Gastbeitrag
Plädoyer für eine neue Grundsicherung
Wie wir das unterste Sicherungsnetz neu aufspannen sollten

2020 nahm uns ein Virus völlig unerwartet von einem Tag zum anderen alle Sicherheit. Wir begannen, Abstand voneinander zu halten, wurden uns aber zugleich bewusst, wie stark wir aufeinander und auf unseren Sozialstaat angewiesen sind: Dank der bestehenden sozialstaatlichen Strukturen half er zügig und schützte uns vor existentieller Not. Ganz anders sieht es in Ländern aus, die solche umfangreichen sozialstaatlichen Strukturen nicht haben. In den USA verloren beispielsweise gleich zu Beginn der Corona-Krise über 30 Millionen US-Amerikaner ihre Arbeit und damit ihre Existenzgrundlage.

Eigenverantwortung im Sozialstaat

Die Corona-Krise birgt aber auch Gefahren für den Sozialstaat. Sie verstärkt die Tendenzen, vom Sozialstaat immer neue Wohltaten ohne Not für einzelne Interessengruppen zu fordern, denen er eine neue Rechtfertigung für eigentlich bereits abgewehrte Versuche der Durchsetzung von Einzelinteressen liefert. Damit würden wir den Sozialstaat auf Dauer überfordern. Dieser Entwicklung gilt es daher entgegenzutreten: Der Sozialstaat muss wieder stärker auf die Eigenverantwortung jedes Einzelnen setzen. Sie ist es, die den Sozialstaat stark macht, denn sie befähigt uns, für uns selbst zu sorgen, und schafft damit erst die Möglichkeiten, zugleich denen zu helfen, die das nicht können.

Das Prinzip der Eigenverantwortung bedeutet keinesfalls, dass sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung stiehlt. Es bedeutet vielmehr, dass er bei seiner ureigenen Aufgabe, der Existenzsicherung, wieder mehr auf die Selbsthilfe vertraut. Dazu muss er zuallererst auf die Bildung setzen, um so für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Das gelingt am besten in einer funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnung, in der sich die individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Arbeitswelt entfalten können und die Leistungen entsprechend belohnt werden.

Grundsicherung – eine Versicherung auf Gegenseitigkeit

Erfolg hat jedoch nicht nur mit Leistung zu tun, sondern auch mit Glück. Vieles in unserem Leben liegt nicht in unserer Hand. Es ist der Zufall, der entscheidet, in welche Familie und Gesellschaft wir hineingeboren werden, welche Begabungen uns vererbt und welche Fähigkeiten uns später vermittelt werden, ob wir gesund bleiben und bis ins hohe Alter arbeiten können. Wer zu den Glücklichen gehört, kann für sich selbst sorgen. Viele in unserer Gesellschaft können das jedoch nicht. Sie werden größtenteils durch unsere Sozialversicherungen aufgefangen, doch dieser Schutz ist nicht allumfassend. Daher hat der Sozialstaat mit der steuerfinanzierten Grundsicherung ein unterstes soziales Sicherheitsnetz eingezogen, das auch diejenigen auffängt, die anderweitig nicht oder nur unzureichend unterstützt werden. Sie funktioniert wie eine Basisversicherung, die verhindert, dass wir unsere Existenzgrundlage verlieren, wenn alle Stricke reißen.

Das Sozialstaatsdilemma

Die Grundsicherung hilft, wenn jemand in Not gerät. Will uns der Sozialstaat in existentiellen Notlagen helfen, steht er vor einem Dilemma: Sorgt er durch umfangreiche Fürsorgeleistungen dafür, dass wir besonders weich fallen, strengen wir uns womöglich weniger stark an, um solche Situationen zu verhindern. Zuviel Fürsorge untergräbt die Bereitschaft zur Selbsthilfe.

