Gastbeitrag
Das Ende des „kapitalistischen Friedens“
Was Europa jetzt tun sollte

Die Idee des „kapitalistischen Friedens” basiert auf der Annahme, dass offene Märkte, Rechtssicherheit und eine marktwirtschaftliche Ordnung gewaltsame Konflikte weniger wahrscheinlich machen. Wirtschaftliche Verflechtung erhöht die Opportunitätskosten von Gewalt, schafft institutionelle Kanäle zur Konfliktlösung und stärkt das Vertrauen zwischen Staaten. Dieses Konzept steht in enger Beziehung zum Gedanken des liberalen Friedens, unterscheidet sich jedoch durch seinen ökonomischen Fokus: Nicht die politische Gleichartigkeit, sondern die Funktionslogik marktwirtschaftlicher Systeme gilt als zentraler Stabilitätsfaktor. Empirische und theoretische Arbeiten belegen, dass Marktwirtschaften untereinander seltener Krieg miteinander führen, da Handel Wohlstand schafft, Mobilität diszipliniert und institutionelle Verfahren Gewalt ersetzen.

Die Wurzeln des kapitalistischen Friedens reichen weit zurück. Schon Montesquieu betonte, dass Handel zerstörerische Vorurteile heile und die Sitten mildere. Adam Smith sah in Manufakturen und freiem Handel Quellen von Ordnung, gutem Regieren und individueller Sicherheit. Und Kant formulierte, dass der „Handelsgeist“ nicht mit dem Krieg koexistieren könne. Diese Denktradition bildete im 20. Jahrhundert die Grundlage für den Multilateralismus und die regelbasierte Handelsordnung. Das GATT und später die WTO institutionalisierten Prinzipien wie Meistbegünstigung, Reziprozität und sanktionsgestützte Streitbeilegung. Damit sollten strukturelle Machtvorteile großer Länder neutralisiert werden, so dass sie sich so verhalten, als wären sie kleine Länder.

Diese regelbasierte Ordnung ermöglichte eine beispiellose Phase globalen Wachstums. Sinkende Transportkosten, reduzierte Zölle und institutionelle Berechenbarkeit förderten Handel und Investitionen. Doch die Finanzkrise von 2008 markierte einen ersten Wendepunkt. Die seither zu beobachtende „Slobalization“ spiegelte zunächst eine stagnierende internationale Integration wider, der globale Handel wächst mittlerweile kaum noch. Außenhandelsungleichgewichte und die negativen Auswirkungen der raschen Integration, wie Arbeitsplatzverluste oder regionale Ungleichgewichte, werden politisch stärker wahrgenommen. In den USA führte der erste „China-Schock“ nach dem WTO-Beitritt Chinas im Jahr 2001 zu deutlichen Anpassungskosten in industriellen Kernregionen. Dies verstärkte die innenpolitische Polarisierung und handelsskeptische Strömungen. Heute erleben Europa und insbesondere Deutschland einen zweiten „China-Schock“: China produziert – oft stark subventioniert – zunehmend höherwertige Güter und verdrängt europäische Anbieter, sogar in technologieintensiven Branchen. Rückläufige Exporte und eine sinkende Industrieproduktion illustrieren diese Entwicklung.

Parallel dazu verfestigt sich ein Nullsummendenken. Die Vorstellung, dass wirtschaftliche Gewinne der einen Seite zwangsläufig Verluste der anderen bedingen, verdrängt die klassische Win-Win-Logik des Freihandels. In den USA spiegelt sich dies in der Rhetorik beider Parteien wider. Sowohl Donald Trumps Zollpolitik als auch die industriepolitischen Programme der Biden-Regierung – etwa der Inflation Reduction Act – folgen der Logik, durch handelspolitische Eingriffe innenpolitische Vorteile zu erzielen. Handel wird damit explizit zum Instrument der Machtprojektion. Das multilaterale Regelwerk wird dabei gezielt umgangen oder geschwächt. Die USA nutzen gezielt bilaterale Verhandlungen, um ihre ökonomische und sicherheitspolitische Überlegenheit strategisch auszuspielen. Mit dem sogenannten Liberation Day Act und darauf aufbauenden Maßnahmen sollen Wertschöpfungsketten in Richtung USA umgeleitet und Abhängigkeiten reduziert werden.

Die traditionelle Welthandelsordnung verliert im Ergebnis ihre bindende Kraft. Regeln wirken nur, wenn sie verteidigt und durchgesetzt werden können. Die ökonomische Handlungsfähigkeit Europas ist daher unmittelbar mit seiner sicherheitspolitischen Ausstattung verknüpft. Solange die EU in hohem Maße von der Sicherheitsgarantie der USA abhängig bleibt, muss sie Zugeständnisse in Kauf nehmen. Für Deutschland und Europa ergibt sich daraus ein klarer Handlungsauftrag. Erstens muss eigenständige Verteidigungsfähigkeit als Voraussetzung für Offenheit verstanden werden. Der Aufbau gemeinsamer EU-Verteidigungs- und Fähigkeitsstrukturen, eine koordinierte militärische Beschaffungspolitik und eine realistische strategische Planung sind in der neuen geoökonomischen Situation Grundlage für Handel und Wertschöpfung. Zweitens gilt es, die regelbasierte Handelspolitik zu verteidigen und zu modernisieren. Dazu gehört die Wiederherstellung einer funktionsfähigen WTO-Streitbeilegung und der Abschluss von Handelsabkommen mit wichtigen Partnerländern. Drittens sollte Europa seine strategische Resilienz stärken, indem es Lieferketten diversifiziert, die Forschung zu Rohstoff- und Technologiealternativen fördert und bei kritischen Gütern eigenständige Produktionskapazitäten aufbaut.

Ein „kapitalistischer Frieden“ wird – zumindest vorerst – nicht zurückkehren. Deutschland und die EU sollten daher zügig eine angebotsorientierte Reformagenda umsetzen. Denn Produktivität, Infrastruktur, Energieversorgung, Kapitalmarktintegration und Humankapital sind zentrale Stellschrauben nicht nur für Wohlstand, sondern auch für außenpolitisches Gewicht. Wirtschaftliche Stärke bleibt die Voraussetzung für sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig muss eine politische Kommunikation entwickelt werden, die Offenheit und Stabilität wieder positiv verbindet und den weitverbreiteten Nullsummen-Narrativen entgegenwirkt.

Hinweis: Dieser Policy Brief entstand auf Grundlage des ECONWATCH-Meetings „Kapitalistischer Frieden und ökonomische Machtpolitik“ mit Prof. Dr. Tim Krieger (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg).

Podcasts zum Thema:

Niedergang der Welthandelsorganisation. Ist Donald Trump ein Brandbeschleuniger?Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Dr. Rolf Langhammer (IfW)

Donald Trump läuft handelspolitisch Amok. Wann hat der Spuk ein Ende? Prof. Dr. Norbert Berthold (JMU) im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Frenkel (WHI)

Blog-Beiträge zum Thema:

Norbert Berthold (JMU, 2025): Der Fall der WTO. Sind liberale Welthandelsordnungen inhärent instabil?

Norbert Berthold (JMU, 2025): Der amerikanische Don Quijote. Zölle, Ölflecken, Interventionsspiralen

Henning Klodt (IfW, 2025): Donald Trump. Töter oder Totengräber der globalen Weltordnung?

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