Anwaltliche Anreizwirkungen bei deutschen Strafprozessen
Einige rechtsökonomische Überlegungen

Aus ordnungsökonomischer Sicht ist die Durchsetzung des Rechts neben dem Schutz von Privateigentum und körperlicher Unversehrtheit eine der Kernaufgaben des Staates (zur Unterscheidung Rechtsstaat und Leistungsstaat siehe Buchanan, 1975; ferner auch Hayek 1980). Allerdings stellt sie aus ökonomischer Sicht kein Kollektivgut dar. Prinzipiell lassen sich einzelne Personen von der Nutzung ausschließen und es existiert Rivalität der Nutzung. M.a.W. die Kapazitäten der Rechtsdurchsetzung mittels Gerichten sind in sachlicher und personeller Hinsicht begrenzt, was bereits dadurch ersichtlich wird, daß in manchen Bundesländern erhebliche Aufschübe bis zu Prozeßbeginn identifiziert werden können. U.a. vor dem Hintergrund des effizienten Umgangs mit knappen Ressourcen hat sich ausgehend von den Vereinigten Staaten seit einigen Jahrzehnten eine ökonomische Analyse von Recht und Justiz etabliert, die auch im deutschen Sprachraum zunehmend Unterstützer findet (grundlegend etwa Coase 1960; Becker 1968; Posner 1993; Kirstein 1999; Schmidtchen und Weth (Hrsg., 1999); Schmidtchen 2000;  Schäfer und Ott 2012; Eidenmüller 2015; Follert 2018). Ausgehend von der zentralen Annahme, dass Menschen systematisch auf Anreize reagieren, die den erwarteten Nutzen und die erwarten Kosten einer Handlung verändern, lassen sich strafrechtliche Bereiche analysieren (etwa Becker 1968, Posner 1985; als Überblick Follert 2018; 2019)

Hier soll ein kleiner Bereich bei Strafprozessen einer ökonomischen Analyse unterzogen werden, nämlich die Anreizwirkungen, die sich für die Verteidigung ergeben. Ein Rechtsanwalt sieht sich wie jeder andere Mensch der Zeitallokation gegenüber und verteilt die verfügbare Zeit gemäß seinen Präferenzen auf Arbeits- und Freizeit (etwa Posner 1993). Es ist schnell ersichtlich, dass das erzielbare Einkommen durch die anwaltliche Tätigkeit eine wichtige Entscheidungsdeterminante darstellt. Dabei ist zunächst einmal die Vergütung der Verteidigung relevant. Prinzipiell ist bei Strafsachen zwischen einem Wahlverteidiger und einen Pflichtverteidiger zu unterscheiden. Während der Wahlverteidiger vom Beklagten ausgewählt wird und auch zunächst von diesem zu bezahlen ist, bestellt das Gericht den Pflichtverteidiger und verauslagt zunächst dessen Kosten. Diese anfallenden Kosten versucht der Staat im Nachgang vom Verurteilten zurückzuerhalten.

Die Vergütung des Verteidigers bemißt sich dabei nach den Vorgaben des Teils 4 des Vergütungsverzeichnisses des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (VV RVG). Dabei hängt die Höhe der Gebühr zunächst davon ab, ob der Anwalt als Wahl- oder Pflichtverteidiger tätig ist (Pflichtverteidiger erhalten überwiegend geringere Gebühren) und welches Gericht sachlich zuständig ist. So steigen einige Gebühren mit der Zunahme der Position des Gerichts in der Gerichtshierarchie, was mit den Opportunitätskosten des Verteidigers begründet werden kann, die bei komplexeren Verfahren als Alternativen höher sein werden. Befindet sich der Mandant in Haft, sind ebenfalls höhere Gebührensätze vorgesehen. Die Vergütung des Verteidigers setzt sich wiederum aus verschiedenen Komponenten zusammen:

