Bedroht Corona auch unser Gesellschaftssystem?

Bild: Syaibatul Hamdi auf Pixabay

Wer hätte es Anfang dieses Jahres für möglich gehalten, dass der Vorsitzende der FDP in einer Fernsehsendung die von einer breiten Mehrheit fast aller Politiker und Parteien erfolgreich betriebene massive Einschränkung unserer Grundrechte als einen Beweis dafür anführt, wie gut unsere Demokratie funktioniert? Und wer hätte gedacht, dass niemand aufschreit? Schuld ist – immerhin mal eine gute Nachricht – kein plötzlicher Wertewandel hin zum Totalitarismus. Vielmehr ist ein Virus für diese Entwicklung verantwortlich, und das ist gerade dabei ist, die Welt zu verändern. Niemand, der auch nur irgendwie verantwortungsbewusst denkt, hat eine vertretbare Alternative zur gegenwärtigen Kontaktsperre, selbst die am weitesten gehenden Forderungen zur Lockerung der Kontaktsperre bleiben Lichtjahre von dem entfernt, was uns bis vor wenigen Wochen selbstverständlich war. Blicken wir auf Bergamo, New York, Madrid oder London und auf all die anderen Hotspots, dann wird überdeutlich, dass es keine grundlegende Alternative gibt, die irgendwie vertretbar wäre.

Leider wird die Sache nicht in zwei oder drei Monaten überstanden sein. Aber wie wird es aussehen, wenn es doch einmal überstanden ist? Wird die Einschränkung unserer Grundrechte dann immer noch eine unvermeidliche Episode bleiben? Oder wird sie Spuren hinterlassen und unsere liberale Gesellschaft infrage stellen? Werden wir Zug um Zug Veränderungen zustimmen, von denen sich eine kritische Masse als unumkehrbar erweisen wird? Wie werden wir in zwei Jahren leben? Innerhalb der letzten Jahre sind die liberalen Demokratien ohnehin in Bedrängnis geraten. China, Vietnam und andere totalitäre Schwellenländer machten uns vor, wie man Wachstum und Armutsbekämpfung jenseits aller wohlfeilen Konzepte westlicher Entwicklungszusammenarbeit erzeugt, wie man ganz ohne Demokratie, freie Medien und Menschenrechte Erfolg haben und gar zur wirtschaftlichen und politischen Weltmacht aufsteigen kann. Umgekehrt führten interne Konflikte in der EU zur Desillusionierung über das freiheitliche Modell Europas, und der Erfolg unzähliger politischer Bauernfänger ließ uns nach dem Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft daran zweifeln, dass unsere liberale Gesellschaftsordnung wirklich so zukunftsfest ist, wie wir das noch vor Jahren dachten. Und nun kommt COVID-19, ursprünglich ausgerechnet aus jenem totalitären Staat, der sich uns so gern als Alternative zu unserer liberalen Demokratie präsentiert, und gibt unserem Gesellschaftsentwurf den Rest?

So einfach ist es glücklicherweise nicht. Zwar brüstet sich die politische Spitze in China damit, das Virus unter Kontrolle gebracht zu haben, und tut dabei so, als ob das Problem für China ein für alle Mal gelöst sei. Aber jeder weiß natürlich, dass das nicht stimmt. Und jeder weiß, dass man das Problem zunächst einmal zu vertuschen versucht hat, was viele zehntausend Menschen das Leben gekostet haben dürfte. Andererseits wissen wir aber auch, dass man in England und den USA das Problem zunächst schöngeredet hat – und auch das wird schon jetzt vielen zehntausend Menschen das Leben gekostet haben.

Im Gegensatz zu den USA und England hat China, nachdem es die Vertuschungsstrategie aufgegeben hat, inzwischen erfolgreich gehandelt, und zwar mit Maßnahmen, die wir, als wir die Dinge noch von außen betrachteten, für uns als unmöglich erachtet hatten. Wenige Wochen später hatten wir sie auch bei uns. Nun finden wir: Demokratische Länder wie Italien, Spanien, England und die USA haben das Problem nicht rechtzeitig unter Kontrolle bringen können, wenngleich aus sehr unterschiedlichen Gründen. Aber in Deutschland, Österreich, Süd-Korea, Taiwan und anderen Demokratien sind die Dinge fürs erste anders gelaufen – allerdings um den Preis massiver Einschränkungen bisher selbstverständlicher Bürgerrechte.

