrategie mit Krisenplänen.
12. Flexibilität und adäquate Krisenkommunikation
Hohe Flexibilität ist in einer Krise vorteilhaft, weil Krisen eine hohe Dynamik und unvorhergesehen Entwicklungen aufweisen werden. Es bedeutet auch, dass Vorschriften, wie z.B. Arbeitszeitregelungen oder Sicherheitsstandards temporär aufgehoben oder zumindest modifiziert werden können.
3 Wie „robust“ hat sich Deutschland in der Corona-Krise gezeigt?
Auch wenn Deutschland mit manchen Eindämmungsmaßnahmen recht spät begonnen hat, waren die initiierten Maßnahmen, wie der partielle Shutdown der Wirtschaft verknüpft mit großzügigem Kurzarbeitergeld und finanzielle Unterstützung der Unternehmen, ökonomisch sinnvoll. Dennoch hat sich der Staat insgesamt nicht durchweg als „robust“ herausgestellt.
Als erstes Manko ist festzuhalten, dass eine umfassende „nationale Risikoanalyse“ mit einem darauf aufbauenden Krisenpräventions- und Bewältigungskonzept nicht existiert. Selbst eine vorhandene Studie über die gravierende Bedrohung durch eine Pandemie wurde ignoriert. Eine Studie aus 2012 für die Bundesregierung hat gezeigt, welche katastrophalen Auswirkungen eine Corona-Epidemie haben könnte (Bundesdrucksacke, 17/12051). Wegen der in der Studie angenommenen höheren Letalität des Virus prognostizierte die Studie 7,5 Millionen Tote in Deutschland oder unter Beachtung der angenommenen Wahrscheinlichkeit von 0,1% bis 1% ca. 37.000 Todesopfer im Durchschnitt pro Jahr. Die Bundesregierung hat darauf quasi nicht reagiert und selbst simple und kostengünstige Absicherungsmaßnahmen, wie die Bereitstellung von Atemschutz, wurden nicht durchgeführt.
An sich leicht vermeidbare kritische Abhängigkeiten wurden ignoriert (und erst in der Krise über eine „Notproduktionskapazität“ diskutiert). Universell nutzbare Ressourcen des Krisen- und Katastrophenmanagements, inklusive derjenigen bei den Streitkräften, wurden seit über 30 Jahren abgebaut (wenngleich das Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen Ländern noch über vergleichsweise hohe Reserven verfügt).
Der Abbau der Verschuldung des Staates in den letzten Jahren und die hohe Bonität ermöglichen es aber die in einer Krisensituation notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen. Die zweifelsohne weiterhin leistungsfähige deutsche Wirtschaft, die ein adäquates Investment in die Verbesserung der Robustheit des Staates ermöglicht, ist sicherlich ein weiterer Pluspunkt, allerdings sind diverse „Reformstaus“ in den letzten Jahren erkennbar.
Auch während der Krise wurde (bisher) keine „echte“ quantitative Risikoanalyse erstellt, die realistische Bandbreiten der Entwicklung von Infizierten-Zahl bis BIP-Entwicklung aufzeigt, so dass eine unnötig hohe Unsicherheit auch über die zukünftigen Maßnahmen des Staates besteht. Die Mängel in der Risikoanalyse lassen sogar befürchten, dass durch die Krise manche Risiken Deutschlands erhöht werden könnten (z.B. bei Übernahme von Risiken aus Staatsschulden anderer EU-Länder).
4 Fazit und Implikationen
Leider muss man erkennen, dass zu wenig getan wurde. Die politische Ökonomie (Public Choice) zeigt, dass Maßnahmen zur Steigerung der Robustheit eines Staates in einer Demokratie nicht unbedingt mehr Wählerstimmen bringen. Viele bedeutende Risiken sowie potenzielle Krisen und Katastrophen, die Anfälligkeit kritischer Infrastruktur oder Pandemien, werden systematisch unterschätzt. Wie oben gezeigt, hat die Corona-Krise gravierende Defizite Deutschlands bei einigen der in diesem Beitrag erläuterten Kriterien aufgedeckt. Es ist „Glück im Unglück“, dass die Krisenauswirkung – die Letalität des Virus – am unteren Rand der Erwartungen liegt.
Man kann die aktuelle Corona-Krise als Chance auffassen, aus dieser Erfahrung zu lernen und die Robustheit des Staates danach konsequent zu verbessern. Die hier skizzierten Prinzipien zeigen, was zur Verbesserung der Robustheit eines Staates – auf dem Weg zum Angebot einer adäquaten Sicherheit für seine Bürger – zu durchdenken ist. Notwendig ist dafür zunächst eine „nationale Risikoanalyse“, die die verschiedenen an sich bekannten „Extremrisiken“, denen Deutschland weiterhin ausgesetzt ist, quantitativ beurteilt.
Literatur
Blum, U. (2020): Wirtschaftskrieg – Rivalität ökonomisch zu Ende denken, Springer Gabler, Wiesbaden 2020
Diamond, J. (2006): Kollaps – Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, 8. Aufl., Fischer, Frankfurt/Main 2006
Eucken, W. (1952): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, UTB, Stuttgart 1952
Gleißner, W. (2017): Grundlagen des Risikomanagements, 3. Auflage, Verlag Franz Vahlen, München 2017
Gleißner, W. (2018): Risiko, Volkswirtschaft und Wohlstand, in: Growitsch, C. / Loose, S. / Wehrspohn, R. B. (Hrsg.): Beiträge zu Wirtschaftspolitik und -forschung – Festschrift anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Blum, Center for Economics of Materials CEM, Halle (Saale) 2018, S. 55 – 68
Gleißner, W. (2020): Wie riskant ist die Welt? Zur Risikolage der Wirtschaft, der Menschen und der Menschheit, 2020, Veröffentlichung in Kürze (Präsentation aus Vortrag bei Risk Management Association e.V., 2019: http://www.futurevalue.de/download/RMA-Jako-2019_Gleissner_Kurzversion2.pdf)
Renn, O. (2014): Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2014
Rosling, H. (2018): Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, Ullstein, Berlin 2018
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[1] Siehe zur Ursache für einen Staatskollaps auch Diamond (2006).
[2] Meist Erdbeben.
[3] Vgl. weiterführend die Prinzipien von Eucken (1952).
[4] Auf eventuelle ökologische Schäden, z.B. durch Umweltverschmutzung und CO2-Emission, sowie z.T. diskutierte, aber nicht zwingend relevante Wachstumsgrenzen sei nur hingewiesen.
[5] Durch Kurzarbeitsgeld oder Sozialhilfeleistungen.
[6] Das breite Themenfeld kann hier nur angerissen werden. Es sei auf die Notwendigkeit einer „wehrhaften Demokratie“ verwiesen.
[7] Unter Beachtung der komplexen Beziehungs- und Wirkungsnetze.