  • einer Grundgebühr (Nr. 4100 VV RVG), die „für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall nur einmal, unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolgt“ anfällt und sich zwischen 40 Euro und 360 Euro für den Wahlverteidiger beläuft (Pflichtverteidiger: 160 Euro).
  • den Terminsgebühren (Nr. 4102 VV RVG), die für die Teilnahme an Vernehmungen, „Terminen außerhalb der Hauptverhandlung, in denen über die Anordnung oder Fortdauer der Untersuchungshaft oder der einstweiligen Unterbringung verhandelt wird“, „Verhandlungen im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs“ und Sühneterminen anfällt. Der Gebührenrahmen für den Wahlverteidiger bewegt sich hier zwischen 40 Euro und 300 Euro (Pflichtverteidiger: 136 Euro).
  • einer Verfahrensgebühr (Nr. 4104 VV RVG), die anfällt, sofern der Anwalt schon hinzugezogen wurde, bevor der Strafbefehl oder die Anklageschrift im Ermittlungsverfahren zugestellt wurde. Diese Gebühr liegt zwischen 40 Euro und 290 Euro (Pflichtverteidiger: 132 Euro).
  • Im ersten Rechtszug eines gerichtlichen Strafverfahrens treten wiederum eine Verfahrensgebühr und Terminsgebühren auf. So beläuft sich die Verfahrensgebühr bei einer vor dem Amtsgericht verhandelten Strafsache auf 40 Euro bis 290 Euro (Nr. 4106 VV RVG) und bei einer vor dem OLG verhandelten auf 100 Euro bis 690 Euro (Nr. 4118 VV RVG). Eine Terminsgebühr fällt für jeden Hauptverhandlungstag an; sie beträgt für Verfahren vor dem Amtsgericht 70 Euro bis 480 Euro (Nr. 4108 VV RVG) und für Verfahren vor dem OLG bspw. 130 Euro bis 930 Euro (Nr. 4120 VV RVG).
  • Daneben gibt es eine sog. „Befriedungsgebühr“ (Nr. 4141 VV RVG), die in Höhe der Verfahrensgebühr veranschlagt wird, wenn durch die anwaltliche Mitwirkung das Verfahren eingestellt oder die Hauptverhandlung entbehrlich wird. „Die Gebühr entsteht, wenn 1. das Strafverfahren nicht nur vorläufig eingestellt wird oder 2. das Gericht beschließt, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen oder 3. sich das gerichtliche Verfahren durch Rücknahme des Einspruchs gegen den Strafbefehl, der Berufung oder der Revision des Angeklagten oder eines anderen Verfahrensbeteiligten erledigt … oder 4. das Verfahren durch Beschluss nach § 411 Abs. 1 Satz 3 StPO endet“ (Nr. 4141 VV RVG, Abs. 1).
  • Ferner können Pauschalen für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (Nr. 7002 VV RVG), Fahrtkosten bei auswärtigen Gerichtsterminen (Nr. 7003–7004 VV RVG), das Tage- und Abwesenheitsgeld (Nr. 7005 VV RVG) sowie eine Akteneinsichtspauschale in Rechnung gestellt werden.
  • Im Rahmen einer Berufung oder gar Revision fallen wiederum Verfahrensgebühren und Terminsgebühren an.

Der Wahlverteidiger hat zudem die Möglichkeit gem. § 3a RVG mit dem Angeklagten eine Vergütungsvereinbarungen auf Stundenbasis zu treffen. Allerdings muss die Landeskasse im Fall ihrer Verpflichtung zur Kostenerstattung (zum Beispiel bei einem Freispruch) lediglich die „gesetzliche Vergütung“ erstatten.

Neben der Vergütung der Verteidigung ist bedeutsam, daß die Rechte des Angeklagten zunehmend ausgeweitet wurden:

  1. So wurden bspw. die Anforderungen an die Zurückweisungen von Beweisanträgen angehoben. Es ist also schwieriger für das Gericht geworden, Beweise oder weitere Zeugen abzulehnen.
  2. Ebenso wurde die Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafverfahren verbessert. Während früher für den Beschuldigten bei einer notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO), also etwa in dem Falle, daß „dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird“ (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO), dann ein Pflichtverteidiger bestellt wurde, „sobald er gemäß § 201 zur Erklärung über die Anklageschrift aufgefordert worden ist“ (§ 141 Abs. 1 StPO in der vor dem 13.12.2019 geltenden Fassung), sieht die neue Fassung nun eine sofortige Bestellung des Pflichtverteidigers vor: „(1) In den Fällen der notwendigen Verteidigung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Beschuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt“ (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in der am 13.12.2019 geltenden Fassung durch Artikel 1 G. v. 10.12.2019 BGBl. I S. 2128).

Die Veränderung der Rahmenbedingungen, also insbesondere die Besserstellung des Beschuldigten, und die Vergütung der Verteidigung setzen starke Anreize, die Verfahrenslänge auszudehnen (Mosbacher 2019).