Was dabei besorgt, sind nicht allein die Einschränkungen selbst. Was vielmehr besorgt, sind die dahinterliegenden strukturellen Veränderungen, und hier vor allem die massive Einschränkung der Gewaltenteilung durch die Verlagerung aller wichtigen Entscheidungen auf die Exekutive. Man bedenke, dass die Einschränkungen größtenteils im Verordnungswege verfügt wurden. Zwar hat dies stets übergeordnetem Recht zu genügen, aber wer prüft sowas in Corona-Zeiten noch in dem gebotenen kritischen Maße? Wer will im Zweifel klagen, und welche Richter wollten den wenigen Klagen, die es gibt, stattgeben, angesichts der Bedrohung durch das Virus? Hinzu kommt, dass es fürs erste keine ernst zu nehmende Opposition mehr gibt, denn auch dort will sich niemand schuldig machen, das Problem nicht ernst genug zu nehmen, und im Übrigen sitzt die Opposition im Haus der Legislative, und die ist auf absehbare Zeit ohnehin mehr oder weniger bedeutungslos.

Das alles ist so unvermeidlich, wie es längerfristig gefährlich ist. Stellen wir uns einmal das Unvorstellbare vor, dass es zum Beispiel über zehn Jahre nicht gelingen wird, ein Medikament oder einen Impfstoff zu entwickeln, und das die Immunität ehemals Infizierter nur von (zu) kurzer Dauer ist. Dann wird es weder etwas mit Herdenimmunität, noch mit Impfschutz. Gewiss ist das ein schlimmes Szenario, das nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber wenn es doch so käme, was würde dann in fünf Jahren bleiben von unserem liberalen Gesellschaftsmodell? Hätten die totalitären Alternativen dann endgültig gesiegt?

Nicht ganz, denn es gibt einen gewichtigen Unterschied: Politiker wie Trump oder Johnson konnten das Problem beschönigen, aber die Realität hat sie schnell eingeholt. Trump versucht nun, Schuldige zu finden für seine Versäumnisse, aber Heerscharen von Journalisten arbeiten daran, ihm das nicht durchgehen zu lassen und stattdessen die wirklichen Verhältnisse offenzulegen. Natürlich wurde auch die chinesische Vertuschungspolitik von der Wirklichkeit eingeholt, aber nur in einem ersten Anlauf. So müssen denn beide, die chinesische wie die amerikanische Führung, einen neuen Anlauf nehmen. Der aber wird sehr unterschiedlich ausfallen. Denn wegen der freien Öffentlichkeit in den USA ist die anfängliche Beschönigung für Trump keine Option mehr, und Vertuschung wird ihm schon gleich nicht gelingen können. In China wird man dagegen einen zweiten und sehr viel besser vorbereiteten Anlauf nehmen können, um eine gezielte Strategie von Beschönigung und Vertuschung im Windschatten der kontrollierten Öffentlichkeit zu orchestrieren.

Hierzu kann man nach Belieben den Informationsfluss steuern und Statistiken fälschen. Man kann die Menschen einfach in die Fabriken schicken und weiterarbeiten lassen, trotz aller Gefahren; ganz so, wie andere Autokraten das in Tschernobyl gemacht hatten. Und man kann die dann schwer erkrankenden Menschen einfach systematisch verschwinden lassen, zu Tausenden und, wenn es sein muss, auch zu Millionen. Und man kann jeden, der darüber berichten will, einschüchtern und im Zweifel ebenfalls verschwinden lassen.

Klingt das übertrieben? Gemessen an dem, was wir bisher beobachten, ist es das gewiss. Aber die chinesische Führung hat sich mit dem Ende der Corona-Krise bereits festgelegt und kann dahinter nicht mehr ohne Weiteres zurück. Sie ist den ersten Schritt ihres neuen Anlaufs zur Manipulation der Öffentlichkeit also schon gegangen. Und wenn es im nächsten Schritt darum gehen wird, das Ende der Corona-Krise auch zur offiziellen Wirklichkeit werden zu lassen, dann stehen ihr alle dazu nötigen Instrumente zur Verfügung. Sie werden sie nutzen, wenn es um des Machterhalts Willen sein muss, das hat man in totalitären Systemen immer so gemacht, weil man das in totalitären Systemen so machen muss. Im Gegensatz dazu wird Trump aus dem Amt gejagt werden, wenn er das Problem nicht an der Wurzel packt und sehr schnell auf jenes Maß reduziert, wie es sich in anderen Demokratien für alle sichtbar als machbar erweist. Journalisten werden aufdecken, wo er Fehler macht und sich mit Schuldzuweisungen herausredet. Bis zu einem gewissen Grad werden seine glühendsten Anhänger ihm seine Schuldzuweisungen wohl noch glauben, und dabei wird es Kollateralschäden geben, wie die Einstellung der Zahlungen an die WHO. Aber alles das hat Grenzen, und zwar solche Grenzen, die es nur in Demokratien, nicht aber in totalitären Staaten gibt.

