Quo vadis Sachverständigenrat?

Der Sachverständigenrat ist in den Schlagzeilen, weil ein interner Streit öffentlich ausgetragen wird. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs.

Die Weisen des Sachverständigenrates (SVR) sind einmal mehr in den Schlagzeilen. Diesmal geht es um einen internen Zoff zwischen Veronika Grimm und dem Rest des Rates. Frau Grimm soll zurücktreten, wenn sie nicht bereit ist auf die Wahrnehmung eines Aufsichtsratsmandates bei Siemens Energy zu verzichten. Ob Mitglieder des Rates ein solches Mandat wahrnehmen dürfen ist nicht die Frage – natürlich dürfen sie. Aber sollen sie auch? In diesem Beitrag geht es nicht um diese Frage und auch nicht um den Verdacht, dass die lieben Kollegen und Kolleginnen die Sache nur als Vorwand benutzen, um Veronika Grimm los zu werden, weil die zu häufig aus der Reihe tanzt. Vielmehr geht es um die Entwicklung, die der Rat in den letzten Jahren genommen hat und um die Frage, ob Politikberatung durch Sachverständigenräte, die wie der SVR funktionieren, eigentlich sinnvoll organisiert ist.

Um die Entwicklung des Rates beurteilen zu können, muss man die Jahresgutachten heranziehen. Das ist mit einigem Aufwand verbunden, denn diese Gutachten umfassen zwischen 400 und 500 eng bedruckte Seiten. Der Autor dieser Zeilen kann für sich in Anspruch nehmen, einer der wenigen Ökonomen in Deutschland zu sein, der alle Gutachten der letzten acht Jahre komplett gelesen hat. Der Grund dafür ist, dass ich in diesen Jahren jeweils im Sommersemester ein Seminar zum letzten SVR Gutachten veranstaltet habe, in dem das gesamte Gutachten besprochen wurde. Die Seminaristen mussten das komplette Werk lesen (das wurde überprüft), und damit natürlich auch der Seminarleiter. Wie man sich vorstellen kann, waren es intensive Seminare mit wenigen Teilnehmern. Die meisten Studierenden waren der Ansicht, dass das viel zu viel Aufwand für 5 Kreditpunkte sei. Aber die, die teilnahmen, haben immer wieder bestätigt, dass sie viel gelernt haben und sehr von dem Seminar profitierten. Im kommenden Sommersemester werde ich das SVR Seminar nicht mehr anbieten. Der Grund ist, dass das zuletzt besprochene Gutachten 2022/23 von derartig schlechter Qualität war, dass ich große Mühe hatte, den Seminarteilnehmern anhand dieses Gutachtens gute Ökonomik beizubringen. Das ist natürlich eine sehr provokante Behauptung und deshalb will ich versuchen, sie mit einigen Beispielen zu belegen.