Die Höhe der Fürsorgeleistungen sind jedoch weitgehend festgelegt, sodass der Sozialstaat diese mehr oder weniger als gegeben hinnehmen muss. Sie bestimmen sich durch ein Mindesteinkommen, das die Gesellschaft gerade noch als bedarfsgerecht ansieht. Was bedarfsgerecht ist, hängt davon ab, wie groß ein Haushalt ist und wo er wohnt. So erhält ein alleinstehender arbeitsloser Berliner für das Jahr 2020 bis zu 933 Euro monatlich an Grundsicherungsleistungen, eine vierköpfige Familie bis zu 2.200 Euro. Eine Familie aus eigener Kraft zu versorgen ist damit ungleich schwerer, als nur sich selbst zu versorgen. Und in Regionen mit hohen Mieten sind die Fürsorgeleistungen auch höher, weil die Grundsicherung die Miete für angemessene Wohnungen vollständig übernimmt. So erhält ein arbeitsloser Alleinstehender in München wegen der hohen Mieten bis zu 260 Euro mehr als ein Berliner; bei einer vierköpfigen Familie beträgt der Unterschied sogar über 500 Euro. Entsprechend stärker wird die Bereitschaft zur Selbsthilfe untergraben.

Um das Sozialstaatsdilemma zu entschärfen, versuchten die Hartz Reformen, die Eigenverantwortung durch bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten zu fördern. Grundsicherungsbezieher dürfen seit 2005 bis zu einem Einkommen von maximal 1.200 Euro bzw. 1500 Euro (sofern man Kinder hat) von jedem zusätzlich verdienten Euro zwischen 10 und 20 Cent behalten. Der Rest wird ihnen abgezogen, um unter anderen die Grundsicherungsleistungen zurückzufahren. Wer mehr verdient, muss sein gesamtes zusätzliches Einkommen vollständig mit den noch bestehenden ergänzenden Grundsicherungsleistungen verrechnen: Mehr zu arbeiten lohnt sich dann überhaupt nicht mehr. Der Einkommensbereich, in dem es keine Anreize zur Selbsthilfe mehr gibt, ist dabei umso größer, je höher die Fürsorgeleistungen sind.

So fällt ein Alleinstehender, der Vollzeit im Einzelhandel, in der Pflege oder auf dem Bau arbeitet, bereits aus der Grundsicherung und bekommt deutlich mehr als 50 Prozent seines zusätzlichen Bruttoverdienstes ausbezahlt. Wer hingegen eine vierköpfige Familie zu versorgen hat, hat in diesen Branchen immer noch Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II (Alg II) – mit der Folge, dass er keinen Cent mehr bekommt, wenn sein Arbeitseinkommen steigt. Daran änderte auch das 2019 in Kraft getretene Starke-Familien-Gesetz nichts. Es gibt für Familien zwar etwas mehr Geld, aber zugleich wird der Einkommensbereich größer, in dem sich zusätzliche Arbeit nicht mehr lohnt.

Eine neue Grundsicherungsarchitektur

Um die Eigenverantwortung aller Betroffenen unabhängig von der Haushaltsgröße und dem Mietniveau gleichermaßen zu fördern, schlage ich in meinem Buch „Der starke Sozialstaat“ eine neue Grundsicherungsarchitektur vor. Sie bietet allen Haushalten die gleichen Chancen, auf eigenen Beinen zu stehen, ohne die Fürsorgeleistungen zu kürzen. Dazu ist es notwendig, das bestehende Förderwirrwarr zu beseitigen. Mein Vorschlag sieht daher eine Grundsicherung vor, die nur auf drei Grundpfeilern ruht. Zwei Pfeiler decken dabei den individuellen alltäglichen Bedarf ab. Erwachsene Erwerbsfähige erhalten eine Regelbedarfssicherung, die sich an den gegenwärtigen Regelsätzen im Alg II orientiert. Bei Kindern wird eine Kindergrundsicherung für alle eingeführt, die das Sammelsurium an unterschiedlichen Förderinstrumenten – Regelbedarf für Kinder im Alg II, Kinderzuschlag und Kindergeld – ersetzt. Wenn die Eltern über kein steuerpflichtiges Einkommen verfügen, bekommen sie die Kindergrundsicherung ohne Abzüge, bei höheren Einkommen wird die Kindergrundsicherung wie andere Einkommen besteuert. Damit ist sichergestellt: Wenn Kinder den Familienbedarf erhöhen, deckt die Kindergrundsicherung immer den zusätzlichen Bedarf ab – unabhängig vom Einkommen der Eltern.