Damit stellt sich die Frage, wie aus ordnungsökonomischer Sicht die Verfahrenslänge vermindert und damit die Produktivität der Strafjustiz erhöht werden kann, ohne daß zugleich die Qualität der Verteidigung absinkt. Wir wollen uns bei unseren Betrachtungen dabei auf die Veränderung der Vergütung der Verteidiger beschränken. Sicherlich wäre auch eine Korrektur der Rahmenbedingungen geeignet, die Verfahrensdauern zu reduzieren, etwa indem die Zurückweisung von Beweisanträgen erleichtert würde.

Versteht man die anwaltliche Verteidigung eines Angeklagten als Leistungsproduktion, kann zwischen Einbringung (Input) und Ausbringung unterschieden werden, was die Vergütungsstruktur beeinflussen kann. Prinzipiell kann eine Vergütung der Strafverteidigung output-orientiert oder input-orientiert erfolgen. Eine output-orientierte Vergütung würde mehr oder minder einem Erfolgshonorar des Strafverteidigers entsprechen. Die Konsequenz wäre, daß der Verteidiger alles daransetzen würde, seinen Mandanten vor einer Verurteilung zu bewahren. Vor diesem Hintergrund hätte er kein Interesse, das Verfahren unnötig in die Länge zu ziehen. Ein Nachteil für manchen Beschuldigten wäre jedoch, daß er – sofern der Fall aus Sicht des potentiellen Verteidigers als kaum gewinnbar erscheint – keinen Verteidiger finden würde. Es käme also zu einer „Beschuldigtenselektion“. Allerdings ließe sich dieses Problem durch eine Nachjustierung des „Erfolgs“ zumindest teilweise korrigieren.

Eine input-orientierte Vergütung bemißt sich nach dem Einsatz, der durch den Verteidiger getätigt wurde. Dabei kommen eine Vergütung auf Basis der tatsächlichen Faktoreinsatzmengen (hier insbesondere der Arbeitszeit, der Vorleistungen etc.), auf Basis potentieller Faktoreinsatzmengen (sog. „leistungsabhängige Vergütung“) sowie auf Basis von Preisen für Einzelleistungen in Frage.

Eine Vergütung auf Basis der tatsächlich verbrauchten Faktoreinsatzmengen würde dazu führen, daß die Verfahrensdauer tendenziell ausgedehnt würde, da mit zunehmender Verfahrensdauer mehr Faktoreinsatzmengen in Rechnung gestellt werden können, was das Einkommen des Verteidigers erhöht, obwohl die höchsten Kosten zu Beginn als Einarbeitungskosten in den Fall anfallen. Der Verteidiger hätte hier allenfalls ein sehr geringes Interesse an einem wirtschaftlichen Umgang mit den Ressourcen. Weil der Verteidiger im Wettbewerb mit seinen Kollegen um Mandanten buhlen muß und diese Vergütungsform etwaige Qualitätsbestrebungen des Verteidigers nicht behindert, kann allerdings davon ausgegangen werden, daß der Verteidiger zudem einen Anreiz hat, eine hohe Qualität der Verteidigung zu erbringen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmend besseren Informationslage zu erwarten, da beispielsweise Vergleichsportale im Internet potentielle Nachfrager über Bewertungen durch bisherige Mandanten informieren.

Bei einer Vergütung auf Basis der potentiell zu verbrauchenden Faktoreinsatzmengen sei an die Vergütung der Krankenhäuser erinnert: Diese erfolgt auf Grundlage von sog. Diagnosis Related Groups (DRGs). Bei dem DRG-System handelt es sich im Prinzip um ein Klassifikationssystem, das Fälle sog. Fallgruppen zuordnet, in denen der vermutete Ressourcenverbrauch gleich ist. Beim DRG-System werden hierbei Fälle im wesentlichen aufgrund von Haupt- und Nebendiagnosen sowie demographische Variablen zu einer Fallgruppe zusammengefaßt. Die Fälle einer Fallgruppe werden dann einheitlich vergütet, wobei sich die Vergütung an den durchschnittlichen Ressourcenverbräuchen des Vorjahres orientieren. Die Nachteile eines derartigen Systems sind die aufwendige Fallklassifikation sowie die Bestimmung der Verbräuche, auf deren Grundlagen wieder die Preise ermittelt werden. Im Bereich der Krankenhausvergütung werden weitere Probleme in der Verminderung der Qualität (deswegen ging die Einführung des DRG-Systems mit entsprechenden Vorgaben zur Qualitätssicherung einher) und der Patientenselektion gesehen. Bei letzterem wird befürchtet, daß insbesondere Patienten mit komplexen Krankheitsbildern verstärkt in Uni-Kliniken abgeschoben werden. Bei einer Übertragung des Systems auf die Vergütung von Strafverteidigern dürfte das Qualitätsproblem wegen des Wettbewerbs um Mandanten eine untergeordnete Rolle spielen. Allerdings ließe sich sicherlich nicht eine Selektion der Beschuldigten verhindern, da Strafverteidiger die Verteidigung bei komplexen Fällen tendenziell ablehnen dürften. Weiterhin dürfte sich die Erstellung des Klassifikationssystems und die Ermittlung der Verbräuche bzw. die darauf basierende Festlegung der Vergütung als sehr aufwendig und bürokratisch erweisen. In Bezug auf die Verfahrensdauer hätte eine derartige Vergütung allerdings einen erheblich dämpfenden Effekt.