Deshalb werden unsere Regierungen dazu gezwungen werden, die besten möglichen Lösungen zu finden und dabei so wenig wie möglich in die Grundrechte einzugreifen, während das in den totalitären Systemen nicht gilt. Denn das Wohl der Menschen ist dort einfach keine Nebenbedingung, die zum Erhalt der Macht stets im Blick zu halten ist. Dort muss man andere Nebenbedingungen erfüllen, um an der Macht zu blieben, aber die sind mit dem Wohl der Menschen nicht korreliert. Das wird sich in der Corona-Krise als Vorteil der Demokratie erweisen. Aber dieser Vorteil bleibt uns nur erhalten, wenn wir uns bei aller Beschränkung unserer Grundrechte den Nukleus der liberalen Gesellschaft erhalten: Die freie Meinung und die freie Presse. Sie muss und sie wird darauf achten, dass alle Beschränkungen nur so weit gehen, wie es unabdingbar ist. Sie wird darauf achten, dass die formale Struktur unserer Gewaltenteilung erhalten bleibt, und dass die Parlamente und die Gerichte genau dann wieder die ihr zugewiesene Bedeutung erhalten, wenn dies wichtig für unsere Freiheit wird. Deshalb ist die freie Presse der Nukleus der freien Gesellschaft, und zwar gerade in Zeiten geschwächter Gewaltenteilung und ausgesetzter Grundrechte. Dort Hand anzulegen, ist durch nichts und schon gar nicht durch COVID-19 zu rechtfertigen. So lange wir das auch nicht tun, werden unsere Rechte zurückkommen, und wenn es sein muss, wird man die Politiker dazu zwingen.

Mit ein wenig Glück wird deshalb unsere liberale Demokratie in hoffentlich spätestens ein bis zwei Jahren gestärkt aus dem ganzen Corona-Schlammassel hervorgehen. Dagegen werden die totalitären Regierungen dieser Welt vor einem Sumpf von Vertuschung und Lügen stehen, den sie über Jahre und Jahrzehnte vor der Öffentlichkeit werden verheimlichen müssen. So, wie sie es immer getan haben: nach Tschernobyl, oder nach dem Abschuss der Malaysia Air Boeing, oder nach der Kulturrevolution und ihren furchtbaren Folgen für Millionen Menschen in China. Sie müssen das so tun, denn es ist systemimmanent. Zu hoffen bleibt, dass diese Erfahrung den politischen Bauernfängern bei uns, die ja aus unerfindlichen Gründen fast alle Putin-Verehrer sind, das Wasser abgraben wird. Dann wird das Corona-Virus wenigstens ein Opfer zurecht gehabt haben: das dumme Geschwätz von der Lügenpresse nämlich.

Thomas Apolte
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Eine Antwort auf „Bedroht Corona auch unser Gesellschaftssystem?“

  1. „Nicht ganz, denn es gibt einen gewichtigen Unterschied: Politiker wie Trump oder Johnson konnten das Problem beschönigen, aber die Realität hat sie schnell eingeholt. Trump versucht nun, Schuldige zu finden für seine Versäumnisse, aber Heerscharen von Journalisten arbeiten daran, ihm das nicht durchgehen zu lassen und stattdessen die wirklichen Verhältnisse offenzulegen. “

    Die wesentlichen Versäumnisse gingen in den USA keineswegs von Trump aus, sondern vielmehr massiv von „Demokraten“, die beim Sperren der Grenzen von „Rassismus“ gegenüber China schwadronierten. Von Menschen, wie dem Bürgermeister New Yorks, der ostentativ ins Fitneß-Studio ging und offen auf „social distancing“ pfiff.

    „Dann wird das Corona-Virus wenigstens ein Opfer zurecht gehabt haben: das dumme Geschwätz von der Lügenpresse nämlich.“

    Selten war die Presse verlogener, bigotter, selbstgerechter als grade jetzt, selten wurde mehr gelogen und gehetzt. Die Einseitigkeit, Widerlichkeit und Erbärmlichkeit der Presse zeigt sich ja grade jetzt. In Fällen, wo „Journalistinen“ von den so glorreich von Frauen geführten Ländern schwadronieren, dabei aber mal eben Belgien auslassen, das mit Ministerpräsidentin und Gesundheitsministerin die weltweit höchste corona-Todesrate hat. Die das Märchen vom bösen Trump, der den guten Deutschen die Pharmafirma wegkaufen will und die Masken, einfach recherchefrei nachplappern.
    Die die Geschichte von Gary Lenius und seiner Frau, die angeblich spontan auf Trumps Äußerungen hin Aquariumreiniger getrunken hätten, nachsabbeln, ohne ein Quäntchen Recherche. Die dann halt eine ganz andere Ursache wahrscheinlich scheinen lassen könnte, wie z.B, die Vergiftung des Mannes durch seine Frau….
    Und und und….

    Journalismus hat momentan nur zwei Zwecke: Ideologisierung und Ablenkung vom eigenen Versagen. Selten war das, was sich als Journalismus geriert so erbärmlich, so weit ab vom proklamierten Anspruch.

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