Der Wohnbedarf wird schließlich auf Haushaltsebene durch den dritten Grundpfeiler der neuen Grundsicherungsarchitektur abgedeckt. Die Förderung richtet sich nach den tatsächlichen Wohnkosten bis zu einer Obergrenze, die durch das regionale Mietniveau und die Haushaltsgröße bestimmt wird.

Entscheidend ist, dass einerseits diejenigen, die keine Arbeit finden, in der Summe Fürsorgeleistungen im gleichen Umfang wie bisher bekommen, zugleich aber dank deutlich besserer Hinzuverdienstmöglichkeiten mehr Anreize haben, für sich selber zu sorgen. Um das zu gewährleisten, können sozialversicherungspflichtig beschäftigte Grundsicherungsbezieher durchgängig zumindest 30 Prozent des zusätzlichen Arbeitseinkommens behalten. Weder Haushaltsgröße noch das regionale Mietniveau bestimmen damit noch das Ausmaß der Eigeninitiative.

Eine solche neue Grundsicherungsarchitektur ersetzt das gegenwärtige Förderwirrwarr und ist wesentlich einfacher und transparenter. Sie fördert mehr als bisher die Eigenverantwortung: Wer mehr verdient, hat durchgängig auch ein höheres verfügbares Einkommen. Zudem stigmatisiert die neue Grundsicherungsarchitektur Transferbezieher nicht mehr in dem Maße wie das heutige Alg II. Dafür sorgt vor allem die allgemeine zu versteuernde Kindergrundsicherung. Sie steht allen Eltern unabhängig vom Einkommen zur Verfügung, d.h. sie macht keinen Unterschied zwischen Grundsicherungsbeziehern und allen anderen Eltern. Und auch die neue einheitliche Wohnbedarfssicherung unterscheidet nicht mehr zwischen Alg II Beziehern und anderen Wohngeldempfängern. Da sie nur vom Einkommen und der Haushaltsgröße abhängt, wirkt sie ähnlich wie regional differenzierte Freibeträge bei der Einkommensteuer. Da die 30 Prozent, die ein Haushalt behalten darf, in diesem System auch nicht in Stein gemeißelt sind, werden Grundsicherungsbezieher auch in den Sozialversicherungen und als Steuerzahler nicht mehr anders behandelt: Sie profitieren wie alle anderen von Beitrags- und Steuerentlastungen, werden aber auch zusätzlich belastet, wenn diese steigen. So wird das Prinzip politischer Rechenschaftspflicht auch gegenüber Grundsicherungsbeziehern wiederhergestellt.

Die schlankere neue Grundsicherungsarchitektur, wie ich sie vorschlage, beruht auf dem Prinzip einer Versicherung auf Gegenseitigkeit. Sie schafft eine neue Balance von staatlicher Fürsorge und Eigeninitiative. Sie setzt dabei auf die doppelte Verantwortung des Einzelnen für sich selbst und für die Gemeinschaft, wobei die Solidarität für Kinder und existentiell Bedürftige im Vordergrund steht. Damit lässt sich die gesellschaftliche Unterstützung für den Sozialstaat wiedergewinnen, die in den letzten Jahren zunehmend verloren ging. Und es ist diese Unterstützung, die den Sozialstaat letztlich stark und zukunftsfähig macht.

Hinweis: Im Sommer erschien das Buch „Der starke Sozialstaat. Weniger ist mehr“, in dem Ronnie Schöb seine Vorschläge für eine grundlegende Reform der Grundsicherung im Sinne einer Versicherung auf Gegenseitigkeit darlegt.

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