Sehr häufig führen die Analysen des Rates zu Aussagen, die bestenfalls oberflächlich sind, häufig Selbstverständlichkeiten kompliziert wiedergeben und des Öfteren mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. So wird man auf Seite 213 darüber informiert, dass das Wort „Rohöl (…) den noch unbehandelten Energieträger Erdöl (bezeichnet).“ Damit wird das Kapitel eingeleitet, das sich mit der Energiekrise befasst. Es folgen dann Ausführungen dazu, wie ein Restrukturierung der Industrie möglich ist, um von Gaslieferungen unabhängiger zu werden. Wer allerdings eine umfassende Analyse mit klaren Aussagen zu den bestehenden Optionen erwartet, wird enttäuscht. Es bleibt bei allgemeinen Aussagen (232-234). Beispielsweise, wenn es um die Flexibilisierung der Stromnachfrage geht, wird darauf hingewiesen, dass es dazu „Transparenz bei der Preisgestaltung und Planungssicherheit“ bedarf. Welche Auswirkungen eine solche Strategie auf die Kosten, die Produktivität, die Wettbewerbsfähigkeit oder gar die Wohlfahrt hat, wird nicht erörtert. Dafür führt eine relativ aufwendige Simulation des Rates zur Strompreisentwicklung zu der Erkenntnis „…, dass eine Erhöhung der Strompreise die Unternehmen im Verarbeitenden Gewerbe stark belastet.“ (S. 254). Nicht falsch, aber braucht man den SVR, um das zu erkennen? Wenn es um die Umstellung auf Wasserstoff geht, belässt es der Rat dabei, die voraussichtliche Nachfrage der Grundstoffindustrie zu kalkulieren. Die Angebotsseite wird nicht betrachtet. Dabei ist die Frage, woher der Wasserstoff kommen soll, in welchen Mengen er verfügbar ist und zu welchem Preis von absolut zentraler Bedeutung. Auch wenn man diese Fragen heute nicht exakt beantworten kann, sollt man sie dennoch wenigstens stellen, auf ihre hohe Bedeutung hinweisen und auf die Antworten, zu denen man heute schon fähig ist, ebenfalls. Was die Zukunft der Energieversorgung Deutschlands angeht, kommt der Rat zu eindeutigen Empfehlungen. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist der einzige Weg, der diskutiert wird. Allerdings ohne dabei die neuralgischen Punkte auch nur zu erwähnen. Weder wird die Notwendigkeit angesprochen, Massenspeicher für elektrische Energie zu bauen, noch werden die externen Effekte angesprochen, die mit einem massiven Ausbau der Windkraft an Land verbunden wären. Beim Thema „Klimapolitische Unterstützung“ wird ebenfalls der Ausbau erneuerbarer Energien als Allheilmittel angesehen und es werden Carbon Contracts for Differences empfohlen – also genau das Instrument, das der Wissenschaftliche Beirat beim BMWK erst vor kurzem völlig zu Recht als unbrauchbar gekennzeichnet hat.

Wirklich erstaunlich ist, was bei all dem nicht im Gutachten steht. Überlegungen zur allokativen Effizienz oder zur Kosteneffizienz im Klimaschutz finden nicht statt, der Emissionshandel (immerhin das zentrale europäische Instrument der Klimapolitik) wird ebenfalls nicht erwähnt und die Wechselwirkung zwischen ETS und dem EEG schon gar nicht. Wasserbetteffekt? Doppelregulierung? Alles Fehlanzeige. Das sind nur einzelne Beispiele. Zusammenfassend kann man sagen, dass beim Lesen des Gutachtens der Eindruck entsteht, dass dem SVR das ordnungspolitische Leitbild komplett verloren gegangen ist. Es wurde durch ad hoc Analysen ersetzt, die mehr oder weniger ohne inneren Zusammenhang aneinandergereiht wurden. Natürlich ist nicht alles schlecht an dem Gutachten, aber insgesamt ist die Qualität noch einmal deutlich geringer als in den beiden Jahren davor – in denen die Gutachten bereits einen deutlich spürbaren Qualitätsverlust aufwiesen.

Wie konnte es dazu kommen? Ursprünglich war der SVR als ein neutrales Expertengremium geplant, das die Regierung bei der Einschätzung der gesamtwirtschaftlichen Lage beraten sollte. So ganz hat man der Neutralität der Wissenschaftler aber dann doch nicht getraut. Deshalb bekamen die Gewerkschaften und die Arbeitgeber jeweils das Recht, ein Ratsmitglied zu benennen. Wie wenig einschränkend diese Regel lange Zeit war, kann man daran erkennen, dass mit Wolfgang Franz ein Mitglied zunächst von den Gewerkschaften berufen wurde und später auf dem Ticket der Arbeitgeber in den Rat einzog. Im Vordergrund stand bei den Berufungen die fachliche Ausrichtung und die wissenschaftliche Expertise. Im Ergebnis hat dies zu qualitativ hochwertigen Gutachten geführt, die aber aus Sicht der Politik eher ein Ärgernis als eine willkommene Beratung waren, weil sie meist in einem starken Widerspruch zur tätigen Wirtschaftspolitik standen. Eine Ausnahme bildete die Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer. Wolfgang Franz hat das einmal in folgenden Bonmot zusammengefasst: „Warum heißt die Agenda 2010? Weil der Sachverständigenrat 20 Vorschläge gemacht hat, davon hat Schröder 10 genommen.“ Da ist etwas daran. Anfang der 2000er Jahre war Deutschland von einer extremen Arbeitslosigkeit geplagt und der Rat hat tatsächlich 20 Vorschläge zur Verbesserung der Lage erarbeitet. In die Harz-Reformen sind einige davon eingeflossen. Der SVR ist also keineswegs immer ohne Einfluss gewesen.