Eine Vergütung auf Basis von Einzelleistungen – das ist in etwa das Vergütungsverfahren, das aktuell zur Anwendung kommt – birgt einen erheblichen Anreiz, insbesondere die für den Verteidiger lukrativen Einzelleistungen auszudehnen und damit die Verfahrensdauer zu erhöhen. So zeigte sich, daß sich durch die Abschaffung der Beweisgebühr in Zivilprozessen die Verfahrensdauer merklich verkürzte (Mosbauer 2019). Auch hier kann aufgrund des Wettbewerbs um Mandanten davon ausgegangen werden, daß ein großer Anreiz, eine hohe Qualität der Verteidigung zu liefern, gesetzt wird.

Eine Korrektur müßte also dergestalt erfolgen, daß Anreize zur Verminderung der Verfahrensdauer gesetzt werden, ohne daß die Qualität der Verteidigung dadurch negativ beeinträchtigt wird. Eine Lösung dafür könnte eine Abstaffelung der Terminsgebühren sein. Dabei würde ausgehend von der Definition einer Standardverfahrensdauer die Terminsgebühren für die die Standardverfahrensdauer überschreitenden Hauptverhandlungstage prozentual vermindert. Auf diese Weise würden entsprechende Anreize gesetzt, die Standardverfahrensdauer nicht zu stark zu überschreiten. Eine derartige Vergütungsregelung ließe sich auch vergleichsweise unbürokratisch umsetzen.

Literatur

Becker, G. S. (1968): Crime and Punishment. An Economic Approach. Journal of Political Economy 76(2), 169-217.

Buchanan, J. M. (1975): The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan. Chicago [u. a.].

Coase, R. (1960): The Problem of Social Cost. Journal of Law & Economics 3, 1-44.

Eidenmüller, H. (2015): Effizienz als Rechtsprinzip. Tübingen.

Follert, F. (2018): Kriminalität und Strafrecht aus ökonomischer Sicht. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 130(2), 420-437.

Follert, F. (2019): On the Punishment of White-Collar and Tax Crime: An Economic Analysis. Compliance Elliance Journal 5(1), 51-68.

Hayek, A. F. v. (1982): Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1: Regeln und Ordnung. Landsberg am Lech.

Kirstein, R. (1999): Imperfekte Gerichte und Vertragstreue. Wiesbaden.

Mosbacher, A. (2019): Modernisierung des Strafverfahrens, Ein Gesetz allein reicht nicht, LTO.de – Legal Tribune Online – Aktuelles aus Recht und Justiz, Zugriff unter: https://www.lto.de/recht/justiz/j/modernisierung-strafverfahren-gesetz-allein-reicht-nicht-justiz-richter/

Posner, R. A. (1985): An Economic Theory of the Criminal Law. Columbia Law Review 85(6), 1193-1231.

Posner, R. A. (1993): What Do Judges and Justices Maximize? (The Same Thing Everybody Else Does). Supreme Court Economic Review 3, 1-41.

Schäfer, H.-B. und Ott, C. (2012): Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. A. Berlin u. Heidelberg.

Schmidtchen, D. (2000): Homo Oeconomicus und das Recht. No 2000-03, CSLE Discussion Paper Series, Saarland University. https://www.econstor.eu/obitstream/10419/23061/1/2000-03_homo.pdf

Schmidtchen, D. und Weth, S. (Hrsg. 1999): Der Effizienz auf der Spur. Die Funktionsfähigkeit der Justiz im Lichte der ökonomischen Analyse des Rechts. Baden-Baden.

Frank Daumann und Florian Follert

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