In den letzten Jahren ist die Auswahl der Mitglieder zunehmend politisiert worden. Die Anzeichen dafür sind eindeutig. Nach dem Ausscheiden von langjährigen Mitgliedern wie Christoph Schmidt, Lars Feld, Peter Bofinger und zuletzt Volker Wieland blieben Stellen ungewöhnlich lange vakant. Es fiel der Politik immer schwerer, sich darauf zu verständigen, wie die entstandenen Lücken zu schließen sind. Es gab – so wurde kolportiert – erhebliche Konflikte zwischen den Parteien über die Berufung neuer Mitglieder. Nicht zu übersehen ist auch, dass die Geschlechterverteilung eine wesentliche Rolle bei den Berufungen der letzten Jahre gespielt hat. Dass inzwischen die Mehrheit des Rates weiblich ist, ist kein Zufall, sondern entspricht dem politischen Wunsch. Der immer stärker werdende Einfluss der Politik auf die Zusammensetzung des Rates hat – so ist mein Eindruck nach der Lektüre der Gutachten – dem SVR nicht gut getan. Der gegenwärtige Streit um Frau Grimm deutet darauf hin, dass es auch im zwischenmenschlichen Bereich Probleme geben könnte – aber das ist natürlich eine Spekulation.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob das deutsche Modell, eines (scheinbar) unabhängigen Beratergremiums, das von der Politik berufen wird, wirklich eine gute Form der Organisation der Politikberatung ist. Neutralität ist nicht wirklich erreichbar, wenn es politischen Streit darum gibt, wer in den Rat darf und wer nicht. Welche Alternativen gibt es? Da wäre das amerikanische Modell, dass von vorne herein auf Neutralität pfeift und dem jeweiligen Präsidenten das Recht gibt, sich seinen eigenen „Council of Economic Advisers“ zusammenzustellen. Dahinter steht die Erwartung, dass es im Interesse jedes Präsidenten ist, sich möglichst kompetent beraten zu lassen, weil für die Wiederwahl die ökonomische Situation des Landes von entscheidender Bedeutung ist: „It’s the economy, stupid“.

Persönlich würde ich ein anderes Modell vorziehen, das ich in dem Buch „Einfach zu einfach.“ ausführlich begründet habe. Es ist gewissermaßen das Gegenteil des amerikanischen Modells, weil es der Politik vollständig den Zugriff auf die Zusammensetzung des SVR entzieht. Der Vorschlag ist, die Wissenschaft selbst darüber bestimmen zu lassen, wer in den Rat gehen soll. Dabei dürfen ausschließlich fachliche und wissenschaftliche Kriterien eine Rolle spielen. Es geht darum, eine Besten Auswahl zu treffen, die nicht von der Politik beeinflusst werden kann. Ein so zusammengesetztes Gremium würde einen erheblichen Reputationsgewinn realisieren, der das Gewicht, das das Wort der Wissenschaft in der öffentlichen Wahrnehmung hat, deutlich steigern würde. Eine solche Auswahl zu treffen ist für wissenschaftliche Gemeinschaften nichts Neues. Beispielsweise werden die Fachkollegiaten der DFG von den Wissenschaftlern der jeweiligen Fachrichtungen gewählt. Dieses Verfahren könnte man als Ausgangspunkt nehmen und es weiter verfeinern und verbessern. Die Menschen in unserem Land bringen der Wissenschaft relativ viel Vertrauen entgegen – weitaus mehr als der Politik. Deshalb wäre eine politisch wirklich unabhängige Beratung gerade in so komplizierten Zeiten wie der, in der wir gerade leben, von unschätzbarem Wert.

Blog-Beiträge zum Thema:

Manfred J.M. Neumann (Uni Bonn, 2014), Sachverständige Läuse. Zur Politikkritik am Sachverständigenrat

2 Antworten auf „Quo vadis Sachverständigenrat?“

  1. Mich hat es sehr gewundert, dass in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zuletzt vor allem Mikroökonom/innen berufen wurden (drei oder sogar vier, je nach Sichtweise). Vielleicht wird dann ja in die Monopolkommission demnächst ein Makroökonom berufen, aber das erscheint mir insgesamt nicht ideal zu sein.

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